Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 02.04.2025 – Az.: S 9 AY 144/25 ER

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Amt für Soziales und Teilhabe
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Antragsgegnerin –

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 2.4.2025 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht (weitere aufsichtführende Richterin) xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 12.1.2025 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 9.1.2025 Grundleistungen gemäß §§ 3 und 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe der Regelbedarfe von 2024 zu gewähren

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

II. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam bewilligt.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 sowie die Frage des Bestandsschutzes der Leistungshöhe streitig.

Der ledige Antragsteller ist in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 AsylG untergebracht.

Die Antragsgegnerin gewährte dem Antragsteller mit Bescheid vom 20.1.2024 für Januar 2025 Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 2b und § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 nach den im Bundesanzeiger veröffentlichten niedrigeren Bedarfssätzen von 2025, im Anschluss ohne Bescheid in dieser Höhe.

Mit Schreiben vom 9.1.2025 legte der Antragsteller gegen den Bescheid Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin bisher nicht entschieden hat.

Am 12.1.2025 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Stuttgart mit der Begründung beantragt, dass ihm entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – Leistungen der Regelbedarfsstufe 1 zustünden. Auch stünden ihm die Leistungen in Höhe der Sätze aus dem Jahr 2024 zu.

Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 9.1.2025 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20.12.2024 (Az.: 2602.759820) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam – Göttingen – zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass es für die Regelbedarfsstufe 1 keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehe sich lediglich auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Zudem habe der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht erkennbar, dass die finanziellen Kapazitäten des Antragstellers ausgeschöpft seien und er habe nicht dargelegt, welche Nachteile zu erwarten seien, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen werde. Auch sei an die im Bundesanzeiger veröffentlichen Beträge gebunden.

Hinsichtlich und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Papierverwaltungsakte der Antragsgegnerin und die elektronisch geführte Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtsschutz richtet sich hier nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Der Antragsteller hat sowohl Anordnungsanspruch wie Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Der Anspruch ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts bereits aus dem Beschluss des BVerfG vom 19. 10.2022 (Az. 1 BvL 3/21).

Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird.

Hieraus ergibt sich ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG, die zudem niedrigere Leistungen als die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG vorsieht (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20.12.2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 44).

Auch in Hinblick auf die Gewährung der Regelbedarfssätze nach dem Jahr 2024/Bestandsschutz besteht ein Anordnungsgrund.

Der Anspruch hierauf ergibt sich unmittelbar aus der gesetzlichen Regelung, denn die Bestandsschutzregelung des § 28a Absatz 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), die nach dem Wortlaut des § a ist unmittelbar auf die Berechnung der Geldbeträge in § 3a AsylbLG anwendbar ist (ausführlich dazu SG Marburg, Beschluss vom 14.2.2025 – S 16 AY 11/24 ER –, juris Rn. 21 – 46 aA ohne nähere Begründung SG Heilbronn, Beschluss vom 17.2.2025 – S 15 AY 181/25, in juris Rn. 23 f).

Denn § 3a Absatz 4 AsylbLG sieht vor, dass die Geldbeträge nach den Absätzen 1 und 2 jeweils zum 1. Januar eines Jahres entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung nach § 40 Satz 1 Nummer 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch fortgeschrieben werden.

§ 28a Abs. 5 SGB XII sieht Folgendes vor: „Ergeben sich aus der Fortschreibung nach den Absätzen 2 bis 4 für die Regelbedarfsstufen Eurobeträge, die niedriger als die im Vorjahr geltenden Eurobeträge sind, gelten die für das Vorjahr bestimmten Eurobeträge, solange weiter, bis sich aus einer nachfolgenden Fortschreibung höhere Eurobeträge ergeben.“

§ 3a Absatz 4 AsylbLG nimmt mit der Formulierung „entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung nach § 40 Satz 1 Nummer 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“ die gesamte Regelung des § 28a SGB XII in Bezug und nicht nur einzelne Absätze. Ein Ausschluss der Bestandsschutzregel des § 28a Absatz 5 SGB XII lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen und entspricht auch nicht dem Willen des Gesetzgebers (SG Marburg, Beschluss vom 14.2.2025 – S 16 AY 11/24 ER – juris Rn. 21 – 46).

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.9.2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. August 2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris).

Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19.10.2022 (Az. 1 BvL 3/21) sowie die Gründe des Vorlagebeschlusses des BSG vom 26.9.2024 – B 8 AY 1/22 R – juris ist nach Auffassung des Gerichts vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt.

Das Gericht erachtet vor diesem Hintergrund die hier streitige monatliche Differenz von 63,- Euro, die etwa 15 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, als ausreichend, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen (vgl. zum Regelbedarf 2023 auch Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.1.2021 – L 9 AY 27/20 B ER, Rn. 25, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag in vollem Umfang Erfolg hatte.

Das Gericht geht davon aus, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufige Leistungen länger als ein Jahr zu bewilligen sind, weswegen in der Hauptsache die Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zulässig wäre und hier demnach die Beschwerde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG).

Angesichts der hinreichenden Erfolgsaussicht und der Bedürftigkeit war dem Antragsteller PKH zu bewilligen, wobei insoweit lediglich der Staatskasse ein Beschwerderecht zusteht.

Es folgt die Rechtsbehelfsbelehrung.


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