BESCHLUSS
L 8 AY 22/25 B ER
S 20 AY 4/25 ER Sozialgericht Braunschweig
In dem Beschwerdeverfahren
1. xxx,
2. xxx,
– Antragsteller –
Prozessbevollmächtigter: zu 1-2:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55,
37073 Göttingen
gegen
Landkreis Gifhorn Fachbereich Soziales, Kreishaus II,
Schlossplatz 1,
38518 Gifhorn
– Antragsgegner –
hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 27. Mai 2025 in Celle durch den Richter xxx, die Richterin xxx und den Richter xxx beschlossen:
Den Antragstellern wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe ab Antragstellung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam, Göttingen, bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
GRÜNDE
Den Antragstellern ist zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens antragsgemäß Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren. Das Verfahren betrifft den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Braunschweig vom 7.5.2025, soweit durch diesen der Eilantrag betreffend den Einstellungsbescheid des Antragsgegners vom 19.2.2025 aufgrund der Annahme eines Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG (sog. Dublin-III-Fälle) für die Zeit ab dem 20.2.2025 abgelehnt worden ist.
Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe (PKH), wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers auf Grund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zu- treffend oder zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung ausgeht und die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint (Schmidt in Meyer- Ladewig/Keller/ Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 73a Rn. 7a m.w.N.). Eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit genügt (Schmidt, a.a.O., § 73a Rn. 7). Bei teilweiser Erfolgsaussicht ist bei gerichtskostenfreien Verfahren i.S.d. § 183 SGG für das gesamte Verfahren PKH unbeschränkt zu bewilligen, weil der Vergütungsanspruch des Prozessbevollmächtigten sich durch nur eine teilweise PKH nicht mindert (Gall in juris PK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 73a Rn. 50; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3.8.2007 – L 7 B 232/05 AS – juris Rn. 3). Streiten die Beteiligten über klärungsbedürftige schwierige Rechtsfragen, liegt hin- reichende Erfolgsaussicht vor, weil die Klärung der schwierigen Rechtsfragen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten ist (BVerfG, Beschluss vom 14.2.2017 – 1 BvR 2507/16 – juris Rn. 13, 19). Auch bei Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung ist PKH wegen hinreichender Erfolgsaussicht zu gewähren (Gall, a.a.O., § 73a Rn. 46 m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben weist die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht auf. Sie ist auch nicht mutwillig.
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist möglicherweise begründet.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist statthafte Antragsart die von den Antragstellern geltend gemachte Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, weil nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem eine Leistung nach dem AsylbLG ganz oder teilweise entzogen oder die Leistungsbewilligung aufgehoben wird, keine auf- schiebende Wirkung haben. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung – hier des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 19.2.2025 – erfordert eine Abwägungsentscheidung unter Einbeziehung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens und eine Interessenabwägung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 86b Rn. 12e ff.).
Entsprechend den Ausführungen des SG stellt der Einstellungsbescheid des Antragsgegners vom 19.2.2025 in der Sache eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 13.12.2024 dar, mit dem den Antragstellern ursprünglich Leistungen nach den §§ 1, 3 AsylbLG für die Zeit ab Januar 2025 von monatlich 794,00 € bewilligt worden sind. Gemäß dem Verfügungssatz des Bescheides vom 19.2.2025 hat der Antragsgegner die den Antragstellern „gewährten Leistungen gemäß §§ 1, 3-7 AsylbLG“ mit Ablauf des 31.1.2025 „eingestellt“. Den Standpunkt des Antragsgegners unterstellt, es greife hier ein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG, dürfte Rechtsgrundlage dieser Aufhebungsentscheidung – abweichend von der Begründung des angefochtenen Beschlusses – § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 45 Abs. 1, Abs. 2 SGB X sein. Soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG vor- liegen sollten (dazu auch gleich), gilt dieser Ausschluss in der Rechtsfolge nämlich, auch wenn die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über die Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG sowie die Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG „noch nicht unanfechtbar“ sind, mithin regelmäßig mit deren Bekanntgabe bzw. Zustellung (vgl. Wittmann, Ausschussdrucksache 20(4)493 A neu, S. 76). Diese ist hier nach Aktenlage am 10.12.2024 erfolgt (vgl. jeweils Bl. 49 der die Antragsteller betreffenden Ausländerakten). Dies zu Grunde gelegt, wären nach dem Rechtsstandpunkt des Antragsgegners die Voraussetzungen der Aufhebung eines anfänglichen rechtswidrigen Leistungsbescheides (vom 13.12.2024) gemäß § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 45 Abs. 1 und 2 SGB X zu prüfen.
Neben der Frage, ob der Antragsgegner bei Erlass des Bescheides vom 19.2.2025 das Rücknahmeermessen gemäß § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X ordnungsgemäß ausgeübt hätte, würden sich hier und im Verwaltungsverfahren insoweit weitere schwierig zu beantwortende und umstrittene Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Leistungsausschluss des § 1 Abs. 4 AsylbLG stellen, etwa zu der Auslegung des auf Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss; BT-Drs. 20/13413, S. 53) in das Gesetz aufgenommenen Tatbestandsmerkmals, dass die Ausreise nach der Feststellung des BAMF rechtlich und tatsächlich möglich sein muss (vgl. dazu etwa SG Hamburg, Beschluss vom 11.4.2025 – S 28 AY 188/25 ER – juris Rn. 38 ff.; SG Hamburg, Beschluss vom 17.4.2025 – S 7 AY 196/25 ER – juris Rn. 16; s. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 4. Aufl. 2024, § 1 AsylbLG Rn. 206.7 ff.). Zudem stellt sich grundlegend die in diesem Verfahren womöglich nicht zu beantwortende Frage, ob die Norm mit Verfassungs- und Europarecht vereinbar ist (vgl. dazu etwa SG Karlsruhe, Beschluss vom 25.2.2025 – S 12 AY 379/25 ER – juris Rn. 22; Wittmann, Ausschussdrucksache 20(4)493 A neu, S. 74 ff.; Frerichs, a.a.O., § 1 Rn. 200 ff. m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht ausgeschlossen und auch nicht fernliegend, dass die nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG zu treffende Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Antragsteller ausgeht, zumal hier die Gewährung existenzsichernder Leistungen streitig ist. Unter Umständen ist in die Abwägungsentscheidung hingegen einzubeziehen, dass der Antragsgegner jedenfalls seit Ablauf der Überstellungsfrist im Rahmen des Dublin-Verfahrens (zum 6.5.2025) von einer Leistungsberechtigung der Antragsteller nach dem AsylbLG (dem Grunde nach) ausgeht.
Den Antragstellern ist es nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, die Kosten des Rechtsstreits selbst zu tragen, auch nicht zum Teil oder in Raten.
Die Beiordnung des Rechtsanwaltes beruht auf § 73a SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.
Dieser Beschluss ist für die Verfahrensbeteiligten unanfechtbar, § 177 SGG.