Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 01/2011

1.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.10.2010 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 15/09 R –

Die Angemessenheitsprüfung der Kosten der Unterkunft ist nicht ins Belieben der Verwaltung gestellt.

Denn Vielmehr sind weitere Konkretisierungen erforderlich, die schon auf Grund des allgemeinen Gleichheitssatzes nach einheitlichen Kriterien erfolgen müssen. Zum anderen fordert das Rechtsstaatsprinzip die Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Begrenzung (vgl hierzu BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30, RdNr 12).

Der 4. Senat des BSG hat das dem vorliegenden Rechtsstreit zu Grunde liegende Konzept des Grundsicherungsträgers nach dem SGB II der Stadt Wilhelmshafen, der sich nicht auf einen qualifizierten Mietspiegel stützen kann (vgl zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts auf der Basis der Daten eines Mietspiegels die Urteile des 14. Senats des BSG vom 19.10.2010 – B 14 AS 65/09 R; B 14 AS 2/10 R; B 14 AS 50/10 R), bereits einer eingehenden rechtlichen Überprüfung unterzogen (BSG Urteil vom 22.9.2009 – B 4 AS 18/09 R = BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30 RdNr 19 ff).

Fehlen nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten weitere Erkenntnismöglichkeiten zu den angemessenen Kosten der Unterkunft, sind die tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen bis zur Höhe der durch einen Zuschlag maßvoll erhöhten Tabellenwerte iS von § 8 Wohngeldgesetz zu übernehmen((grundlegend BSG Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 50/09 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 29; vgl auch Urteil des Senats vom 20.8.2009 – B 14 AS 65/08 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 26, insbesondere RdNr 21).

Der Anspruch auf Heizkosten gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II besteht zunächst jeweils in Höhe der konkret individuell geltend gemachten Aufwendungen. Eine Pauschalierung ist unzulässig. Nur wenn die Heizkosten über einem aus einem bundesweiten oder kommunalen Heizspiegel zu ermittelnden Grenzbetrag liegen, sind sie im Regelfall nicht mehr als angemessen zu betrachten (zur Ermittlung des Wertes aus diesem sog bundesweiten Heizspiegel vgl zuletzt BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 15/09 R -, RdNr 21 und BSG Urteil vom 02.07.2009 , – B 14 AS 36/06 R-, RdNr 22).

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2.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil vom 16.12.2010 – L 7 AS 6055/09 -, Revision wird zugelassen

Hilfebedürftige haben keinen Anspruch auf Erteilung einer Zusicherung der Angemessenheit der Kaltmiete für die bereits von ihnen bewohnte Unterkunft nach § 22 Abs. 2 SGB II. Es besteht auch kein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer solchen Zusicherung nach § 22 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 34 SGB X.

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2.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 20.12.2010 – L 19 AS 1166/10 B ER – und – L 19 AS 1167/10 B ER –
Entschädigungen nach § 15 Abs. 2 AGG wegen Nichteinstellung Behinderter sind – kein – zu berücksichtigendes Einkommen im SGB II.

Von der nach den Regelungen der §§ 11, 30 SGB II vorzunehmenden Anrechnungen von Einkommen sind nach § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II ausgenommen Entschädigungen, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 253 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geleistet werden.

Nach § 253 Abs. 2 BGB (früher § 847 BGB) kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden, wenn wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist.

Die auf Grundlage der arbeitsgerichtlichen Vergleiche geleisteten Zahlungen beruhen zwar weder auf Körper-, Gesundheits-, Freiheitsschädigungen noch auf einer Verletzung des Klägers in seinem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, vielmehr nach Hintergrund und Verlauf der arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen auf einer Verletzung seines Persönlichkeitsrechts durch Verkennung seiner spezifischen Rechte als Schwerbehinderter.

