Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 27.05.2025 – Az.: S 9 AY 300/25 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Amt für Soziales und Teilhabe
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Antragsgegnerin –

Beigeladen:

AOK Baden-Württemberg
vertreten durch den Vorstand der AOK Baden-Württemberg –
Hauptverwaltung Presselstr. 19, 70191 Stuttgart

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 27.5.2025 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht (weitere aufsichtführende Richterin) xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 22.1.2025 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 22.1.2025 Grundleistungen gemäß §§ 3 und 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 in Höhe der Regelbedarfe von 2024 sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 230,95 € monatlich zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

II. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam bewilligt.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 (in Höhe des Regelbedarfs von 2024) sowie die Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung streitig.

Der ledige Antragsteller ist in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 AsylG untergebracht.

Die Antragsgegnerin gewährte dem Antragsteller zunächst ohne Bescheid ab 1.1.2025 Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 2b und § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 nach den im Bundesanzeiger veröffentlichten niedrigeren Bedarfssätzen von 2025. Mit Bescheid vom 23.1.2025 bestätigte sie diese Leistungshöhe.

Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung nach der obligatorischen Anschlussversicherung übernahm sie nicht.

Mit Schreiben vom 22.1.2025 legte der Antragsteller gegen die konkludente Leistungsgewährung Widerspruch ein, gegen den Widerspruchsbescheid richtet sich die bereits anhängige Klage vom 7.5.2025 – S 9 AY 1950/25.

Am selben Tag hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Stuttgart mit der Begründung beantragt, dass ihm nach der Entscheidung des BVerfG zu den Analogleistungen des § 2 AsylbLG die Regelbedarfsstufe 1 in Höhe der Sätze aus dem Jahr 2024 und angesichts des Eintritts der obligatorischen Anschlussversicherung (OAV) infolge der Rechtsprechung des BSG zu § 188 SGB V auch die Kostenübernahme der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zustünden.

Der Antragsteller beantragt,
Die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 22.1.2025 gegen die faktische Leistungsgewährung durch die Antragsgegnerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam – Göttingen, zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass es für die Regelbedarfsstufe 1 keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehe sich lediglich auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Angesichts des Schreibens des Justizministeriums vom 26.8.2024 sei sie auch nicht berechtigt, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu übernehmen, da es hierfür keine Rechtsgrundlage gebe. Auch sei sie als Behörde an die im Bundesanzeiger veröffentlichen Beträge gebunden. Zudem habe der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht erkennbar, dass die finanziellen Kapazitäten des Antragstellers ausgeschöpft seien und er habe nicht dargelegt, welche Nachteile zu erwarten seien, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen werde.

Das Gericht hat mit Beschluss vom 19.3.2025 den Träger der Kranken- und Pflegeversicherung des Antragstellers notwendig beigeladen.

Hinsichtlich und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Papierverwaltungsakte der Antragsgegnerin und die elektronisch geführte Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich hier nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Der Antragsteller hat im Hinblick auf die Regelbedarfsstufe 1 sowohl Anordnungsanspruch wie Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Der Anspruch ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts bereits aus dem Beschluss des BVerfG vom 19. 10.2022 (Az. 1 BvL 3/21).

Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird.

Hieraus ergibt sich ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG, die zudem niedrigere Leistungen als die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG vorsieht (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20.12.2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 44).

Auch in Hinblick auf die Gewährung der Regelbedarfssätze nach dem Jahr 2024/Bestandsschutz besteht ein Anordnungsanspruch.

Der Anspruch hierauf ergibt sich unmittelbar aus der gesetzlichen Regelung, denn die Bestandsschutzregelung des § 28a Absatz 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), die nach dem Wortlaut des § a ist unmittelbar auf die Berechnung der Geldbeträge in § 3a AsylbLG anwendbar ist (ausführlich dazu SG Marburg, Beschluss vom 14.2.2025 – S 16 AY 11/24 ER –, juris Rn. 21 – 46 aA ohne nähere Begründung SG Heilbronn, Beschluss vom 17.2.2025 – S 15 AY 181/25, in juris Rn. 23 f).

Denn § 3a Absatz 4 AsylbLG sieht vor, dass die Geldbeträge nach den Absätzen 1 und 2 jeweils zum 1. Januar eines Jahres entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit der Regelbedarfsstufen- Fortschreibungsverordnung nach § 40 Satz 1 Nummer 1 des Zwölfen Buches Sozialgesetzbuch fortgeschrieben werden.

§ 28a Abs. 5 SGB XII sieht Folgendes vor: „Ergeben sich aus der Fortschreibung nach den Absätzen 2 bis 4 für die Regelbedarfsstufen Eurobeträge, die niedriger als die im Vorjahr geltenden Eurobeträge sind, gelten die für das Vorjahr bestimmten Eurobeträge solange weiter, bis sich aus einer nachfolgenden Fortschreibung höhere Eurobeträge ergeben.“

§ 3a Absatz 4 AsylbLG nimmt mit der Formulierung „entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung nach § 40 Satz 1 Nummer 1 des Zwölfen Buches Sozialgesetzbuch“ die gesamte Regelung des § 28a SGB XII in Bezug und nicht nur einzelne Absätze.

