BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –
Prozessbevollmächtigte/r:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55,
37073 Göttingen
gegen
Stadt Ludwigshafen am Rhein,
vertreten durch die Bürgermeisterin,
Europaplatz 1,
67063 Ludwigshafen am Rhein
– Antragsgegnerin –
hat die 15. Kammer des Sozialgerichts Speyer am 12. Februar 2025 durch den
Richter am Sozialgericht xxx
beschlossen:
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 27.11.2024 bis zum 31.07.2025 vorläufig höhere Leistungen nach dem AsylbLG entsprechend der Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuches (SGB XII) zu erbringen, längstens jedoch bis zum Eintritt der Bestandskraft bzw. Rechtskraft einer Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 01.02.2024 und über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 11.12.2024.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
GRÜNDE
Der Antrag ist zulässig und begründet.
1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antrag ist insbesondere statthaft, weil es sich bei dem Rechtsstreit in der Hauptsache nicht um eine reine Anfechtungssituation handelt. Der Antragsteller begehrt die Gewährung von höheren Leistungen.
Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen als auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 596/05 – juris). Handelt es sich – wie hier – um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind.
2. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – einen Anspruch auf laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem AsylbLG. Sie erfüllen auch grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung so genannter Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, d.h. auf im Vergleich zu den Regelleistungen nach dem AsylbLG höhere Leistungen nach Maßgabe des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Umstritten zwischen den Beteiligten ist allein die Frage, ob der am 17.07.2022 aus Belarus nach Deutschland eingereiste Antragsteller seinen ab dem 18.01.2024 länger als 18 Monate andauernden Aufenthalt im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in der gemäß § 20 AsylbLG weiterhin für ihn maßgeblichen bis zum 26.02.2024 geltenden Fassung rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass dies nicht der Fall ist.
Der von der Antragsgegnerin zunächst genannte Umstand für die rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthalts durch den Antragsteller ist die Mitteilung der Ausländerbehörde, dass der Antragsteller seinen Pass in Belarus gelassen habe und der bis zum 06.10.2022 gesetzten Frist zur Passbeschaffung nicht nachgekommen sei. Zudem trägt die Antragsgegnerin im Rahmen des vorliegenden Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes vor, dass die „freiwillige und bewusste Teilnahme an der bekanntermaßen durch die Regierungen von Russland und Weißrussland als „Waffe“ gegen die Europäische Union und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland wegen deren Unterstützung der Ukraine im Ukrainekrieg eingesetzte, organisierte Einschleusung von illegalen Migranten in die Europäische Union“ für besonders sozialwidriges Verhalten des Antragstellers spreche. Das damit verbundene Vorgehen der Überwindung der insbesondere polnischen Grenzanlagen oft durch Begleitung und Unterstützung durch weißrussische Regierungsorgane zwecks Gewinnung eigener Vorteile in Form der unberechtigten Einreise sowie damit verbundene Transferleistungen sei auch für den Antragsteller erkennbar erheblich rechts- und sozialwidrig gewesen. Somit sei von im erheblichen Maße rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Antragstellers auszugehen.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sind die von ihr genannten Verhaltensweisen des Antragstellers nach vorläufiger Würdigung der erkennenden Kammer nicht als rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG anzusehen.
Der Begriff des Rechtsmissbrauchs im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG wird im AsylbLG nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG beinhaltet er als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 AsylbLG so schwer, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (so zuletzt BSG, Urteil vom 24.06.2021 – B 7 AY 4/20 R –, Rn. 15, juris).
Da die Behörde den Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer erheben und darlegen und alle objektiven Umstände, die diesen Vorwurf begründen können, vortragen muss, geht die Nichterweislichkeit der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer zulasten der Behörde (vgl. Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 19.11.2024), Rn. 212). Die Beweislast für das Vorliegen eines rechtsmissbräuchlichen Aufenthalts trägt somit die Antragsgegnerin.
Das gesamte Verhalten des Antragstellers, um die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, insbesondere die Überwindung der belarusisch-polnischen Grenze stellt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dar, weil der Antragsteller hiermit zunächst nur den Aufenthalt in Deutschland erreicht hat. Der Ausschlusstatbestand des § 2 Abs. 1 AsylbLG bezieht sich von vornherein nicht auf eine möglicherweise rechtswidrige bzw. rechtsmissbräuchliche Einreise (vgl. Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 19.11.2024), Rn. 176). Hiervon abgesehen können dem Antragsteller das Verhalten und die Motive fremder Regierungen bei der Förderung illegaler Grenzübertritte nicht als rechtsmissbräuchlich zugerechnet werden. Hierfür ist er nicht verantwortlich.
Auch der (unstrittige) Umstand der Zurücklassung des Reisepasses in Belarus genügt nicht, um im vorliegenden Fall von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer auszugehen. Nach den im Rahmen des vorliegenden Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu widerlegenden Angaben des Antragstellers wurde sein Reisepass in Belarus von einer anderen Person einbehalten. Dafür, dass dies vom Antragsteller selbst zum Zweck der rechtsmissbräuchlichen Verlängerung seines damals noch bevorstehenden Aufenthalts in Deutschland veranlasst wurde, fehlt es nach Aktenlage an konkreten Anhaltspunkten. Ob und wie und ggf. gegen welche Gegenleistungen der Antragsteller den Reisepass wiederbeschaffen kann, ist gegenwärtig unklar. Dies gilt auch für die Möglichkeit der Neuausstellung eines Reisepasses durch den Ägyptischen Staat, für die nach den bislang nicht widerlegten Angaben des Antragstellers 7.000 Euro aufgewandt werden müssten.
Aus diesen Gründen kann nach dem bisherigen Sach- und Streitstand nicht von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer durch den Antragsteller ausgegangen werden.
Der Antragsteller hat somit einen Anspruch auf Gewährung von sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG glaubhaft gemacht.
3. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Da es sich bei den begehrten Leistungen um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums handelt, ist im Falle dessen, dass das Hilfebedürftigkeit besteht auch von Eilbedürftigkeit auszugehen. Dass Hilfebedürftigkeit besteht, wird von der Antragsgegnerin nicht in Abrede gestellt und zeigt sich auch in der erfolgten Leistungsbewilligung.
Die Antragsgegnerin war daher antragsgemäß ab Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz (27.11.2024) zur vorläufigen Erbringung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zu verpflichten.
Dies gilt unabhängig davon, ob der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 01.02.2024 als verfristet anzusehen ist. Denn der Antragsteller hat jederzeit einen Anspruch auf Überprüfung und ggf. Änderung der laufenden Leistungsbewilligung aus §§ 44 oder 48 SGB X. Da auch der Überprüfungsbescheid der Antragsgegnerin vom 11.12.2024 mit Widerspruch angefochten wurde, war die Verpflichtung der Antragsgegnerin bis zum bestandskräftigen bzw. rechtskräftigen Abschluss beider Widerspruchsverfahren (bzw. bis zum 31.07.2025) zu befristen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG. Der Antragsteller hat durch seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe schlüssig zum Ausdruck gebracht, dass er auch einen Antrag auf Erstattung seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten durch die Antragsgegnerin stellt.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.