Sozialgericht Hildesheim —Beschluss vom 02.05.2012 – Az.: S 15 AS 757/11 (PKH)

Beschluss

In dem Rechtsstreit

1.  xxx
2.  xxx
vertreten durch xxx
Kläger,

Prozessbevollmächtigte:
zu 1-2: Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx,
Beklagte,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 15. Kammer – am 2. Mai 2012 durch den Vorsitzenden, Richter xxx, beschlossen:

den Klägern wird Prozesskostenhilfe für die 1. Instanz unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam aus Göttingen zu den Bedingungen eines ortsansässigen Rechtsanwaltes ohne Ratenzahlung bewilligt.

Gründe:
Den Klägern war nach § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) uneingeschränkte Prozesskostenhilfe zu gewähren.

I.
Nach den vorgelegten Unterlagen unterschreitet das Einkommen des Klägers den Grenzwert der zu § 115 ZPO beigefügten Tabelle.

II.
Der Rechtsverfolgung kann auch nicht von vornherein hinreichende Aussicht auf Erfolg abgesprochen werden. Ebenso erscheint die Klage nicht mutwillig (§§ 114, 118, Abs. 2 ZPO).

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.

1. Die Bescheide sind bereits formell rechtswidrig, da das Recht der Kläger auf Akteneinsicht verletzt wurde.

a) Das Recht auf Akteneinsicht ergänzt den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. ist eine grundlegende Voraussetzung, um den Beteiligten das rechtliche Gehör überhaupt erst zu ermöglichen. Fast immer erleichtert die Kenntnis des Akteninhalts die Abgabe der notwendigen Erklärungen (so schon Haueisen, NJW 1967, 2294). Die Behörde muss es sich gefallen lassen, dass sich die Beteiligten durch die auf Grund der Akteneinsicht gewonnenen Erkenntnisse erst Gegenargumente aufbauen (von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 25, Rn. 3).
Das Akteneinsichtsrecht gewährt den Beteiligten Waffengleichheit mit der Behörde und ist — wie das Anhörungsrecht — Ausdruck eines fairen Verwaltungsverfahrens (Weber in Beck-OK Sozialrecht, Stand 01.03.2012, § 25 SGB X, Rn. 2).

b) Vorliegend wurde dieses Recht vom Beklagten in grober Weise verletzt. Das Verwaltungsverfahren wurde in zutiefst unfairer Weise betrieben, indem dem Kläger die Einsicht in die Akten sowohl im Ausgangs- und Widerspruchsverfahren verweigert und zugleich gefordert wurde, er möge genau darlegen, aus welchen Gründen er das Verwaltungshandeln im Einzelnen angreife. Dies war dem Kläger gerade deshalb nicht möglich, weil ihm die Akteneinsicht verwehrt wurde. Insofern mutet die Begründung des Widerspruchsbescheids nahezu zynisch an, wenn darauf abgestellt wird, dass es an einer Begründung fehlt, die der Beklagte mit seinem Handeln gerade in rechtswidriger Weise verhindert hat.

c) Hat die Behörde Akteneinsicht zu Unrecht verweigert, so liegt ein Verfahrensfehler vor, der den VA anfechtbar macht, jedoch keine Nichtigkeit zur Folge hat. Gem. § 42 SGB X kommt deshalb eine Unbeachtlichkeit des Fehlers in Betracht, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 25, Rn. 13).

Vorliegend ist das Gegenteil der Fall, da sich der Beklagte gerade auf die fehlende Begründung durch den Kläger stützt, die sie durch ihr offensichtlich rechtswidriges Verhalten vereitelt hat. Insgesamt sind die Rechte des Klägers vorliegend in besonders grober und rechtsstaatlich unerträglicher Weise verletzt worden.

Deshalb ist auch eine Heilung des Verfahrensmangels durch spätere gerichtlich gewährte Akteneinsicht nicht möglich.

2. Darüber hinaus ist der Bescheid auch materiell rechtswidrig, da der Kläger einen Anspruch auf Überprüfung hatte.

a) Dabei ist grundsätzlich umstritten, inwieweit der Antragsteller bei einem Antrag nach § 44 SGB X Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes liefern muss (Diering/Timme/Waschull, SGB X, 2. Auflage, § 44 Rn. 31 f.; von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 44, Rn. 38 jeweils mit weiteren Nachweisen). Überzeugend ist insoweit, dass die Behörde vom Amts wegen Handeln muss, wenn sie Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes hat, da sie zu gesetzmäßigem Verhalten verpflichtet ist. So setzt die Rücknahme nach § 44 SGB X einen Antrag des Betroffenen unstrittig auch nicht voraus. Letztlich kann dies aber im vorliegenden Fall dahinstehen. Jedenfalls wenn die Behörde durch rechtswidriges Verhalten vereitelt, dass der Antragsteller Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit vorträgt, indem sie — wie vorliegend — die Akteneinsicht verweigert, können solche Anhaltspunkte vom Antragsteller nicht gefordert werden. Hier muss die Behörde von sich aus tätig werden. Dies ist offenbar nicht geschehen, wie sich aus der Begründung des ablehnenden Bescheides vom 11.04.2011 und des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2011 ergibt. Dort wird nur formalistisch auf § 44 SGB X verwiesen, ohne dass Zusammenspiel mit § 25 SGB X zu erkennen.

b) Der Anspruch auf eine Überprüfung erstreckt sich dabei auf die gesamten Leistungszeiträume bis ins Jahr 2007. So ist eine Überprüfung nach § 44 SGB X nicht durchzuführen, wenn sie für den Antragsteller zu keinem günstigen Ergebnis führen kann, weil eine Leistungsgewährung nach § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen ist. Danach werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. Die einschränkende Vorschrift des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist nicht anwendbar, da der Überprüfungsantrag am 14.03.2011 (Eingegangen am 18.03.2011) und damit vor dem 01.04.2011 gestellt wurde (§ 77 Abs. 13 SGB II).

III.
Nach § 121 Abs. 2 ZPO war der Rechtsanwalt der Wahl des Klägers beizuordnen, da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar (§ 127 Abs. 2 ZPO); die Staatskasse hat ein Beschwerderecht gemäß § 127 Abs. 3 ZPO.