Dies steht jedoch der Annahme nicht entgegen, dass es sich bei den vom Antragsteller erhaltenen Zahlungen um Schmerzensgeld im Sinne von § 253 Abs. 2 BGB bzw. § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II handelt. Denn in ständiger Rechtsprechung (z. B. BGHZ 39, 124; BGH NJW 1971, 689) billigt die zivilrechtliche Rechtsprechung Schmerzensgeld in entsprechender Anwendung von § 253 Abs. 2 BGB bzw. der Vorgängervorschrift in § 847 BGB auch bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu.

Diese Rechtsprechung hatte der Gesetzgeber der Vorgängervorschrift von § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II in Gestalt von § 77 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ausdrücklich in seinen Willen aufgenommen. In den Materialien zum Entwurf von § 77 BSHG (BT-Drucks 7/308 vom 13.03.1973 S. 17 zu Nr. 24) heißt es auszugsweise: "Die Leistungen des so genannten Schmerzensgeldes nach § 847 BGB und die Frage ihrer Berücksichtigung als Einkommen spielen, vor allem infolge der Zunahme der Verkehrsunfälle, eine wachsende Rolle. Obwohl das BSHG keine besondere Bestimmung enthält, berücksichtigen die Träger der Sozialhilfe das Schmerzensgeld vielfach nicht als Einkommen, weil es wegen eines immateriellen Schadens gezahlt wird, dessen Entschädigung nicht Inhalt der Sozialhilfe ist und weil daher seine Berücksichtigung als Härte empfunden wird. Diese Erwägung liegt auch der vorgeschlagenen Regelung zugrunde. Dabei soll der neue Absatz 2 den Anwendungsbereich des § 847 BGB insgesamt erfassen, also auch die Fälle, in denen die Rechtsprechung in Anlehnung an § 847 BGB ein Schmerzensgeldanspruch zuerkennt …" (vgl. auch Brühl in LPK-BSHG, 6. Auflage, § 77 BSHG Rn 96, 97 mwN). Der Gesetzgeber des SGB II strebte im Verhältnis zur Rechtslage nach dem BSHG keine Veränderung an, vielmehr eine Regelung der Einkommensberücksichtigung im Wesentlichen wie im Sozialhilferecht. Speziell zur Einführung der Ausnahmebestimmungen in § 11 Abs. 3 SGB II heißt es im Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (BT-Drucks 15/1516 vom 05.09.2003, S. 53 zu § 11): "Absatz 3 orientiert sich ebenfalls am Sozialhilferecht und nimmt bestimmte Einnahmen wegen ihres Charakters oder der Zweckbestimmung von der Einkommensberücksichtigung aus". Die Auslegung von § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II knüpft dementsprechend auch an die der Vorgängernorm in § 77 Abs. 2 BSHG an (z. B. Brühl in LPK SGB II, 3. Auflage, § 11 Rn 71 mwN).

Nominell handelt es sich bei den dem Kläger auf Grundlage der arbeitsgerichtlichen Vergleiche zugeflossenen Zahlungen jeweils um Ausgleichszahlungen nach § 15 Abs. 2 AGG. Nach § 15 Abs. 2 S. 1 AGG kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist.

Nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Schon der Wortlaut der Vorschrift lässt eine Nähe zu § 253 Abs. 2 BGB erkennen, auch in der Kommentierung wird § 15 Abs. 2 AGG als Sondervorschrift im Sinne von § 253 Abs. 1 BGB angesehen, nach der wegen eines Nichtvermögensschadens einer "billige Entschädigung" verlangt werden kann. Der Eintritt eines immateriellen Schadens werde bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vermutet (Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, 2. Auflage, § 15 Rn 34).

Nach dem Hintergrund der arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen und den in den Vergleichen gewählten Formulierungen handelt es sich bei den dem Antragsteller zugeflossenen Zahlungen um Schadensersatz für Nichtvermögensschaden wegen Missachtung seiner spezifischen Rechte als Schwerbehinderter im Bewerbungsverfahren.

