Sozialgericht Darmstadt – Beschluss vom 10.04.2025 – Az.: S 16 AY 22/25 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragstellerin,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Land Hessen,
vertreten durch das Regierungspräsidium Gießen,
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen,

Antragsgegner,

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Darmstadt am 10. April 2025 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, beschlossen:

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin vom 04.04.2025 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24.03.2025 wird angeordnet.

2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendig entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Aufhebung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die Antragstellerin ist afghanische Staatsangehörige, reiste am 14.01.2025 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 20.01.2025 einen förmlichen Asylantrag.

Mit Bescheid vom 22.01.2025 wurden der Antragstellerin Leistungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfes nach § 3 Abs. 1 und 2 AsylbLG in Verbindung mit § 3a Abs. 1 AsylbLG gewährt.

Das Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 19.02.2025 den Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Frankreich an.

Daraufhin hörte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Schreiben vom 06.03.2025 bezüglich einer beabsichtigten Leistungseinstellung nach § 1 Abs. 4 AsylblG an. Die Antragstellerin teilte daraufhin mit, dass sie in Frankreich einen nicht erfolgreichen Asylantrag gestellt habe. Bis jetzt habe sie sich nirgendwo integrieren können, weil nicht habe sicher leben können. Sie habe einen Cousin in Deutschland, deshalb fühle sie sich wohl und möchte die Chance haben, weiter hier zu bleiben. Sie brauche Geld für Kleinigkeiten im Alltag. Die Leistungseinstellung sei vermutlich europarechtswidrig und verfassungswidrig.

Mit Bescheid vom 24.03.2025 nahm der Antragsgegner den Bescheid vom 22.01.2025 mit sofortiger Wirkung gemäß § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zurück. Die Antragstellerin erhalte fortan gemäß § 1 Abs. 4 AsylbLG keine Leistungen nach dem AsylbLG mehr, bis auf Überbrückungsleistungen bis zu ihrer Ausreise, höchstens jedoch für eine Dauer von zwei Wochen bis zum 10.04.2025. Durch die Entscheidung des BAMF vom 19.02.2025 über die Ausreisepflicht hätten sich nachträglich Tatsachen ergeben, die begründen würden, dass der Erlass des Bescheides über die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG vom 22.01.2025 rechtswidrig gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides über die Gewährung von Leistungen sei nicht bekannt gewesen, dass die Antragstellerin bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstatt im Sinne von § 1a Abs. 4 S. 1 internationalen Schutz gewährt worden sei. Wäre diese Tatsache bekannt gewesen, so hätte die Antragstellerin keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz gehabt. Ihr Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes sei gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X nicht schutzwürdig, da der Verwaltungsakt auf unrichtigen Angaben beruhe, da sie nicht mitgeteilt habe, dass ihr bereits in einem anderen Staat internationaler Schutz gewährt wurde. Die grobe Fahrlässigkeit liege vor, da ihr hätte klar sein müssen, dass ihr nicht auch in einem weiteren Staat internationaler Schutz gewährt werden könne, wenn dieser bereits in einem anderen Staat gewährt worden sei.

Mit Bescheid des BAMF vom 19.02.2025 sei der Asylantrag gem. § 31 Abs. 6 Asylgesetz (AsyIG) als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AsylG in den Mitgliedsstaat Frankreich angeordnet und festgestellt worden, dass die Ausreise für sie rechtlich und tatsächlich möglich sei. Somit habe die Antragstellerin gemäß § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz. Bis zu ihrer Ausreise, höchstens jedoch für die Dauer von zwei Wochen mit Bekanntgabe dieses Einstellungsbescheides erhalte sie gemäß § 1 Abs. 4 S. 2 AsylbLG eingeschränkte Hilfen (Überbrückungsleistungen). Die Überbrückungsleistungen würden die Leistungen nach § 1a Abs. 1 und nach § 4 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 AsylbLG umfassen, also Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft, einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege sowie Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände oder im Falle einer Schwangerschaft Leistungen für ärztliche und pflegerischen Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel. Die Leistungen würden ausschließlich als Sachleistung erbracht.