Ein Ausschluss der Bestandsschutzregel des § 28a Absatz 5 SGB XII lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen und entspricht auch nicht dem Willen des Gesetzgebers (SG Marburg, Beschluss vom 14.2.2025 – S 16 AY 11/24 ER – juris Rn. 21 – 46).

Das Gericht teilt auch nicht die Auffassung seines Berufungssenats beim LSG Baden- Württemberg (Beschluss vom 29.4.2025 – L 7 AY 918/25 ER-B -), der ohne überzeugende Begründung § 28a Abs. 5 SGB XII nicht als vom Begriff der Veränderungsrate umfasst sehen will, was Abs. 5 aber zweifellos ist, denn auch eine Regelung, die bestimmt, dass eine Veränderung (aus Bestandsschutzgründen) nicht vorzunehmen ist, gehört ebenso wie Berechnungsgrundlagen der vorigen Absätze inhaltlich zum Begriff der „Veränderungsrate nach § 28a Absatz 5 SGB XII“. Der Gesetzgeber hat das AsylbLG in den letzten Jahren mehrfach geändert, jedoch in § 3a Abs. 4 AsylbLG nie eine Beschränkung auf die Abs.1 bis 4 des § 28a SGB XII vorgenommen, so dass die Bestandsschutzregelung auch im Bereich des § 3a AsylbLG gilt.

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.9.2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. August 2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris).

Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19.10.2022 (Az. 1 BvL 3/21) sowie die Gründe des Vorlagebeschlusses des BSG vom 26.9.2024 – B 8 AY 1/22 R – juris ist nach Auffassung des Gerichts vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt.

Das Gericht erachtet vor diesem Hintergrund die hier streitige monatliche Differenz von 63,- Euro, die etwa 15 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, als ausreichend, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen (vgl. zum Regelbedarf 2023 auch Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.1.2021 – L 9 AY 27/20 B ER, Rn. 25, juris).

Auch im Hinblick auf die Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung hat er Anordnungsanspruch und – grund glaubhaft gemacht.

Dem Antragsteller stehen zudem die Beiträge der freiwilligen Krankenversicherung zu.

Zutreffend ist, dass der Gesetzgeber im Rahmen des AsylbLG keine Krankenversicherungspflicht vorgesehen hat, sondern den insoweit bestehenden Bedarf an Gesundheitsleistungen über § 4 und § 6 AsylbLG gewährt.

Angesichts der Entscheidung des Krankenversicherungssenats des BSG vom 10.3.2022 (B 1 KR 30/20 R – juris) sind diese Leistungen aber nicht mit einer Absicherung im Krankheitsfall nach § 188 Abs. 4 Satz 2 SGB V gleichzustellen, weswegen die obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V nach dem Ende einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eintritt, so dass der Antragsteller keine Möglichkeit hat, der Versicherungspflicht zu entgehen.

Angesichts dieser Umstände hat die Antragsgegnerin die Beiträge – wie bis zum 31.12.2024 tatsächlich durchgeführt – dem Antragsteller über § 6 Abs. 1 AsylbLG als sonstige Leistung zu gewähren.

Dieser enthält in Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AsylbLG folgende Regelungen:

„Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren.“

Der Antragsteller ist nach § 188 SGB V verpflichtet, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu zahlen.

Zahlt er diese in Höhe von 230,95 € (Bescheid vom 17.3.2025; Bl. 56 GA), so ist er on angesichts seiner Leistungen in Höhe 786,84 € (Bescheid vom 17.3.2025; Quadr. 2/8 VA), von denen allein 389,94 € allein an die Unterkunft abgezweigt werden, bei einem verbleibenden Geldbetrag von 165,95 € nicht mehr in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu decken.

Die Gewährung ist demnach zur Sicherung seines Lebensunterhalts unerlässlich. Angesichts dieser Umstände ist hier auch das Ermessen der Antragsgegnerin auf null reduziert.

Die Leistungen sind auch in Geld zu erbringen, da Beiträge an die Krankenversicherung nicht im Wege der Sachleistung erbracht werden können, mithin besondere Umstände vorliegen.

Es besteht auch ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit, denn bei Zahlung kann der Antragsteller seinen Lebensbedarf mit lediglich 165,95 € nicht decken, während er bei Nichtzahlung Vollstreckungsversuchen seiner Krankenkasse und Säumniszuschlägen ausgesetzt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag in vollem Umfang Erfolg hatte.

Angesichts der hinreichenden Erfolgsaussicht und der Bedürftigkeit war dem Antragsteller PKH zu bewilligen, wobei insoweit lediglich der Staatskasse ein Beschwerderecht zusteht.

Streitgegenstand im Rahmen der einstweiligen Anordnung ist der regelmäßige Bewilligungszeitraum von einem Jahr (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.8.2017 – L 8 AY 17/17 B ER –, juris), mithin bei der Differenz zwischen Regelbedarfsstufe 1 (2024) und 2 von 63,- € mal 12, demnach 756,- €, zuzüglich den Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen von monatlich 230,95 € mal 12, mithin 2.771,40 €, also insgesamt 3.527,40 €, was die Berufungssumme von 750,- € deutlich überschreitet.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.