BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
xxx,
Antragsteller,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Land Hessen,
vertreten durch das Regierungspräsidium Gießen,
Abteilung VI,
Landgraf-Philipp-Platz 1 7, 35390 Gießen,
Antragsgegnerin,
hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Marburg am 30. Mai 2025 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 09.04.2025 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 31.03.2025 wird angeordnet.
Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug mit Wirkung ab 09.04.2025 bewilligt.
Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts.
GRÜNDE
I.
Der Antragsteller begehrt die Herstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen einen Bescheid des Antragsgegners, mit dem Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) eingestellt wurden.
Der Antragsteller ist am xxx in Teheran/Iran geboren und hat die iranische Staatsangehörigkeit. Am 05.11.2024 wurde er in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen registriert. Er stellte einen Antrag auf Asyl.
Mit Bescheid vom 08.01.2025 wurden dem Antragsteller Sachleistungen sowie Leistungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfes nach § 3 Absatz 1 und 2 AsylbLG in Verbindung mit § 3a Absatz 1 AsylbLG gewährt.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 17.01.2025 den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Kroatien an. Die Ausreise sei rechtlich und tatsächlich möglich.
Daraufhin hörte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 05.03.2025 bezüglich einer beabsichtigten Leistungseinstellung nach § 1 Absatz 4 AsylbLG an.
Mit Bescheid vom 31.03.2025 nahm der Antragsgegner den Bescheid vom 08.01.2025 mit sofortiger Wirkung zurück und verfügte, dass der Antragsteller gemäß § 1 Absatz 4 AsylbLG fortan keine Leistungen nach dem AsylbLG erhalte – bis auf Überbrückungsleistungen bis zur Ausreise, höchstens jedoch bis zum 17.04.2025. Durch die Entscheidung des BAMF vom 17.01.2025 hätten sich nachträglich Tatsachen ergeben, die begründen würden, dass der Bescheid über die Gewährung von Leistungen rechtswidrig sei. Es bestünde gemäß § 1 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG kein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG.
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 09.04.2025 legte der Antragsteller Widerspruch ein.
Am 09.04.2025 hat der Antragsteller einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Darmstadt gestellt.
Das Sozialgericht Darmstadt hat sich mit Beschluss vom 11.04.2025 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Marburg verwiesen.
Der Antragsteller ist der Auffassung, dass die Regelung des § 1 Absatz 4 AsylbLG verfassungswidrig sei, das sie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletze. § 1 Absatz 4 AsylbLG ermögliche einen vollständigen Leistungsausschluss. Eine individuelle Pflichtverletzung sei ersichtlich nicht vorwerfbar. § 1 Absatz 4 AsylbLG verfolge kein legitimes Ziel im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, da er mit repressiver Zielsetzung migrationspolitischen Zwecken diene. Der Ausschluss werde den strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht, die an eine Minderung existenzsichernder Leistungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zu stellen seien. § 1 Absatz 4 AsylbLG ermögliche keine Reaktion der Betroffenen.
§ 1 Absatz 4 AsylbLG verstoße zudem gegen Unionsrecht. Eine Kürzung gemäß Art. 20 Absatz 1 lit. c der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) sei nur zulässig, wenn dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen sei, was vorliegend gerade nicht gegeben sei. Zudem liege ein Verstoß gegen Art. 20 Absatz 5 der Richtlinie vor, da keine Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolge und kein würdiger Lebensstandard gewährleistet werde.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruches des Antragstellers vom 09.04.2025 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 31.03.2025 (Az.: VII 73 – 36745/2024) anzuordnen.#
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Auffassung, dass der Einstellungsbescheid rechtmäßig sei. Die Voraussetzungen des § 1 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG lägen vor. Die Vorschrift verstoße weder gegen Europarecht noch gegen Verfassungsrecht. Auf europarechtlicher Ebene bestünde eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, die Ausreiseverpflichtung auf leistungsrechtlicher Ebene abzusichern. Würde es die Vorschrift des § 1 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG nicht geben, würde das bereits jetzt schlecht funktionierende Dublin-System in sich zusammenfallen. Die Vorschrift ist daher europa- rechtlich geboten, um die Umsetzung der Dublin-Verordnung in der Praxis sicher- zustellen. Auf verfassungsrechtlicher Ebene seien die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Einschränkungen auf Fälle des § 1 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG zu übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der elektronischen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist zulässig.