Die Gewährung von Geldleistungen sei ausgeschlossen. Die Antragstellerin habe in der Anhörung bezüglich des Vorliegens einer besonderen Härte vom 06.03.2025 nicht ausreichende Gründe genannt, die einen Härtefall begründen würden. Spätestens nach Ablauf der Überbrückungsleistungen am 10.04.2025 würden die Leistungen eingestellt, somit habe sie die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessens unverzüglich zu verlassen.

Hiergegen legte die Antragstellerin durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 04.04.2025 Widerspruch ein.

Die Antragstellerin hat durch ihren Prozessbevollmächtigten am 07.04.2025 einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beim Sozialgericht Darmstadt gestellt.

Sie ist der Auffassung, dass verfassungsrechtliche Bedenken zu § 1 Abs. 4 AsylbLG bestehen. Die Regelung des § 1a AsylbLG sei evident verfassungswidrig, da sie das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG vom 09.02.2010, Az.: 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175) verletze. Denn zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bestehe ein unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch (BVerfG vom 18.07.2012, Az.: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Rdnr. 90 unter Verweis auf BVerfGE 125, 175, 223 m. w. N.). Gesichert werden müsse einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde stehe allen zu und gehe selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren (BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, 1. LS). Das Grundgesetz garantiere mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und erteile dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich zu sichern. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlten, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten könne, sei der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stünden (vgl. BVerfGE 40, 121 <133 f.>; 125, 175 <222>; st. Rspr.).

Das Sozialstaatsprinzip verlange staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert seien (vgl. BVerfGE 35, 202 <236>). Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums sei auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, Rdnr. 119; vgl. auch BVerfGE 132, 134 <173 Rdnr. 95>). In seiner jüngsten Entscheidung zu § 1a AsylbLG a.F. (BVerfG vom 12.05.2021, Az.: 1 BvR 2682/17) habe das Bundesverfassungsgericht dies konkretisiert: Eine generalisierende Einschränkung sei von vornherein unzulässig (vgl. BSGE 123, 157 <162 Rdnr. 21; 164 Rdnr. 24>). Eine Praxis, wonach soziokulturelle Bedarfe allgemein als entbehrlich angesehen würden, sei damit und wäre auch mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar. Weder Leistungen für physische noch solche für soziokulturelle Bedarfe seien frei verfügbar; sie könnten nicht beliebig gekürzt oder gestrichen werden (vgl. BVerfGE 152, 68 <113 f. Rdnr. 119>). Das Bundesverfassungsgericht habe § 1a AsylbLG a.F. in der vom Bundessozialgericht in der angegriffenen Entscheidung vorgenommenen Auslegung noch für mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar gehalten, weil § 1a AsylbLG a.F. keine Leistungen entziehe, sondern in der Auslegung des Bundessozialgerichts in bestimmten Fällen eine „Beschränkung“ des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ ermögliche. Was dann weiterhin zu leisten sei, habe der zuständige Träger nach der streitentscheidenden Fassung der Norm in der Auslegung durch das Bundessozialgericht anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls allein bedarfsorientiert festzulegen. Nach § 1 Abs. 4 AsylbLG würden die Betroffenen von den Leistungen allerdings sogar vollständig ausgeschlossen. § 1 Abs. 4 AsylbLG in der aktuellen Fassung enthalte damit eben jene generalisierende Einschränkung, wonach soziokulturelle Bedarfe allgemein als entbehrlich angesehen werden, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar sei.

