Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 15.05.2012 – Az.: S 15 AS 1325/11 PKH

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit
1. xxx,
2. xxx,
Kläger,
Prozessbevollmächtigte:
zu 1-2: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx,
Beklagte,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 15. Kammer – am 15. Mai 2012 durch den Vorsitzenden, Richter xxx, beschlossen:

Den Klägern wird Prozesskostenhilfe für die 1. Instanz unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam aus Göttingen ohne Ratenzahlung bewilligt.

GRÜNDE:
Den Klägern war nach § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) uneingeschränkte Prozesskostenhilfe zu gewähren.

I.
Nach den vorgelegten Unterlagen können die Kläger nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen.

II.
Der Rechtsverfolgung kann auch nicht von vornherein hinreichende Aussicht auf Erfolg abgesprochen werden. Ebenso erscheint die Klage nicht mutwillig (§§ 114, 118, Abs. 2 ZPO).

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.

1. Die Bescheide sind bereits formell rechtswidrig, da das Recht der Kläger auf Akteneinsicht verletzt wurde.

a) Das Recht auf Akteneinsicht ergänzt den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. ist eine grundlegende Voraussetzung, um den Beteiligten das rechtliche Gehör überhaupt erst zu ermöglichen. Fast immer erleichtert die Kenntnis des Akteninhalts die Abgabe der notwendigen Erklärungen (so schon Haueisen, NJW 1967, 2294). Die Behörde muss es sich gefallen lassen, dass sich die Beteiligten durch die auf Grund der Akteneinsicht gewonnenen Erkenntnisse erst Gegenargumente aufbauen (von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 25, Rn. 3).
Das Akteneinsichtsrecht gewährt den Beteiligten Waffengleichheit mit der Behörde und ist — wie das Anhörungsrecht — Ausdruck eines fairen Verwaltungsverfahrens (Weber in Beck-OK Sozialrecht, Stand 01.03.2012, § 25 SGB X, Rn. 2).

b) Vorliegend wurde dieses Recht vom Beklagten in grober Weise verletzt. Das Verwaltungsverfahren wurde in zutiefst unfairer Weise betrieben, indem dem Kläger die Einsicht in die vollständigen Akten sowohl im Ausgangs- und Widerspruchsverfahren verweigert und zugleich gefordert wurde, er möge genau darlegen, aus welchen Gründen er das Verwaltungshandeln im Einzelnen angreife. Dies gerade deshalb nicht möglich, weil die Akteneinsicht verwehrt wurde. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltung die Aktenbestandteile nach ihrem Gutdünken zu filtern und nur in bestimmte Teile Einsicht zu gewähren. Die Behörde könnte sonst den Rechtschutz des Bürgers unmöglich machen, indem sie gerade die angreifbaren Punkte vorenthält. Im Übrigen schadet die Beklagte dem Ansehen der staatlichen Verwaltung, indem sie jede Verfahrenstransparenz verhindert. Die Akteneinsicht kann auch nicht mit dem Argument verwehrt werden, dass den Kläger bestimmte Teile – die von Ihnen eingereicht wurden – bereits bekannt sind, wenn sich Akteneinsichtsgesuch nicht ausdrücklich hierauf beschränkt. Der Bürger muss die Möglichkeit haben auch die Vollständigkeit der Akten und das Verfahren nach dem Eingang zu kontrollieren.

Aus dem gesamten Vorgang, wie er dem Gericht vorliegt, ist ersichtlich, dass es dem Beklagten offenbar weniger darum ging, ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren zu gewährleisten, als den Prozessbevollmächtigten der Kläger in seiner Arbeit zu behindern. Dies wird nicht nur durch die hartnäckige Verweigerung der vollständigen Akteneinsicht trotz mehrmaliger Bitten des Prozessbevollmächtigten deutlich (nachzuvollziehen aus den Anlagen zur Klageschrift vom 01.08.2011). Es zeigt sich vielmehr besonders darin, dass der Beklagte, die von ihm begangene schwere Rechtsverletzung zu einer Verletzung der gewissenhaften Berufsausübung des Prozessbevollmächtigten umzumünzen versucht, wie dies u. a. in den angefochtenen Widerspruchsbescheiden vom 06.07.2011 getan wird. Dort wird dem Bevollmächtigten eine fehlende Begründung vorgeworfen, obwohl der Beklagte eine Begründung gerade durch die unvollständige Akteneinsicht vereitelt hat. Tatsächlich war es gerade der Prozessbevollmächtigte, der sich für ein rechtsförmiges Verfahren im Interesse seiner Mandanten eingesetzt hat und sich insoweit tadellos verhalten hat. Dagegen hat der Beklagte- wohl aus sachfremden Erwägungen – mit unhaltbaren Rechtsauffassungen, nicht nur das Verwaltungsverfahren sondern auch das Gerichtsverfahren in einer Weise betrieben, die rechtsstaatlichen Ansprüchen und ordnungsgemäßem Verwaltungshandeln zutiefst widersprechen.

So hat der Beklagte auch im Gerichtsverfahren trotz mehrmaliger gerichtlicher Verfügungen keine vollständige Akteneinsicht gewährt (dazu Blatt 46 bis 54 Gerichtsakte), gleiches gilt im Übrigen für den Vortrag konkreter Tatsachen zur Sache (zuletzt blieben die Verfügungen vom 21.02.2012, 05.03.2012 und 30.03.2012 unerledigt).

c) Hat die Behörde Akteneinsicht zu Unrecht verweigert, so liegt ein Verfahrensfehler vor, der den VA anfechtbar macht, jedoch keine Nichtigkeit zur Folge hat. Gem. § 42 SGB X kommt deshalb eine Unbeachtlichkeit des Fehlers in Betracht, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 25, Rn. 13).

Vorliegend ist das Gegenteil der Fall, da sich der Beklagte gerade auf die fehlende Begründung durch den Kläger stützt, die sie durch ihr offensichtlich rechtswidriges Verhalten vereitelt hat. Insgesamt sind die Rechte des Klägers vorliegend in besonders grober und rechtsstaatlich unerträglicher Weise verletzt worden.

Deshalb ist auch eine Heilung des Verfahrensmangels durch spätere gerichtlich gewährte Akteneinsicht nicht möglich.

III.
Nach § 121 Abs. 2 ZPO war der Rechtsanwalt der Wahl des Klägers beizuordnen, da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar (§ 127 Abs. 2 ZPO); die Staatskasse hat ein Beschwerderecht gemäß § 127 Abs. 3 ZPO.