Dementsprechend werden auch in der Kommentierung zum SGB IX auf Verletzungen der Pflichten aus § 81 SGB IX beruhende Entschädigungsleistungen als weder der Beitragspflicht zur Sozialversicherung noch der Anrechnungspflicht auf Leistungen nach dem SGB II unterliegend angesehen (Schröder in Hauck/Noftz, SGB-GK, § 81 SGB IX Rn 27). Für das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs wird es als ausreichend angesehen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass in einem Motivbündel, das die Entscheidung des Arbeitgebers beeinflusst hat, die Schwerbehinderung als negatives Kriterium enthalten ist (Fabricius in juris-PK-SGB IX, § 81 SGB IX Rn 34).

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2.3 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Urteil vom 11.12.2010 – L 9 AS 480/10 –

Der Vermieter eines Hilfebedürftigen nach dem SGB II kann vom Grundsicherungsträger nicht die Übernahme von Mietschulden und Renovierungskosten seiner früheren Wohnung verlangen.

Denn auf gesetzliche Anspruchsgrundlagen aus dem SGB II kann sich der Antragsteller nicht berufen, weil er als Vermieter eines Leistungsberechtigten mangels Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 9 Abs. 1 SGB II) selbst von vornherein nicht anspruchsberechtigt nach dem SGB II ist.

Ein Arbeitsuchender ist nicht gehindert, den Grundsicherungsträger zu ersuchen, die Kosten für Unterkunft und Heizung direkt an seinen Vermieter zu zahlen. In beiden Fällen wird erreicht, dass der Grundsicherungsträger den Anspruch des Hilfebedürftigen (§ 194 BGB i.V.m. § 22 Abs. 1 SGB II) auf Absicherung des existenziellen Bedarfes Wohnen erfüllt, obwohl er nicht dem Hilfebedürftigen (§ 362 Abs. 1 BGB), sondern einem Dritten – dem Vermieter des Hilfebedürftigen – die entsprechende Leistung für Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 SGB II) im Einverständnis mit dem Hilfebedürftigen (§ 185 BGB), das im Falle des § 22 Abs. 4 SGB II kraft Gesetzes substituiert wird, als Geldleistung erbringt (§ 362 Abs. 2 BGB). Durch diese Zahlung wird zugleich – nun im Verhältnis zwischen Hilfebedürftigem und Vermieter – die mietvertragliche Verpflichtung des Hilfebedürftigen gegenüber seinem Vermieter zur Mietzahlung erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).

Vor diesem Hintergrund reichen weder das wirtschaftliche Interesse des Vermieters an einem potenten und zuverlässigen Zahler in Gestalt des Grundsicherungsträgers noch das vom Grundsicherungsträger verfolgte öffentliche Interesse daran, einem Hilfebedürftigen Unterkunft und Heizung zu sichern, für die Annahme aus, der Grundsicherungsträger wolle mit seiner Erklärung, er "übernehme" die Kosten der Unterkunft für den Hilfebedürftigen und werde sie unmittelbar an den Vermieter zahlen (überweisen), eine eigene materiell rechtliche Leistungspflicht gegenüber dem Vermieter begründen. Denn dieser Interessenlage wird im Regelfall war eine Auslegung gerecht, die den Inhalt der Übernahmeerklärung darin erblickt, dass der Grundsicherungsträger den Vermieter über das gegenwärtige Bestehen eines die Unterkunftskosten einschließenden Hilfeanspruchs des Mieters unterrichtet und (unter der Voraussetzung fortbestehender Hilfebedürftigkeit) zugleich eine bestimmte verwaltungstechnische Abwicklung des Zahlungsverkehrs, nämlich die Überweisung der mietvertraglich zu zahlenden Beträge direkt an den Vermieter, bekannt gibt. Diese Verfahrensweise schließt die Gefahr aus, dass ein grundsicherungsberechtigter Mieter die an ihn gezahlten Leistungen für die Unterkunft nicht oder nicht rechtzeitig an den Vermieter weiterleitet. Sie trägt damit – wie zuvor ausgeführt – dem Vermieterinteresse ebenso Rechnung wie dem vom Grundsicherungsträger verfolgten öffentlichen Interesse an einer wirksamen Leistungsgewährung (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Urteil vom 19.05.1994, 5 C 33/91, BVerwGE 96, 71).

