Tacheles Rechtsprechungsticker KW 42/2025

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem SGB II – Bürgergeld

1.1 – LSG Hamburg, Urteil vom 10.07.2025 – L 4 AS 300/22 D

Jobcenter übernehmen keine Tilgungsraten für selbst bewohntes Eigentum bei nur 24 % Tilgung der Hauskredite nach 10 Jahren

Anmerkung von Detlef Brock
➡️ Leistungen nach dem SGB II sind auf die aktuelle Existenzsicherung beschränkt; sie sollen nicht der Vermögensbildung dienen.
➡️ Dementsprechend sind Schuldzinsen auf einen Finanzierungskredit als Bedarf für die Unterkunft zu übernehmen. Tilgungsleistungen sind hingegen grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, da sie der Vermögensbildung dienen.
➡️ Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Finanzierung im Zeitpunkt des Leistungsbezugs bereits weitgehend abgeschlossen ist und der Erwerb der Immobilie außerhalb des Leistungsbezugs erfolgte.

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

1.2 – LSG Hamburg, Urteil vom 10.07.2025 – L 4 AS 294/24

Einkommen aus der Vermietung eines Garagenstellplatzes ist anrechenbares Einkommen

Anmerkung von Detlef Brock
➡️ Einnahmen aus der Vermietung eines im Eigentum stehenden Garagenstellplatzes einer Bürgergeldempfängerin sind anrechenbares Einkommen, auf das der Freibetrag von 100 € gem. § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht anzuwenden ist, da es sich nicht um Einkommen aus Erwerbstätigkeit handelt.
➡️ Diese Einnahmen fallen unter keine der in § 11a SGB II genannten Ausnahmen. Das Urteil des BSG vom 06.08.2014 – B 4 AS 37/13 R –, wonach Einnahmen aus der Untervermietung eines als Teil der Unterkunft angemieteten Stellplatzes nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind, steht dem nicht entgegen.

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

1.3 – LSG Sachsen, Urteil vom 28.04.2022 – L 3 AS 258/17

Keine temporäre Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern, wenn minderjährige Kinder zeitweise im Internat wohnen

Anmerkung von Detlef Brock
    Minderjährige Kinder, die zeitweise in einem Internat wohnen, haben Anspruch auf ungekürztes Sozialgeld.

Leitsätze
➡️ Das Rechtsinstitut der temporären Bedarfsgemeinschaft dient der Bedarfsdeckung und darf nicht leistungseinschränkend angewandt werden.
➡️ Der Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil – als personeller Bezugspunkt – fehlt für Zeiten der Internatsunterbringung.
➡️ Minderjährige Kinder, die zeitweise im Internat wohnen, sind aufgrund des Aufenthaltsbestimmungsrechts weiterhin dem Haushalt der Eltern zuzurechnen.
➡️ Zur Prüfung eines besonderen behindertenspezifischen Bezugs bei Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII a.F.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Bereits zu Hartz-IV-Zeiten war diese Rechtsfrage umstritten:
– gleicher Auffassung: SG Chemnitz, Urt. v. 27.02.2013 – S 14 AS 112/12 –
– anderer Auffassung: SG Potsdam, Urt. v. 18.04.2012 – S 35 AS 3511/09 –

1.4 – LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.09.2025 – L 13 AS 245/24 (Revision zugelassen)

Fehlende Leistungsberechtigung von EU-Bürgern nach dem AsylbLG

Amtliche Leitsätze
 ➡️ Nur ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG, das eine längerfristige Bleibeperspektive eröffnet, rechtfertigt eine Ausnahme vom Leistungsausschluss nach dem SGB II für EU-Bürger (Anschluss an BSG v. 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R).
➡️ Ist nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft der weitere Aufenthalt eines Ausländers wegen Zeugeneigenschaft erforderlich, kommen Überbrückungsleistungen über einen Monat hinaus gem. § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII in Betracht.
 ➡️ Das AsylbLG ist auf EU-Bürger nicht anwendbar; § 1 Abs. 1 AsylbLG ist insoweit teleologisch zu reduzieren (Anschluss u. a. an LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 25.11.2021 – L 8 SO 207/21 B ER).

Quelle: voris.wolterskluwer-online.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum SGB II / Bürgergeld

(keine neuen veröffentlichten Entscheidungen in dieser Ausgabe)

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.02.2025 – L 8 AL 1869/24

Keine Gewährung von Saison-Kurzarbeitergeld bei verschuldeter nicht rechtzeitiger Antragstellung

Anmerkung von Detlef Brock
    Gegen die Antragsfrist des § 325 Abs. 3 SGB III bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 02.10.2025 – L 9 AR 15/25 SO ER

Vollstreckungsaussetzung bei Leistungen der Eingliederungshilfe

Leitsätze
➡️ § 154 Abs. 2 SGG bezieht sich nur auf Versicherungs- und Versorgungsträger, nicht auf Träger der Eingliederungshilfe.
➡️Die Wertungen des § 154 Abs. 2 SGG können als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens in die Interessenabwägung nach § 199 Abs. 2 SGG einfließen.
➡️ Die Interessenabwägung kann zugunsten des Trägers ausfallen, wenn die Erfolgsaussichten offen sind und die leistungsberechtigte Person aktuell keiner finanziellen Belastung mehr ausgesetzt ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – SG Mannheim, Urteil vom 05.11.2024 – S 8 SO 2182/23 (rechtskräftig, nicht veröffentlicht)

