BESCHLUSS
in dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –
Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen
gegen
Landeshauptstadt Stuttgart – Amt für Soziales und Teilhabe
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart
– Antragsgegnerin –
Die 11. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 17.10.2025 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 17.08.2025 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 14.08.2025 Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Dem Antragsteller wird für das einstweilige Rechtsschutzverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe gewährt und zur Wahrnehmung seiner Rechte Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk des Sozialgerichts Stuttgart ortsansässigen Rechtsanwaltes beigeordnet.
GRÜNDE
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 streitig.
Der Antragsteller ist am 21.03.1996 geboren und seit dem 16.01.2025 in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 des Asylgesetzes untergebracht. Der Antragsteller ist derzeit im Besitz einer Aufenthaltsgestattung, gültig bis 28.07.2026.
Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller für den Monat 08/2025 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 2 konkludent durch Auszahlung.
Mit Schreiben vom 14.08.2025 legte der Antragsteller gegen den Leistungszeitraum ab 01.08.2025 Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin bisher nicht entschieden hat.
Zugleich stellte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 16.08.2025, bei Gericht eingegangen am 17.08.2025 den hiesigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Stuttgart.
Der Antragsteller meint, dass ihm Leistungen in verfassungsmäßiger Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 zustünden.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 14.08.2025 gegen die faktische Leistungsgewährung durch die Antragsgegnerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass es für die Regelbedarfsstufe 1 keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehe sich lediglich auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Zudem habe der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht erkennbar, dass die finanziellen Kapazitäten des Antragstellers ausgeschöpft seien und er habe nicht dargelegt, welche Nachteile zu erwarten seien, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen werde.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Prozessakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
Der einstweilige Rechtschutz richtet sich im Streitfall nach § 86 Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung mit Rücksicht auf ihren vorläufigen Charakter die endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorwegnehmen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2015 – L 7 AS 617/14 B; LSG Sachsen vom 19. Dezember 2016 – L 7 AS 1001/16 B ER; HK- SGG/Binder § 86b Rn. 45).
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER, Rn. 18, juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER, Rn. 4, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss vielmehr für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; das heißt es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: MeyerLadewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 29a; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2023), Rn. 412).
Nach Überzeugung der Kammer hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller ist in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG untergebracht und hat unstreitig Anspruch auf Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Diese stehen ihm nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) im Umfang der Regelbedarfsstufe 1 zu. Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i.V.m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird. Aus der genannten Entscheidung des BVerfG ergibt sich nach Auffassung der Kammer ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 28.12.2022), Rn. 44_18). Soweit das BVerfG seine Anordnung auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG beschränkt hat und Leistungsberechtigte nach § 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b) AsylbLG von der Anordnung nicht umfasst sind, stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 3a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden (vgl. BSG, Vorlagebeschluss vom 26. September 2024 – B 8 AY 1/22 R, juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.04.2023 – L 7 AY 335/23 ER-B; Landessozialgerichts Niedersachsen- Bremen, Beschluss vom 29.06.2023 – L 8 AY 18/23 B ER).
Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. August 2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris). Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) ist nach Auffassung der Kammer vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2023), Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt. Die Kammer erachtet vor diesem Hintergrund die hier streitige monatliche Differenz von 44,- Euro, die etwa 11 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, als ausreichend, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen (vgl. auch Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21. Januar 2021 – L 9 AY 27/20 B ER, Rn. 25, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG.
Streitgegenstand im Rahmen der einstweiligen Anordnung ist der regelmäßige Bewilligungszeitraum von einem Jahr (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen- Bremen, Beschluss vom 17. August 2017 – L 8 AY 17/17 B ER, juris). Ausgehend von einer monatlichen Differenz i.H.v. 44,- € mithin ein Betrag von insgesamt 528,- €, sodass die Berufungssumme von 750,- € nicht erreicht wird.
III.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist zulässig und begründet.
Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die Prozesskostenhilfe (§§ 114 bis 127 ZPO) ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Prozesskosten zu tragen, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung i. S. v. § 73a SGG i. V. m. § 114 ff. ZPO sind nach den obigen Ausführungen zu bejahen.
Die Beiordnung des bevollmächtigten Rechtsanwaltes beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO. Ein nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt kann gemäß § 121 Abs. 3 ZPO nur beigeordnet werden, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Wird die Beiordnung eines auswärtigen Anwalts beantragt, ist dieser daher zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Anwalts beizuordnen. Der Beiordnungsantrag enthält für diesen Fall in der Regel ein konkludentes Einverständnis mit der Einschränkung (vgl. etwa BeckOK ZPO/Reichling, 43. Ed. 1.12.2021, ZPO § 121 Rn. 35; MüKoZPO/Wache, 6. Aufl. 2020, ZPO § 121 Rn. 16).
Es folgt die Rechtsbehelfsbelehrung.