Es müssen daher besondere Umstände hinzutreten, um die Annahme zu rechtfertigen, eine dem Vermieter gegenüber abgegebene Übernahmeerklärung des Grundsicherungsträgers beschränke sich nicht auf die Mitteilung des Grundsicherungsanspruchs und der direkten Zahlungsweise, sondern bezwecke mehr, nämlich die Begründung einer materiell rechtlichen Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Vermieter. Notwendig ist vor allem, dass der Grundsicherungsträger seinen Rechtsbindungswillen unzweideutig zum Ausdruck gebracht hat.

Allein die dargestellte Interessenlage zwischen Vermieter und Grundsicherungsträger rechtfertigt im Zweifel noch nicht die Annahme eines Vermieteranspruchs (vgl. erneut BVerwG, Urteil vom 19.05.1994, 5 C 33/91, BVerwGE 96, 71; ebenso Urteil des erkennenden Senates vom 19.03.2009, L 9 SO 9/07 ; im Ergebnis auch Gerenkamp in: Mergler/Zink, SGB II, § 22 Rn. 38 (Stand: August 2007); Berlit in: LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 22 Rn. 116: "nur reflexartig begünstigte[r] Vermieter").

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++ Anmerkung: Vgl. dazu SG Karlsruhe Urteil vom 26.3.2010,- S 17 AS 1435/09 – , veröffentlicht im Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 16/2010.
Vom Leistungsträger zu Unrecht erbrachte Kosten der Unterkunft und Heizung können auch wenn die Leistung direkt an den Vermieter ausbezahlt worden ist, grundsätzlich nur vom Hilfebedürftigen und nicht vom Vermieter zurück gefordert werden. § 53 Abs. 6 SGB I ist nur dann eine geeignete Ermächtigungsgrundlage für die gesamtschuldnerische Inanspruchnahme des Vermieters, wenn zwischen diesem und dem Hilfebedürftigen ein Abtretungsvertrag geschlossen worden ist oder eine Verpfändung stattgefunden hat. Hierfür genügt eine vom Hilfebedürftigen gegenüber dem Leistungsträger erklärte Einwilligung in die Auszahlung an den Vermieter nicht.

2.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 17.12.2010 – L 19 AS 1323/10 B –

Bei dem selbstgenutzten Hausgrundstück, dessen Alleineigentümer der Hilfebedürftige ist, handelt es sich nicht um ein angemessenes Hausgrundstück i.S.v. § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II, denn die angemessene Wohnfläche beträgt bei einem Zwei-Personen-Haushalt (vgl. zur Berücksichtigung von Hausbewohnern, die nicht Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft sind, bei der Bestimmung der Angemessenheitsgrenze: BSG Urteil vom 29.03.2007 – B 7b AS 12/06 R – Rn 23) 90 qm.

Die Wohnfläche von 100qm übersteigt die angemessene Wohnfläche von 90 qm, auch wenn eine bis zu 10% Überschreitung der angemessenen Wohnfläche berücksichtigt wird (vgl. BSG Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 2/05 R – Rn 23 und vom 19.05.2010 – B 8 SO 7/08 R – Rn 19).

Ebenfalls ist nicht erkennbar, dass die Verwertung des Hausgrundstückes durch Verkauf, Beleihung oder Vermietung einzelner Wohnräume (siehe zu Verwertungsmöglichkeiten eines Hausgrundstückes: BSG Urteil vom 16.05.2007 – B 11b As 37/06 R – Rn 31) offensichtlich unwirtschaftlich (vgl. zum Begriff der Unwirtschaftlichkeit: BSG Urteil vom 06.05.2010 – B 14 AS 2/09 R – Rn 22 m.w.N.) oder unzumutbar i.S.v. § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II (vgl. zum Begriff der besonderen Härte: BSG Urteil vom 06.05.2010 – B 14 AS 2/09 R – Rn 25f m.w.N.) ist.