Migrationspolitische Erwägungen könnten von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG vom 18.07.2012, Az.: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, BVerfGE 132, 134, Rdnr. 121). Der Ausschluss des § 1 Abs. 4 AsylbLG verfolge daher offensichtlich kein legitimes Ziel im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, Rdnr. 126 ff.). Mit der Regelung solle schon keine asyl- oder aufenthaltsrechtliche Mitwirkungspflicht durchgesetzt werden. Es gehe dem Gesetzgeber offenkundig allein um die repressive Sanktionierung eines Verhaltens der Betroffenen im Einzelfall, das abschreckende Wirkung auf andere entfalten und die Betroffenen zur freiwilligen Ausreise drängen solle. Denn die Anspruchseinschränkung des § 1a Abs. 4 AsylbLG setze nur voraus, dass ein anderer Staat für den Asylantrag zuständig sei. Eine Reaktionsmöglichkeit der Betroffenen sei überhaupt nicht gegeben. Der Gesetzgeber wolle auf diesem Weg unerwünschte Sekundärmigration eindämmen. Legitimes Ziel einer leistungsrechtlichen Sanktion könne nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, Rdnr. 126 ff.) aber nur sein, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (anders noch BSG vom 12.05.2017, Az.: B 7 AY 1/16 R, Rd-nr. 29 ff. m. w. N.). Dies sei vorliegend erkennbar nicht der Fall.

Der § 1a Abs. 4 AsylbLG diene mit repressiver Zielsetzung migrationspolitischen Zwecken. Das Hessische Landessozialgericht habe in seiner Entscheidung vom 31.03.2020 (Az.: L 4 AY 4/20 B ER) ausgeführt: Zudem wäre es eine unzulässige migrationspolitische Zielsetzung, bei einer – wie hier – unproblematisch möglichen Abschiebung oder Überstellung den Behörden das Mittel an die Hand zu geben, die menschenwürdige Existenzsicherung zu unterlassen, um so ohne Verwaltungsvollstreckung die Ausreise zu erzwingen (ähnl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 209).

Darüber werde der Ausschluss gemäß § 1 Abs. 4 AsylbLG den strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht, die an eine Minderung existenzsichernder Leistungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zu stellen seien. Denn diese stünden in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht des Staates aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Bedürftige erhielten in der Zeit der geminderten Leistungen tatsächlich nicht, was sie zur Existenzsicherung benötigen, ohne selbst unmittelbar zur Existenzsicherung in der Lage zu sein. Derartige Leistungsminderungen seien nur verhältnismäßig, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stünden, die Bedürftigkeit zu überwinden, also eine menschenwürdige Existenz insbesondere durch Erwerbsarbeit eigenständig zu sichern. Der Gesetzgeber verfolge jedoch im Rahmen des § 1 Abs. 4 AsylbLG schon keine konkreten Handlungsziele hinsichtlich der von dem Ausschluss Betroffenen. Zudem fehle der Wahl und Ausgestaltung des Konzepts der Anspruchseinschränkungen gem. § 1a AsylbLG eine verfassungsrechtlich tragfähige Einschätzung der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit (vgl. BVerfGE 88, 203 <262>, BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, Rdnr. 134). Der Bundesregierung würden insoweit schlicht keine Daten vorliegen. Daraus ergebe sich, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Ausschlusses nach § 1 Abs. 4 AsylbLG vorliegen würden.

§ 1 Abs. 4 AsylbLG verstoße auch gegen Unionsrecht. Als europarechtliche Grundlage komme für § 1 Abs. 4 AsylbLG alleine Art. 20 Abs. 1 lit. c der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) in Betracht. Danach könnten die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller einen Folgeantrag nach Art. 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) gestellt habe. Ob ein Folgeantrag nach Art. 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU auch vorliegen könne, wenn der Erstantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurde oder ob dem Folgeantrag ein Erstantrag im gleichen Mitgliedstaat vorausgegangen sein müsse, sei umstritten (dagegen spreche auch der Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie: „…in demselben Mitgliedstaat…“). So habe die Europäische Kommission in dem Verfahren C-8/20 dahingehend Stellung genommen, dass das Unionsrecht einer mitgliedstaatsübergreifenden Anwendung des Folgeantragskonzepts entgegenstehe. Die mitgliedstaatsübergreifende Anwendung dieses Konzepts bedeute ein gewisses Maß an gegenseitiger Anerkennung negativer Asylentscheidungen und eine solche sei im gegenwärtigen Asylrecht der Union grundsätzlich nicht vorgesehen. Es spreche viel für die Annahme, dass ein solcher Schritt in Richtung gegenseitiger Anerkennung vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich und in hinreichender Klarheit beschlossen werden müsste, zumal die Folgen der Einstufung eines Antrags als Folgeantrag für Asylantragsteller beträchtlich seien.

