Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 13.05.2025 – Az.: S 9 AY 1400/25 ER

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragstellerin –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Amt für Soziales und Teilhabe
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Antragsgegnerin –

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 13.5.2025 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht (weitere aufsichtführende Richterin) xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 2.4.2025 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin vom 1.4.2025 Grundleistungen gemäß §§ 3 und 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

II. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam bewilligt.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 streitig.

Die ledige Antragstellerin ist in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. AsylbLG untergebracht.

Die Antragsgegnerin gewährte ihr ohne Bescheid ab 1.2.2025 Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 2b und § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2.

Mit Schreiben vom 1.4.2025 legte die Antragstellerin gegen den Bescheid Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin bisher nicht entschieden hat.

Am 2.4.2025 hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Stuttgart mit der Begründung beantragt, dass ihr entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – Leistungen der Regelbedarfsstufe 1 zustünden.

Die Antragstellerin beantragt,
Die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin vom 1.4.2025 gegen die faktische Leistungsgewährung durch die Antragsgegnerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren und der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam – Göttingen zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass es für die Regelbedarfsstufe 1 keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehe sich lediglich auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Zudem habe die Antragstellerin auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht erkennbar, dass die finanziellen Kapazitäten der Antragstellerin ausgeschöpft seien und sie habe nicht dargelegt, welche Nachteile zu erwarten seien, wenn sie auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen werde.

Hinsichtlich und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Papierverwaltungsakte der Antragsgegnerin und die elektronisch geführte Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich hier nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Die Antragstellerin hat sowohl Anordnungsanspruch wie Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Der Anspruch ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts bereits aus dem Beschluss des BVerfG vom 19. 10.2022 (Az. 1 BvL 3/21).

Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird.

Hieraus ergibt sich ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG, die zudem niedrigere Leistungen als die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG vorsieht (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20.12.2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 44).

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.9.2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.8.2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris).

Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19.10.2022 (Az. 1 BvL 3/21) sowie die Gründe des Vorlagebeschlusses des BSG vom 26.9.2024 – B 8 AY 1/22 R – juris ist nach Auffassung des Gerichts vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt.

Das Gericht erachtet vor diesem Hintergrund die hier streitige monatliche Differenz von 44,- Euro, die etwa 10 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, als ausreichend, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen (vgl. zum Regelbedarf 2023 auch Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.1.2021 – L 9 AY 27/20 B ER, Rn. 25, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag in vollem Umfang Erfolg hatte.

Angesichts der hinreichenden Erfolgsaussicht und der Bedürftigkeit war der Antragstellerin PKH zu bewilligen, wobei insoweit lediglich der Staatskasse ein Beschwerderecht zusteht.

Die Beschlüsse sind unanfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG, Streitgegenstand im Rahmen der einstweiligen Anordnung ist der regelmäßige Bewilligungszeitraum von einem Jahr (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.8.2017 – L 8 AY 17/17 B ER –, juris), mithin bei der Differenz zwischen Regelbedarfsstufe 1 und 2 von 44,- € mal 12, demnach 528,- €, was unter der Berufungssumme von 750,- € liegt.