BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
1. xxx
Antragsteller,
2. xxx
Antragstellerin,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Landkreis Fulda,
vertreten durch den Kreisausschuss,
Fachdienst 5500 – Zuwanderung,
Wörthstraße 15, 36037 Fulda,
Antragsgegner,
hat die 7. Kammer des Sozialgerichts Fulda am 17. März 2025 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
1. Die aufschiebende Wirkung der am 11.02.2025 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner wird in Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025 verpflichtet, an die Antragsteller die seit 01.02.2025 als Folge der Leistungsabsenkung gemäß § 1a Asylbewerberleistungsgesetz einbehaltenen Leistungen auszuzahlen.
3. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
4. Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt Adam in Göttingen Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug mit Wirkung ab 11.02.2025 bewilligt. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts.
GRÜNDE
Mit dem vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehren die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer am 11.02.2025 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025. Dieser Antrag ist gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Bescheid des Antragsgegners vom 10.10.2024, mit welchem der Erstbescheid vom 27.08.2024 hinsichtlich der Leistungshöhe zum 31.10.2024 zurückgenommen und die monatlichen Leistungen ab 01.11.2024 gemäß § 1a Abs. 4 S. 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) neu festgesetzt wurden, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025, stellt einen Verwaltungsakt dar, mit dem eine Leistung nach dem AsylbLG teilweise entzogen wurde und gegen den Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung haben.
Der Antrag ist daneben auch begründet.
Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Entscheidungserheblich für die Frage, ob ein Antrag nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG Erfolg hat, ist, ob im Rahmen einer offenen Interessenabwägung einem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes Vorrang gegenüber schützenswerten Interessen des Adressaten einzuräumen ist. Sind Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 2 – 4 SGG der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung grundsätzlich abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Sind dagegen Widerspruch und Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet, ist dem Antrag stattzugeben, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit besteht.
Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei der Grad der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen ist. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre. Dabei darf in die Abwägung einfließen, dass der Gesetzgeber für den Regelfall die sofortige Vollziehung vorgesehen hat, solange das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers unter Beachtung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG berücksichtigt bleibt, insbesondere mit einer sofortigen Vollziehung keine schwere, unzumutbare Härte für ihn verbunden ist. (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 86b, Rn. 12 f, 12c, 2a).
Hieran gemessen war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 11.02.2025 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025 zu entsprechen, weil sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.10.2024 nahm der Antragsgegner den Erstbescheid vom 27.08.2024 hinsichtlich der Leistungshöhe zum 31.10.2024 zurück und setzte die den Antragstellern gewährten Leistungen ab 01.11.2024 neu fest. Dass und weshalb diese Entscheidung ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig war, hat das Gericht bereits in seinem Beschluss vom 28.11.2024 in dem Verfahren S 7 SO 6/24 ER, auf den insoweit Bezug genommen wird, ausgeführt.
Nach Zustellung des Beschlusses vom 28.11.2024 holte der Antragsgegner mit Schreiben vom 10.12.2024 die Begründung zum Bescheid vom 10.10.2024 nach und erörterte in diesem Zusammenhang ausführlich, dass und aus welchen Gründen seines Erachtens die Antragsteller keinen Vertrauensschutz im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 1, 2 SGB X genießen. Insoweit kann bereits die Frage aufgeworfen werden, ob die von dem Antragsgegner gewählte Art und Weise der Begründungsnachholung überhaupt geeignet ist, einen Ermessensausfall zu heilen oder ob dies nicht vielmehr in der Form eines ersetzenden/ergänzenden Verwaltungsaktes hätte erfolgen müssen (vgl. hierzu Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 41, Rn. 11). Letztlich kann diese Frage aber dahingestellt bleiben, da die von dem Antragsgegner vorgenommene und nachgeholte Vertrauensschutzprüfung nicht die Ermessensbetätigung, welche § 45 SGB X erfordert, entbehrlich macht, sofern – wie auch im vorliegenden Fall – nicht der Ausnahmefall einer sogenannten Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Das Zurücktreten des Vertrauensschutzes, welches erst nach dem Abwägungsprozess feststeht, ist gewissermaßen negatives Tatbestandsmerkmal für die Rücknahmeentscheidung. Die Vertrauensschutzprüfung ist der Ermessensentscheidung damit zeitlich und sachlich vorgelagert (BSG, Urteil vom 5. November 1997 – 9 RV 20/96 –, juris, Rn. 16; Jan Oliver Merten in: Hauck/Noftz SGB X, 1. Ergänzungslieferung 2025, § 45 SGB 10, Rn. 44). Eine Ermessensentscheidung ist demzufolge erst dann zu treffen, wenn die allgemeinen und besonderen tatbestandlichen Voraussetzungen der Rücknahmenorm vorliegen und kein Vertrauen des Begünstigten einer Rücknahme entgegensteht.
Dass eine solche Ermessensentscheidung im vorliegenden Fall getroffen wurde, ist der nachgeholten Begründung vom 10.12.2024 nicht zu entnehmen. Das Gericht folgt insoweit insbesondere nicht der Auffassung des Antragsgegners in dem dortigen Schriftsatz vom 28.02.2025. In der nachgeholten Begründung vom 10.12.2024 wurde nicht etwa die Ermessensentscheidung von der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Rücknahmenorm lediglich nicht sauber getrennt. Vielmehr wird aus dem Schreiben des Antragsgegners vom 10.12.2024 (Seite 2, 2. Absatz) deutlich, dass insoweit ausschließlich eine Vertrauensschutzprüfung gemäß § 45 Abs. 2 S. 1, 2 SGB X erfolgte, nicht aber eine Ermessensentscheidung auf Rechtsfolgenseite. Auch die Widerspruchsbehörde hat die Ermessensentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 03.01.2025 nicht nachgeholt, sondern lediglich auf die ihres Erachtens ausreichende nachgeholte Begründung des Antragsgegners Bezug genommen.
Der Bescheid vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025 stellt sich damit nach wie vor als ermessensfehlerhaft dar.
Maßgebender Zeitpunkt für eine sachgerechte Ermessensausübung ist spätestens der Erlass des Widerspruchbescheides. Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen ist nicht zulässig, wenn der Entscheidung – wie vorliegend – überhaupt keine Ermessenserwägungen zugrunde liegen. Der Mangel in der Ermessensbetätigung kann im Klageverfahren nicht nachgeholt werden; ein Ermessensausfall ist nicht heilbar (BSG, Urteil vom 1. März 2011 – B 7 AL 2/10 R –, juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 20. Januar 2021 – B 13 R 13/19 R –, SozR 4-2400 § 18a Nr 4, SozR 4-1300 § 44 Nr 41, SozR 4-2600 § 97 Nr 3, juris, Rn. 37; Mrozynski, SGB I, Allgemeiner Teil, 7. Auflage 2024, § 39, Rn. 31). Das Nachschieben der Ermessenserwägungen des Antragsgegners mit dortigen Schriftsatz vom 28.02.2025 ist dementsprechend unbeachtlich.
Dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes war folglich zu entsprechen und die aufschiebende Wirkung der am 11.02.2025 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 10.10.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2025 anzuordnen.
Das Gericht ordnet zugleich gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides an, weil dies im Hinblick auf dessen Rechtswidrigkeit geboten erscheint. Dies hat zur Folge, dass der Antragsgegner die den Antragstellern seit dem 01.02.2025 gemäß § 1a AsylbLG einbehaltenen Leistungen auszuzahlen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Den Antragstellern war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da diese nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung auch nicht ratenweise aufbringen können. Das Begehren bietet im Übrigen hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint auch nicht mutwillig §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine anwaltliche Vertretung ist erforderlich §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).
Aus § 121 Abs. 3 ZPO ergibt sich, dass ein nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt grundsätzlich nur beigeordnet werden kann, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Da besondere Umstände, welche ausnahmsweise für die Beiordnung eines auswärtigen Anwalts sprechen, nicht ersichtlich sind, kann eine Beiordnung des auswärtigen Anwalts vorliegend nur zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwalts erfolgen (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 73a, Rn. 9c m.w.N.).
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.