Sozialgericht Stuttgart – Urteil vom 25.03.2025 – Az.: S 9 AY 245/24

URTEIL

in dem Rechtsstreit

1. xxx,

– Kläger –

2. xxx,

– Klägerin –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen
– zu Kl. Ziff. 1, 2 –

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Amt für Soziales und Teilhabe
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Beklagte –

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 25.3.2025 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht (weitere aufsichtführende Richterin) xxx als Vorsitzende und die ehrenamtlichen Richterinnen xxx und xxx für Recht erkannt:

Der Widerspruchsbescheid vom 5.1.2024 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, den Klägern Analogleistungen in gesetzlicher Höhe nach § 2 AsylbLG vom 1.2.2023 bis 31.10.2023 zu gewähren.

Die Bescheide vom 16.4.2024 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.7.2024 werden aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, die Bescheide vom 27.1.2022, 21.9.2022 und 18.1.2023 aufzuheben und dazu verurteilt, Analogleistungen in gesetzlicher Höhe nach § 2 AsylbLG vom 1.2.2022 bis 31.1.2023 zu gewähren.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

TATBESTAND

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Analogleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – AsylbLG – für die Zeit vom 1.1.2022 bis 31.10.2023.

Der 1968 geborene Kläger zu 1. und die 1970 geborene Klägerin zu 2. sind verheiratet und iranische Staatsbürger. Sie reisten am 16.9.2019 ins Bundesgebiet ein und sind gemeinsam mit ihrem 2005 geborenen Sohn seit dem 29.10.2019 einer Gemeinschaftsunterkunft in Stuttgart zugewiesen, wo sie seither leben.

Beide waren zunächst im Besitz einer Aufenthaltsgestattung bis 30.1.2022, seither im Besitz einer Duldung wegen fehlender Reisedokumente nach § 60a Abs. 2 S.1 AufenthG.

Ihren Asylantrag lehnt das Verwaltungsgericht Stuttgart rechtskräftig mit Urteil vom 10.11.2021 ab.

Mit Bescheid/Verfügung vom 2.3.2022 forderte das Ausländeramt der Beklagten die Kläger auf bis zum 2.6.2022 gültige Reisedokumente vorzulegen. Mit Schreiben vom 21.7.2023 forderte auch die Beklagte die Kläger auf, gültige Reisedokumente vorzulegen.

Eine Leistungsabsenkung nach § 1a AsylbLG nahm die Beklagte nicht vor.

Stattdessen gewährte sie den Klägern (ebenso wie dem Sohn der Beiden ab 1.10.2022) mit Bescheid vom 9.11.2023 (im Eilverfahren S 9 AY 3729/23) aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nach vier Jahren Aufenthalt ab dem 1.11.2023 Analogleistungen nach § 2 AsylbLG.

Am 2.11.2023 meldete sich der Klägervertreter bei der Beklagten und legte Widerspruch gegen die konkludente Leistungsbewilligung vom 1.2.2023 bis 31.5.2023 und die Zeit vom 1.6.2023 bis 31.10.2023 ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5.1.2024 zurückwies.

Hiergegen richten sich die zum Sozialgericht Stuttgart am 21.1.2024 erhobenen Klagen, die die Kläger damit begründen, dass die Frist des § 2 AsylbLG längst abgelaufen sei. Sie hätten ihren Aufenthalt nicht missbräuchlich beeinflusst.

Ebenfalls am 2.11.2023 beantragte der Klägervertreter die Überprüfung der Leistungszeiträume 1.1.2022 bis 30.9.2022 und 1.10.2022 bis 31.1.2023, was die Beklagte unter Hinweis auf die fehlenden Reisedokumente mit Bescheiden vom 16.4.2024 und Widerspruchsbescheiden vom 18.7.2024 ablehnte.

Hiergegen haben die Kläger am 18.8.2024 Klagen zum Sozialgericht Stuttgart erhoben.

Das Gericht hat die vier Klagen mit Beschlüssen vom 27.2.2024 und vom 15.8.2024 verbunden.

Die Kläger beantragen,
den Widerspruchsbescheid vom 5.1.2024 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern Analogleistungen in gesetzlicher Höhe nach § 2 AsylbLG vom 1.2.2023 bis 31.10.2023 zu gewähren sowie die Bescheide vom 16.4.2024 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.7.2024 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Bescheide vom 27.1.2022, 21.9.2022 und 18.1.2023 aufzuheben und sie zu verurteilen, Analogleistungen in gesetzlicher Höhe nach § 2 AsylbLG vom 1.2.2022 bis 31.1.2023 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie erachtet die Leistungshöhe für zutreffend und verweist darauf, dass die Kläger infolge fehlender Passbeschaffung ihren Aufenthalt rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die elektronisch geführten Gerichtsakten (auch der Verfahren S 9 AY 246/24, S 9 AY 3020/24 und S 9 AY 3021/24), die Papierverwaltungsakten der Beklagten und die Niederschrift der öffentlichen Sitzung vom 25.3.2025 Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklagen bzw. als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen zulässigen Klagen sind begründet. Die streitigen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.

Sie haben bereits ab dem 1.2.2022 Anspruch auf Analogleistungen.

Streitgegenständlich ist bei den am 21.1.2024 erhobenen Klagen der Zeitraum vom 1.2.2023 bis 31.10.2023.

Bei den am 14.8.2024 erhobenen Klagen ist (im Rahmen eines Überprüfungsantrags) der Zeitraum vom 1.2.2022 bis 31.1.2023 streitig.

Streitig ist im gesamten Zeitraum vom 1.2.2022 bis 31.10.2023, ob die Kläger Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG haben oder nicht, weil sie seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben (Fassung vom 15.8.2019, gültig bis 26.2.2024).

Für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes gilt nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dass, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist . (4) 1

Nach Absatz 4 der Vorschrift werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkende Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Nach § 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AsylbLG gilt § 44 SGB X jedoch nur mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach Absatz 4 Satz 1 ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

Der Begriff des Rechtsmissbrauchs iS von § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG wird im AsylbLG auch nach dessen umfassender Neugestaltung mit Wirkung vom 1.3.2015 mit dem Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10.12.2014 (BGBl I 2187) und den folgenden Änderungen an keiner Stelle definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 2 AsylbLG beinhaltet er als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden.

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen im Anwendungsbereich des § 2 Abs 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes vom 19.8.2007 für den Ausländer (und nach der damaligen Fassung auch für seine Kinder) so schwer, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss.

Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (vgl BSG vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – Rn 35 juris, sowie BSG, Urteil vom 24.6.2021 – B 7 AY 4/20 R –, Rn. 15 juris, zuletzt verneint bei der Inanspruchnahme von Kirchenasyl). Auf Rechtsmissbrauch kann sich der Staat dann nicht berufen, wenn er sich selbst rechtswidrig oder rechtsmissbräuchlich verhält (BSG, Urteil vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – Rn. 34 juris)

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben liegt hier kein Rechtsmissbrauch der Kläger vor, denn allein das Vorliegen von Ausreisepflicht und die zweimalige Aufforderung der Beschaffung von Reisedokumenten führen bei Nichtbeschaffung von Reisedokumenten nicht zu einer unentschuldbaren und schweren objektiven Pflichtverletzung, die mit der vom Gesetzgeber genannten Fällen (Passvernichtung oder Angabe einer falschen Identität, vgl BSG, Urteil vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, Rn. 34 juris) oder anderen Konstellationen vergleichbar wäre (Verzögerung des Asylverfahrens durch verzögerten Asylantrag LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 6.11.2017 – L 7 AY 2691/15, juris).

Dies auch vor dem Hintergrund, dass weder die Beklagte die Leistungen abgesenkt hat, noch die Ausländerbehörde hier weiteres – abgesehen von der einmaligen Mahnung – zur Aufenthaltsverkürzung unternommen hat.

Auch für ein Verschulden der Kläger hat das Gericht hier keine Anhaltspunkte.

Da die Kläger bereits am 16.3.2021 die Aufenthaltsdauer von 18 Monaten erfüllt hatten, haben sie im streitigen Zeitraum ab 1.2.2022 Anspruch auf Analogleistungen, weshalb der Klage stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klage Erfolg hatte.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.


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