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2.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 14.12.2010, – L 7 AS 1549/10 B ER –

Hilfebedürftiger hat bis zur Klärung seiner Erwerbsfähigkeit Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (§ 44 a SGB II).

Denn bei Behinderten, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten, kann nicht zwangsläufig ohne weitere Prüfung von einer Erwerbsunfähigkeit des Betroffenen ausgegangen werden (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29.09.2009 – L 3 AS 24/08 Rn. 45).

Nach § 44 a SGB II stellt die Agentur für Arbeit fest, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Sofern der kommunale Träger oder ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, der Feststellung widerspricht, entscheidet die gemeinsame Einigungsstelle. Bis zur Entscheidung der Einigungsstelle erbringen die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Denn § 44a SGB II enthält nicht die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Dies folgt aus dem Wortlaut und letztlich dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Danach soll zum einen ein Streit zwischen den Leistungsträgern der Grundsicherung und der Sozialhilfe gerade nicht "auf dem Rücken des Hilfebedürftigen" ausgetragen werden. Somit wird nach § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II die Erwerbsfähigkeit fingiert und die Leistungspflicht des Grundsicherungsträgers besteht, bis die Einigungsstelle entschieden hat. Denn es soll zugunsten des Hilfebedürftigen sichergestellt werden, dass er nicht "zwischen den Stühlen" sitzt (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R Rn. 19 f. zitiert nach juris; LSG NRW, Beschluss vom 17.02.2009 – L 7 B 326/08 AS ER; Blüggel in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Auflage 2008, § 44a Rn. 2, 29, 30). Zum anderen ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II, der eine weite Auslegung gebietet, dass diese Regelung auch dann zur Anwendung kommt, wenn der Grundsicherungsträger von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgeht, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB XII bemüht hat (BSG, a.a.O., Rn. 20 zitiert nach juris; Blüggel, a.a.O., Rn. 23). Der Hilfebedürftige ist nicht nur bei einem schon bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle nach deren Anrufung, sondern bereits im Vorfeld so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig (vgl. BSG, a.a.O.).

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2.6 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.12.2010, – L 19 AS 1918/10 B ER –

Nachdem der Beschluss des Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 13.08.2010 – L 7 AS 1069/10 B ER – unanfechtbar geworden ist, steht daher dessen Rechtskraft dem erneuten Antrag des Antragstellers auf vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Beitragsrückstände und Gewährung von Krankenversicherungsschutz ab dem 01.08.2010 entsprechend den Regelungen des SGB II entgegen.

Denn Beschlüsse, die im einstweiligen Anordnungsverfahren ergehen, erwachsen, sofern kein Rechtsmittel mehr gegeben ist, gleichgültig ob sie dem Antrag stattgeben oder ihn ablehnen, in materieller Rechtskraft (siehe hierzu Beschlüsse des Senat vom 22.06.2009 – L 19 B 126/09 AS ER – mit weiteren Rechtsprechungshinweisen und vom 10.03.2008 – L 19 B 139/07 AS ER -, LSG Baden Württemberg Beschluss vom 08.09.2010 – L 7 SO 3038/10 ER-B – m.w.N.; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn 45).

Auch im einstweiligen Anordnungsverfahren besteht ein Bedürfnis durch das Institut der materiellen Rechtskraft einem fortgesetzten Streit unter den Beteiligten über denselben Streitgegenstand entgegenzuwirken, die Belastungen der Gericht zu vermeiden sowie der Gefahr widersprechender Entscheidungen zu begegnen (vgl. Beschluss des Senats vom 22.06.2009 – L 19 B 126/09 AS ER – m.w.N.).