Darüber hinaus wäre eine Kürzung gem. Art. 20 Abs. 1 lit. c der Richtlinie 2013/33/EU nur zulässig, wenn dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen wäre. Denn eine Zusammenschau mit den weiteren Kürzungstatbeständen gem. Art. 20 Abs. 1 lit. a und b sowie Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2013/33/EU zeige, dass eine Einschränkung oder Entziehung der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen immer ein pflichtwidriges Verhalten voraussetzt. Nur unter dieser Voraussetzung könne ein begründeter Ausnahmefall i.S.d. Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU vorliegen. Hier sei ein pflichtwidriges Verhalten nicht vorwerfbar. Es wurde sich weder pflichtwidrig in die BRD begeben noch wurde pflichtwidrig in ihr verweilt. Außerdem verstoße § 1 Abs. 4 S. 1 AsylbLG gegen Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33/EU. Danach würden Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen nach den Abs. 1, 2, 3 und 4 des Art. 20 jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch getroffen und begründet. Die Entscheidungen seien aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen, insbesondere im Hinblick auf die in Art. 21 genannten Personen, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffen. Die Mitgliedstaaten gewährleisteten im Einklang mit Art. 19 in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und gewährleisten einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller. Diesen Anforderungen werde § 1 Abs. 4 S. 1 AsylbLG schon deshalb nicht gerecht, weil § 1 Abs. 4 S. 1 AsylbLG als gebundene Entscheidung ausgestaltet und damit für eine Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kein Raum sei (vgl. Hruschka, ZIAS 2020, 113, 123 f.). Außerdem werde mit den nach § 1 AsylbLG vorenthaltenen Leistungen kein würdiger Lebensstandard i.S.d. Art. 20 Abs. 5 S. 3 der Richtlinie 2013/33/EU gewährleistet. Dabei richte sich das Leistungsniveau danach, was im jeweiligen nationalen Kontext als angemessen anzusehen sei (Hessisches Landessozialgericht vom 13.04.2021, Az.: L 4 AY 3/21 B ER; Hruschka, ZIAS 2020, 113, 117). Nach dem nationalen Verfassungsrecht bestehe zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch (BVerfG vom 18.07.2012, Az.: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Rdnr. 90 unter Verweis auf BVerfGE 125, 175, 223 m. w. N.). Gesichert werden müsse einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde stehe allen zu und gehe selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren (BVerfG vom 05.11.2019, Az.: 1 BvL 7/16, 1. LS).