Soweit der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Einstellungsbescheid begehrt, ist statthaftes Verfahren das Verfahren nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 11 Absatz 4 Nr. 1 AsylbLG haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem eine Leistung nach diesem Gesetz ganz oder teilweise entzogen oder die Leistungsbewilligung aufgehoben wird, keine aufschiebende Wirkung (SG Hamburg, Beschluss vom 11.04.2025, S 28 AY 188/25 ER). Bei dem vorliegend mit Widerspruch angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen Aufhebungsbescheid im vorgenannten Sinne, da mit diesem die vormals erfolgte Gewährung von Leistungen aufgehoben wird. Bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung würde der Antragsteller sein Rechtsschutzziel erreichen, da mit dem Leistungsbescheid dauerhaft Leistungen bewilligt wurden. Der Anordnung einer Regelung eines vor- läufigen Zustandes im Sinne des § 86b Absatz 2 Satz 2 SGG bedarf es daher insoweit nicht.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß § 86b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen – wie hier wegen § 11 Absatz 4 Nr. 1 AsylbLG – Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Absatz 1 SGG gebotene Interessenabwägung muss sich auf alle öffentlichen und privaten Interessen erstrecken, die im Einzelfall von Bedeutung sind. Bei der im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich gebotenen summarischen Prüfung ist im Grundsatz die gesetzgeberische Entscheidung für das Entfallen der aufschiebenden Wirkung zu beachten und damit dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug zunächst Vorrang einzuräumen. Davon abzuweichen, besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss daher eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben. Die Prüfung des Gerichts erfolgt nicht aufgrund eines starren Prüfungsschemas. Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringere Anforderungen sind an das Aussetzungsinteresse zu stellen. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und der Betroffene durch ihn in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht besteht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl. 2023, § 86b Rn. 12c ff.; Hess. LSG, Beschluss vom 26.02.2020 – L 4 AY 14/19 B ER –, Juris Rn. 8).
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs im vorliegenden Fall anzuordnen, weil nach der gebotenen summarischen Prüfung eine überwiegende Erfolgsaussicht gegeben ist.
Vorliegend kann nicht abschließend geklärt werden, ob die Klage in der Hauptsache Erfolg hätte. Denn im Rahmen der Folgenabwägung ist insbesondere der Vorlagenbeschluss des Bundessozialgerichts vom 25.07.2024 (B 8 AY 6/23) an den EuGH zu berücksichtigen. Die bezüglich der Vorschrift des § 1a Absatz 7 AsylbLG aufgeworfenen Rechtsfragen haben auch für die hier einschlägige Norm unmittelbare Auswirkungen und sind somit im Hinblick auf den Schutz der Grund- rechte erheblich. Die Beantwortung dieser Fragen dürfte sich auch unmittelbar auf die Leistungseinschränkung des hier einschlägigen § 1 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG auswirken. Unter Berücksichtigung des Vollziehungsinteresses der Behörde gegenüber dem Interesse der Antragssteller hat das Vollziehungsinteresse zurück- zustehen. Denn im Hinblick auf das offene Hauptsacheverfahren ist der Anspruch der Antragssteller auf eine menschenwürdige Grundversorgung bis zu einer tat- sächlich erfolgten Abschiebung als vorrangig zu gewichten (SG Darmstadt, Beschluss vom 04.02.2025, S 16 AY 2/25 ER).
Die vom SG Darmstadt überzeugend dargelegten Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Leistungseinstellung werden von der Rechtsprechung weit überwiegend geteilt (vgl. nur SG Landshut, Beschluss vom 18.12.2024, S 11 AY 19/24 ER; SG Karlsruhe, Beschluss vom 25.02.2025, S 12 AY 379/25 ER; SG Trier, Beschluss vom 20.02.2025, S 3 AY 4/25 ER; SG Speyer, Beschluss vom 20.02.2025, S 15 AY 5/25 ER; SG Mainz, Beschluss vom 24.03.2025, S 10 AY 2/25 ER; SG Gießen, Beschluss vom 14.04.2025, S 30 AY 32/25 ER; SG Kassel, Beschluss vom 07.05.2025, S 6 AY 1/25 ER). Die Kammer macht sich diese Bedenken nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller Gesichtspunkte voll umfänglich zu eigen. Der Anspruch auf eine menschenwürdige Grundversorgung bis zu einer tatsächlich erfolgten Abschiebung ist vorrangig.
Dem Antrag war daher vollumfänglich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf dem im gerichtlichen Eilverfahren entsprechend anwendbaren § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Dem Antragsteller ist für das vorliegende Eilverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen. Gemäß §§ 73a SGG, 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder auf Raten aufbringen kann auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichend Aussicht auf Erfolg verspricht und nicht mutwillig erscheint. Der Beteiligte hat dabei gemäß § 115 ZPO sein Einkommen und Vermögen gemäß den gesetzlichen Vorgaben einzusetzen. Nachdem der Antragsteller Asylbewerberleistungen erhält, ist er aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage, den Rechtstreit aus eigenen finanziellen Mitteln zu bestreiten. Sein Eilantrag verspricht aus den vorstehend dargelegten Gründen auch hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.