Nur wenn nach Eintritt der Rechtskraft neue Tatsachen entstanden sind oder eine veränderte Rechtslage vorliegt, welche eine andere Beurteilung des entscheidungserheblichen Sachverhalts rechtfertigen, ist ein wiederholter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig (LSG Baden Württemberg Beschluss vom 08.09.2010 – L 7 SO 3038/10 ER-B – m.w.N).

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2.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 15.12.2010 – L 19 AS 1990/10 B ER –

Allein aus dem Umstand, dass der Hilfebedürftige im Mehrfamilienhaus der Vermieterin, dessen Alleineigentümerin die Vermieterin ist , dieses Haus zu Wohnzwecken nutzen, kann nicht geschlossen werden, dass sie eine gemeinsame Wohnung haben.

Ein gemeinsames Wohnen ist zumindest dadurch gekennzeichnet, dass die Bewohner gemeinsam Räume, deren Nutzung zur selbständigen Lebensführung zwingend erforderlich ist, wie z. B. Küche, Bad, Flur, nutzen.

Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft als Partner eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, vorliegend des Antragstellers, eine Person, die mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Ein solcher wechselseitiger Wille wird u.a. nach § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II i.d. ab dem 01.08.2006 geltenden Fassung vermutet, wenn die Partner länger als ein Jahr zusammenleben. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vermutungsregelung nach § 7 Abs. 3a SGB II vor, trägt ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger die objektive Beweislast für das Vorliegen des Gegenteils. Will ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger die gesetzliche Vermutung widerlegen, muss er damit einen Beweis dahingehend erbringen, dass entweder die von der Vermutungsregelung vorausgesetzten Hinweistatsachen nicht vorliegen oder aber andere Hinweistatsachen vorliegen, die die Vermutung entkräften, es sei der wechselseitige Wille vorhanden, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.

Dahinstehen kann vorliegend, ob § 7 Abs. 3a SGB II nur eine Vermutungsregelung hinsichtlich des von § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II geforderten wechselseitigen Einstandswillen der Partner trifft oder sich auch auf das in § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II geforderte Tatbestandsmerkmal des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt (so anscheinend BSG Urteil vom 27.01.2009 – B 14 AS 6/08 R -) erstreckt. Jedenfalls setzt das Eingreifen der Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3a SGB II voraus, dass zwischen den Partnern zumindest eine Wohngemeinschaft (vgl. zum Begriff der Wohngemeinschaft: BSG Urteil vom 18.06.2008 – B 14/11b AS 61/06 R – Rn 22) besteht.

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3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 08.12.2010 – L 12 SO 484/10 –

Keine Übernahme der Stromkostennachforderung nach § 28 SGB XII aufgrund von chronischen Erkrankungen und längerem Aufenthalt zu Hause.

Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wird der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen mit Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung und der Sonderbedarfe nach §§ 30 bis 34 SGB XII nach Regelsätzen erbracht. Im Regelsatz ist für Strom/Haushaltsenergie ein Betrag enthalten. Die laufenden Stromkosten seien daher grundsätzlich aus dem Regelsatz zu finanzieren. Entsprechendes gelte für etwaige Nachzahlungen. Dabei obliege es der Selbstverantwortung und dem Selbstbestimmungsrecht des Leistungsempfängers, seinen Verbrauch zu steuern. Anhaltspunkte für einen unabweisbaren, seiner Höhe nach erheblich abweichenden Bedarf bestünden vorliegend nicht und ergäben sich insbesondere nicht daraus, dass sich der HB nach seinen Angaben im letzten Jahr mehr zu Hause aufgehalten habe.

Ein Anspruch auf Übernahme der rückständigen Stromkosten ergibt sich vorliegend auch nicht aus § 34 Abs. 1 SGB XII. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB XII könnten Schulden nur übernommen werden, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt sei. Eine vergleichbare Notlage ist i anzunehmen, wenn eine Sperre der Strom- oder Heizungsversorgung wegen vorhandener Schulden drohe oder bereits eingetreten sei. Vorliegend bestünden zwar Rückstände. Dass eine Stromsperre drohe oder der Stromlieferungsvertrag bereits gekündigt worden sei, ist i aber weder ersichtlich noch dargetan. Nur ergänzend werde darauf hingewiesen, dass eine Übernahme von Schulden auch unter den Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nur dann in Betracht komme, wenn sie gerechtfertigt sei. Schließlich seien Geldleistungen im Rahmen des § 34 SGB XII nicht notwendig als Beihilfe zu gewähren. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 3 SGB XII könnten sie vielmehr auch als Darlehen erbracht werden.

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4. – BVerfG Beschluss vom 07.12.2010 – 1 BvR 2628/07 –

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe mit Wirkung zum 1. Januar 2005 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Verwirft ein oberstes Bundesgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, weil es alle wesentlichen Aspekte einer Verfassungsfrage bereits als in seiner Rechtsprechung geklärt ansieht, steht dies der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, wenn der Beschwerdeführer vernünftige und gewichtige Gründe für eine Überprüfung dieser Rechtsfrage anführen kann und es sich um eine ungeklärte verfassungsrechtliche Frage handelt.

Der gesetzliche Anspruch auf Arbeitslosenhilfe nach den §§ 190 bis 206 Sozialgesetzbuch Drittes Buch in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung unterlag nicht dem grundrechtlichen Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG.

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5.   Aktuelle Rechtsprechung des BSG zum SGB XII (Teil 2), Abhandlung von Pablo Coseriu, Richter am Bundessozialgericht

 
 

6.   Fragen und Antworten zur Grundsicherung nach dem SGB II

 
In welchem Umfang sind Einkünfte aus Kapitalvermögen im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB XII in Abzug zu bringen?

Ist aus verfassungsrechtlichen Gründen gegeben falls auch im Bereich der Einkommensanrechnung nach dem SGB XII eine Bagatellgrenze entsprechend § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (ALG II-VO) von 50,00 EUR zu berücksichtigen?

Der Einkommensbegriff des SGB XII sowie die Form der Einkommensanrechnung ergeben sich zunächst aus §§ 82 ff. SGB XII sowie der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII. Dass diesem auch Einkünfte aus Kapitalvermögen unterfallen und in welcher Art solche konkret zu errechnen und anzurechnen sind, ergibt sich bereits abschließend aus § 6 der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII. Auch existiert mittlerweile eine ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Frage der Abgrenzung von Einkommen und Vermögen im SGB II und SGB XII (BSG, Urteil vom 30.08.2010 – B 4 AS 70/09 R – Rn. 15, m.w.N.; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII, 3. Auflage 2010, § 82, Rn. 13 ff., m.w.N.). Die dort aufgestellten Grundsätze finden auch im Hinblick auf Einnahmen aus Kapitalvermögen Anwendung (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 57/07 R – Rn. 17 ff., m.w.N.).

Zinsgutschriften aus Sparguthaben sind Einnahmen in Geld und als Einkommen des Leistungsempfängers zu berücksichtigen. Dieses gilt auch dann, wenn es sich bei dem verzinsten Kapital um Schonvermögen handelt (BSG, Urteil vom 30.09.2008 – B 4 AS 57/07 R – Rn. 17).

Die Frage, ob aus verfassungsrechtlichen Gründen ggf. auch im Bereich der Einkommensanrechnung nach dem SGB XII eine Bagatellgrenze entsprechend § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (ALG II-VO) von 50,00 EUR zu berücksichtigen ist, stellt sich nicht als eine die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache begründende Rechtsfrage dar.

Dass insbesondere die Einkommensanrechnung im SGB II und SGB XII im Detail unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben folgt und für die Ungleichbehandlung ausreichend rechtfertigende Gründe vorliegen, hat das Bundessozialgericht bereits entschieden (BSG, Urteil vom 18.02.2010 – B 4 AS 29/09 R – Rn. 35 ff., m.w.N.; BSG, Urteil vom 21.12.2009 – B 14 AS 42/08 R – Rn. 25 f., m.w.N.).

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de