Das Bundessozialgericht habe daher mit Beschluss vom 25.07.2024 zu dem Az.: B 8 AY 6/23 R dem Europäischen Gerichtshof folgende Fragen zur Auslegung der Aufnahmerichtlinie in Verbindung mit der Dublin-III-Verordnung zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Deckt eine Regelung eines Mitgliedsstaats, die Antragstellern auf internationalen Schutz abhängig von ihrem Status als vollziehbar Ausreisepflichtige innerhalb der Überstellungsfrist nach der Verordnung (EU) Nummer 604/2013 ausschließlich einen Anspruch auf Unterkunft, Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege und Behandlung im Krankheitsfall sowie nach den Umständen im Einzelfall Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts gewährt, das in Artikel 17 Absatz 2 und Absatz 5 Richtlinie 2013/33/EU beschriebene Mindestniveau ab? Sollte Frage 1 verneint werden: 2.a) Ist Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe c Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit Artikel 2 q Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes dahin auszulegen, dass von einem Folgeantrag auch Sachverhalte erfasst werden, in denen der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und darauf gestützt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als unzulässig nach der Verordnung (EU) Nummer 604/2013 abgelehnt und die Abschiebung angeordnet hat? Kommt es für die Frage, ob in dieser Konstellation ein Folgeantrag im Sinne von Artikel 2 q Richtlinie 2013/32/EU vorliegt, auf den Zeitpunkt einer Rücknahme oder den Zeitpunkt einer Entscheidung des anderen Mitgliedstaat nach Artikel 27 oder Artikel 28 Richtlinie 2013/32/EU an? c) Ist Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe c in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 5 und 6 Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass eine Einschränkung der im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen auf Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege und Leistungen im Fall der Krankheit sowie – nach Maßgabe des Einzelfalls – an Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts zulässig ist? Dem Senat habe sich in dem dort streitigen Verfahren um die Anwendung des § 1a Abs. 7 AsylbLG zu Recht die Frage nach der Vereinbarkeit der Regelung mit Europäischem Recht gestellt, insbesondere ob das im nationalen Recht vorgesehene Leistungsniveau für Antragsteller während des Laufs der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO (Verordnung (EU) Nummer 604/2013) den Anforderungen der Aufnahmerichtlinie genüge (vgl. Terminsbericht Nummer 27/24 vom 26.07.2024 unter www.bundessozialgericht.de). Diese Frage sei auf den hier streitgegenständlichen § 1 Abs. 4 AsylbLG ersichtlich übertragbar. Diese Rechtsauffassung werde in der Sozialgerichtsbarkeit geteilt. Im Ergebnis werde insoweit auch auf die Entscheidungen des Sozialgerichts Trier vom 20.02.2025 zu dem Az.: S 3 AY 4/25 ER, des Sozialgerichts Landshut, Beschluss vom 18.12.2024, Az.: S 11 AY 19/24 ER, des Sozialgerichts Darmstadt, Beschluss vom 04.02.2025, Az.: S 16 AY 2/25 ER, des Sozialgerichts Karlsruhe, Beschluss vom 19.02.2025, Az.: S 12 AY 424/25 ER und des Sozialgerichts Speyer vom 20.02.2025, Az.: S 15 AY 5/25 ER, hingewiesen.

Der Anordnungsgrund sei ebenfalls gegeben. Das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum der Antragstellerin sei aktuell nicht mehr gesichert. Stünden existenzsichernde Leistungen nicht zur Verfügung, sei regelmäßig vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne von § 86 Abs. 2 S. 2 SGG auszugehen. Für die Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes – innerhalb dessen etwa eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG schon wegen der dabei nicht zu erwartenden raschen Klärung nicht möglich sei – erscheine die vorläufige Bewilligung zumindest im Wege einer Folgenabwägung unausweichlich (vgl. zu § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG SG Landshut vom 08.09.2021, Az.: S 11 AY 38/21 ER, ähnlich zu § 1a Abs. 7 AsylbLG SG Oldenburg vom 02.12.2020, Az.: S 26 AY 44/20 und zu § 1a Abs. 3 AsylbLG SG Stade vom 26.08.2021, Az.: S 5 AY 5/21 ER und SG Bayreuth vom 21.12.2021, Az.: S 13 AY 45/21 ER). Da die Erfolgsaussichten in der Hauptsache auch wegen der ungeklärten Vereinbarkeit von § 1a Abs. 4 AsylbLG mit Unionsrecht offen seien, sei der Antragsgegner auch insoweit im Rahmen einer Folgenabwägung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig ungekürzte Leistungen zu gewähren.

Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin vom 04.04.2025 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24.03.2025 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Er ist der Auffassung, dass der Eilantrag unbegründet und ohne weitere Interessenabwägung abzulehnen sei, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts kein schützenswertes Interesse der Antragstellerin entgegenstehen könne. Ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Der Leistungseinstellungsbescheid des Antragsgegners sei rechtmäßig ergangen. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG würden nach Stand der Akten vorliegen. Für die nähere Begründung werde zunächst vollumfänglich auf den Bescheid vom 24.03.2025 verwiesen. Die Antragstellerin sei leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Ihr Asylantrag sei durch eine Entscheidung des BAMF nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 31 Abs. 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt worden. Darüber hinaus sei die Abschiebung nach Frankreich angeordnet sowie festgestellt worden, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen würden. Damit ende für die Antragstellerin der Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG und ihr könne bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von zwei Wochen, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt werden, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Der Antragstellerin seien bis höchstens zum 10.04.2025 Überbrückungsleistungen nach § 1 Abs. 4 AsylbLG zu gewähren. Diese umfassten die Leistungen nach § 1a Abs. 1 und nach § 4 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 AsylbLG, welche als Sachleistungen erbracht würden. Darüber hinaus gehende Leistungen würden nur im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände und zur Überwindung einer besonderen Härte in Betracht kommen. Die Antragstellerin sei im Vorfeld zu der beabsichtigten Entscheidung gehört worden. Besondere Umstände oder das Vorliegen einer besonderen Härte würden sich daraus jedoch nicht ergeben. Im Übrigen sei § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG geltendes Recht und daher anzuwenden. Die Anwendung des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG erfolge auch rechtmäßig. Eine Abweichung der Leistungsträger von der gesetzlichen Regelung des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG würde gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoßen. Aufgrund des Vorrangs des Gesetzes bestehe ein Anwendungsgebot und ein Abweichungsverbot, sodass die Leistungsgewährung nur unter den entsprechenden Voraussetzungen erfolgen könne. Zudem obliege die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dem Bundesverfassungsgericht. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz sei nach alldem abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 26.03.2025 ist statthaft.

Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag, in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Soweit der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist, besteht keine Veranlassung zum sofortigen Vollzug. Ist die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides gegeben, wirkt sich die Interessenabwägung zugunsten der Behörde aus. Bei offenem Ausgang bleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung. Im Rahmen der Interessenabwägung kommt der Verpflichtung zum Schutz der Grundrechte eine besondere Bedeutung zu. Nach dem BVerfG (NJW 2003, 3617 (3618 f.) entspreche es der Funktion von Präventivmaßnahmen, mit denen für eine Zwischenzeit ein Sicherungszweck verfolgt werde, ausnahmsweise den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben seien, hänge von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Bewilligung konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lasse. Die rechtsschützende Funktion des Prozessrechts stehe demnach unter grundrechtlichem Einfluss (BeckOGK/Wahrendorf, 1.11.2024, SGG § 86b Rn. 81, 82, beck-online). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzungen entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungswegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt (so: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15. September 2024 – L 4 AY 19/24 B ER –, Rn. 32, juris).

Im Rahmen der Interessenabwägung war dem Antrag zu entsprechen.

Streitgegenständlich ist der Widerspruch gegen die Aufhebung des Leistungsbescheides nach dem AsylbLG. Mit dem angefochtenen Bescheid wurden die Leistungen nach dem AsylbLG aufgrund der Anwendung des § 1 Abs. 4 Nr. 2 S. 1 AsylbLG aufgehoben. Danach haben Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nummer 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Ab. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AsylG angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Antragstellerin dem benannten Personenkreis unterfällt.

Vorliegend kann nicht abschließend geklärt werden, ob die Klage in der Hauptsache Erfolg hätte. Denn im Rahmen der Folgenabwägung ist insbesondere der Vorlagenbeschluss des Bundessozialgerichts vom 25.07.2024 (B 8 AY 6/23) an den EuGH zu berücksichtigen. Die bezüglich der Vorschrift des § 1a Abs. 7 AsylbLG aufgeworfenen Rechtsfragen haben auch für die hier einschlägige Norm unmittelbare Auswirkungen und sind somit im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte erheblich. Die Beantwortung dieser Fragen dürfte sich auch unmittelbar auf die Leistungseinschränkung des hier einschlägigen § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG auswirken.

Unter Berücksichtigung des Vollziehungsinteresses der Behörde gegenüber dem Interesse der Antragstellerin hat das Vollziehungsinteresse zurückzustehen. Denn im Hinblick auf das offene Hauptsacheverfahren ist der Anspruch der Antragstellerin auf eine menschenwürdige Grundversorgung bis zu einer tatsächlich erfolgten Abschiebung nach Frankreich als vorrangig zu gewichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.