Sozialamt muss keine Klimaanlage bezahlen – kein sozialhilferechtlicher Bedarf

Anmerkung von Detlef Brock
➡️ Eine schwerbehinderte, im Pflegeheim lebende Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Finanzierung einer Klimaanlage.
➡️ Es handelt sich nicht um eine Erstausstattung.
➡️ Auch als Heizkosten sind die Aufwendungen nicht berücksichtigungsfähig; sozialhilferechtlich besteht nur Anspruch auf Heizkosten – und im Mietverhältnis ist der Vermieter zur Ausstattung mit Heizung verpflichtet.

4.3 – LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.05.2025 – L 9 SO 177/24

Kein Ausschluss familiärer Aktivitäten von der Eingliederungshilfe (Senat gibt alte Rechtsauffassung auf – Az. L 9 SO 303/13)

Der Sozialhilfeträger muss 11.530 € für ein selbst beschafftes Rollstuhlfahrrad mit E-Antrieb als Leistung der sozialen Teilhabe übernehmen.

Anmerkung von Detlef Brock
➡️ Ein schwerstbehinderter Mensch mit Pflegegrad 5 hat Anspruch auf ein Rollstuhlfahrrad mit E-Antrieb zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
➡️ Ein solches Fahrrad ermöglicht gemeinsame Mobilität mit Angehörigen und stärkt soziale Teilhabe, Selbstständigkeit und Lebensqualität.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)

5.1 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.09.2025 – L 8 AY 29/25 B

Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis im Eilverfahren ohne vorherige Antragstellung bei der Behörde

Amtliche Leitsätze
 ➡️ Bei einer Beschwerde nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG ist für den Beschwerdewert auf das Interesse an der Rechtsdurchsetzung im gerichtlichen Verfahren abzustellen.
 ➡️ In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Hauptsache i.S.d. § 172 Abs. 3 SGG nach dem mit dem Antrag geltend gemachten Anspruch zu bestimmen; bei laufenden Leistungen ist von einem Streitzeitraum von max. zwölf Monaten auszugehen (ständige Rspr.).
 ➡️ Im Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG fehlt es grundsätzlich am Rechtsschutzbedürfnis, wenn sich der Antragsteller zuvor nicht an die Behörde gewandt hat.

6. Verschiedenes

6.1 – Studie des Paritätischen Gesamtverbands: Bürgergeld sichert nur „das nackte Überleben“

Das Bürgergeld bietet nach Einschätzung des Paritätischen Gesamtverbands keinen hinreichenden Schutz vor Armut.

➡️ https://paritaet-bw.de/presse/pressemitteilungen/buergergeld-bietet-keinen-hinreichenden-schutz-vor-armut

6.2 – Verstößt die neue Grundsicherung nach dem SGB II gegen die Menschenwürde?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Gerhard Kilz

➡️ https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reform-buergergeld-neue-grundsicherung-existenzminimum-sanktionen

6.3 – Kein zweites Paar Schuhe, keine tägliche warme Mahlzeit – Studie zeigt dramatische Mangelsituation

Aktuelle Studie des Paritätischen Gesamtverbands:

➡️ https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/kein-zweites-paar-schuhe-keine-taegliche-warme-mahlzeit-studie-zeigt-dramatische-mangelsituation-von-menschen-im-buergergeld/

6.4 – Bürgergeld-Bescheide auch 2025 nicht bestandskräftig wegen fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrungen

Die Jobcenter verwenden weiterhin unzulängliche Rechtsbehelfsbelehrungen, was zur Ein-Jahres-Frist für Widersprüche führt (§ 66 SGG analog).

Fehlerhaft sind insbesondere Belehrungen mit bloßem Verweis auf eine Internetseite oder QR-Codes.

➡️ Beitrag von RA Lars Schulte-Bräucker:
https://www.anwalt.de/rechtstipps/neue-rechtsbehelfsbelehrung-der-jobcenter-im-jahr-2025-erneut-erhebliche-unzulaenglichkeiten-255637.html

6.5 – Unterhaltsvorschuss bei mehr als 60 % Betreuungszeit

Urteilsbesprechung von RA Helge Hildebrandt, Kiel

Betreut ein Elternteil sein Kind zu mehr als 60 % der Zeit, gilt er als alleinerziehend und hat Anspruch auf Unterhaltsvorschuss.

Quelle: https://sozialberatung-kiel.de/2025/10/15/unterhaltsvorschuss-bei-mehr-als-60-der-betreuungszeit/

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  •     Quelle: Tacheles Rechtsprechungsticker KW XX/2025 – Autor: Detlef Brock
  •     Für Newsletter: Thomé Newsletter 12/2025 vom 06.04.2025 – Autor: Harald Thomé
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Verfasser: Redakteur von Tacheles, Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker