BESCHLUSS
S 54 AY 4/25 ER
In dem Rechtsstreit
xxx
– Antragstellerin –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange.Geismarsch-Straße 55, 37073 Göttingen
gegen
Region Hannover, – Fachbereich Soziales -,
vertreten durch den Regionspräsidenten,
Hildesheimer Straße 20, 30169 Hannover
– Antragsgegnerin –
hat die 54. Kammer des Sozialgerichts Hannover am 21. März 2025 durch die Richterin xxx beschlossen:
Die Antragsgegnerin wird um Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig privilegierte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog für die Zeit vom 23.01.2025 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.12.2024, längstens jedoch bis zum 30.09.2025 zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
GRÜNDE
Der Antrag der Antragstellerin,
der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13.12.2024 privilegierte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog zu gewähren,
hat Erfolg.
1.) Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen, vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2021 – L 8 AY 11/21 B ER –, Rn. 12, juris).
a.) Zur Überzeugung des Gerichts hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihr steht eine Leistungsbewilligung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII analog zu. Danach ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 bis 6 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 36 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Die Antragstellerin ist in dem streitbefangenen Zeitraum als Geduldete leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG gewesen. Die Duldung nach § 60b AsylbLG ist zwar nicht ausdrücklich in § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG genannt; sie fällt aber gleichwohl unter diese Norm, weil es sich bei dieser Duldung (auch) um eine i.S. des § 60a AufenthG „für Personen mit ungeklärter Identität“ handelt. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2021 – L 8 AY 11/21 B ER –, Rn. 15, juris).
Die Antragstellerin hat die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.
Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 19. Auflage 2015, § 2 AsylbLG, Rd. 20 m.w.N.) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (grundlegend: Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Sinne in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt regelmäßig schon dann vor, wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann. Eine Ausnahme hiervon ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O., Rn. 44).
Gemessen hieran ist die mangelnde Mitwirkung bei der Beschaffung von Identitätspapieren als sozialwidrig anzusehen und stellt somit ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG dar (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen vom 15.01.2009 – L 11 AY 131/08 ER).
Nach gegenwärtigem Stand spricht auch Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin in vorwerfbarer Weise ihren Mitwirkungspflichten im ausländerrechtlichen Verfahren nicht nachgekommen ist. Denn nach § 48 Abs. 3 AufenthG ist ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, an der Beschaffung von Identitätspapieren mitzuwirken sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist der Ausländer damit verpflichtet, es nicht nur bei der Einreichung der erforderlichen Unterlagen und einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung seines Heimatstaates zu belassen, sondern darüber hinaus, falls ihm das Identitätspapier nicht in angemessener Zeit ausgestellt wird, regelmäßig nachzufragen, sich nach den Gründen für die Bearbeitungsdauer zu erkundigen und beharrlich um die Ausstellung des Papiers nachzusuchen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 22; VG München, Beschluss vom 5.9.2018 – M 25 S 18.2249 – juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 2.11.2010 – 8 K 1605/10 – juris Rn. 20).
Dieser Mitwirkungspflicht ist die Antragstellerin nicht im befriedigenden Maße nachgekommen. Mitwirkungshandlungen wurden weder im ausländerrechtlichen Verfahren noch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Hannover vorgetragen.
Allerdings muss die Ausländerbehörde gesetzliche Mitwirkungspflichten z.B. zur Beschaffung von Identitätspapieren (§ 48 Abs. 3 AufenthG) konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können (BVerwG, Urteil vom 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 17; SG München, Beschluss vom 31.1.2017 – S 51 AY 122/16 ER – juris Rn. 40). Ferner folgt aus § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Hinweispflicht für die Ausländerbehörde, die in aller Regel über bessere Kontakte und Kenntnisse hinsichtlich der bestehenden Möglichkeiten zur Beschaffung von Heimreisepapieren verfügt (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.2.2017 – OVG 3 B 14.16 – juris Rn. 24 m.w.N.). Diese Grundsätze sind auf die Beurteilung eines leistungsrechtlich nach § 1a Abs. 3 AsylbLG relevanten Verhaltens zu übertragen, allerdings mit der Maßgabe einer restriktiven Auslegung bezogen auf eindeutige und nachhaltige Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Mitwirkungspflichten (vgl. etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6.6.2019 – L 8 AY 17/19 B ER -; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a Rn. 133). Eine Beschränkung von Leistungen kommt wegen der Auswirkungen der Leistungskürzung nur in Betracht, wenn die Behörde einem Antragsteller eine konkrete, erfüllbare und zumutbare Mitwirkungshandlung aufgibt, die dieser aus von ihm zu vertretenden Umständen nicht befolgt. Eine solche Konkretisierung der (weiteren) der Antragstellerin im Einzelfall zumutbaren Mitwirkungshandlungen zur Beschaffung von Identitätspapieren ist den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin nicht zu entnehmen. Insbesondere ist der Ausländerakte – unter Berücksichtigung der Erteilung einer sog. Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG – ein Hinweis auf die zumutbaren Handlungen im Sinne des § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht zu entnehmen, vgl. § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Unter diesen Umständen ist in diesem Einzelfall eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht gerechtfertigt. Leistungsminderungen sind nur dann verhältnismäßig, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – juris Rn. 133).
Die Erfüllung der Hinweispflicht der Ausländerbehörde gemäß § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG lässt sich der übermittelten Ausländerakte nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit und Nachvollziehbarkeit entnehmen. Eine substantiierte Stellungnahme der örtlich zuständigen Ausländerbehörde hat die Antragsgegnerin im Verfahren nicht vorgelegt. Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin zu würdigen, dass konkrete, individualisierte Aufforderungen zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung – insbesondere im Sinne des § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in einer Weise belegt worden sind, die eine Leistungsbewilligung nach §§ 3, 3a AsylbLG rechtfertigen könnte.
b.) Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Eine besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der erstrebten Leistungen.
2.) Die Kostenentscheidung folgt aus §193 SGG in entsprechender Anwendung.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.