Tacheles Rechtsprechungsticker KW 15/2016

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 17.02.2016 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 17.02.2016 – B 4 AS 2/15 R

Grundsicherung nach dem SGB II – Kosten des Umgangsrechts – zusätzlicher Wohnraumbedarf

Leitsatz (Redakteur)
1. Soweit dem umgangsberechtigten Elternteil gerade wegen der Wahrnehmung des Umgangsrechts zusätzliche oder höhere Wohnkosten entstehen, stellen diese – ebenso wie andere ihm entstehende Kosten im Zusammenhang mit dem Umgangsrecht, beispielsweise Fahrtkosten, einen zusätzlichen Bedarf des umgangsberechtigten Elternteils dar.

2. Besteht wegen der Wahrnehmung des Umgangsrechts etwa ein zusätzlicher Wohnraumbedarf, kann dieser im Rahmen der konkreten Angemessenheit der Unterkunfts- und Heizaufwendungen nach § 22 Abs 1 S 1 iVm S 3 SGB II zu berücksichtigen sein.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Bundessozialgericht Urteil vom 17.2.2016 -  B 4 AS 12/15 R

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Erhöhung der Unterkunftskosten durch nicht erforderlichen Umzug – Deckelung auf bisherige Unterkunftskosten – Dynamisierung der Kappungsgrenze

Leitsatz (Redakteur)
1. Auch bei mangelnder Erforderlichkeit des Umzugs hat eine Deckelung des anzuerkennenden Bedarfs für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 S 2 SGB II in Höhe des bisherigen Bedarfs jedoch nur dann zu erfolgen, wenn für den örtlichen Vergleichsraum zutreffend ermittelte abstrakte Angemessenheitsgrenzen bestehen (so bereits Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 6/14 R).

2. Maßstab insoweit ist die Dynamisierung der nach dem schlüssigen Konzept ermittelten Angemessenheitsgrenzen.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 20.01.2016 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Bundessozialgericht Urteil vom 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsberechtigung – Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche – Unionsbürger – Anwendung des Ausschlusses bei fehlendem materiellen Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthaltsrecht nur aus humanitären Gründen ohne längerfristige Bleibeperspektive – Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer von über 6 Monaten – verfassungskonforme Auslegung

Leitsatz (Redakteur)
1. Sozialhilfeträger wird verurteilt für bulgarische Antragsteller Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen.

2. Der Anwendbarkeit des SGB XII auf die Antragstellerin steht § 21 Satz 1 SGB XII nicht entgegen.

3. Die Antragstellerin war danach nicht von Leistungen für den Lebensunterhalt ausgeschlossen, weil die

„Systemabgrenzung“ zwischen SGB II und SGB XII nicht auf das schlichte Kriterium der Erwerbsfähigkeit reduziert werden kann, sondern differenzierter ist (BSG Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

3.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 12.11.2015 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Bundessozialgericht Urteil vom 12.11.2015 – B 14 AS 6/15 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei Unterbringung in einer stationären Einrichtung – stationäre Aufnahme in eine Fachklinik für Drogentherapie nach vorhergehender Unterbringung in einer Übergangseinrichtung und Sozialhilfebezug – keine Anwendung der Rückausnahme nach § 7 Abs 4 S 3 Nr 1 SGB 2

Leitsatz (Redakteur)
1. Für den Fall, dass eine Therapie zwar prognostisch weniger als sechs Monate dauert, aber eine gleichartige, durch inhaltliche, zielgerichtete Verbundenheit gekennzeichnete Maßnahme unmittelbar zuvor stattfand, werden beide Aufenthaltszeiträume zusammengerechnet.

2. Die Rückausnahme nach § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II will nach dem Sinn und Zweck der Regelung (vgl BT-Drucks 16/1410 S 20) einen Wechsel aus dem Leistungssystem des SGB II in das des SGB XII bei einem nur absehbar kurzen Krankenhausaufenthalt vermeiden. Sie greift daher dann nicht ein, wenn im Prognosezeitpunkt zu Beginn einer Krankenhausunterbringung zwar absehbar ist, dass diese weniger als sechs Monate dauert, die betreffende Person aber schon unmittelbar zuvor in einer anderen stationären Einrichtung war und dort keine Leistungen nach dem SGB II, sondern dem SGB XII erhalten hat. Nur so wird, wie vom Gesetz beabsichtigt, ein ggf kurzfristiger Wechsel zwischen SGB II und SGB XII vermieden.

3. Die Rückausnahme nach § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II käme deshalb nach ihrem Regelungszweck auch bei einer nur absehbar kurzzeitigen Krankenhausunterbringung nicht zur Anwendung, weil sich die Frage der Vermeidung eines Wechsels aus dem Leistungssystem des SGB II nicht stellt, denn der Kläger bezog schon zuvor während seiner Unterbringung in der Übergangseinrichtung Leistungen nach dem SGB XII.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 25.02.2016 – L 7 AS 199/15

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Berücksichtigung des den Bedarf des Kindes überschießenden Kindergeldes beim Kindergeldberechtigten

Leitsatz (Redakteur)
1. Verfügt das Kind über hinreichendes Einkommen, um seinen Bedarf nach dem SGB II zu decken, scheidet es aus der Bedarfsgemeinschaft aus. Der nicht zur Bedarfsdeckung des Kindes benötigte Teil des Kindergeldes wird sodann dem Kindergeldberechtigten entsprechend den Regeln des BKGG zugerechnet und als dessen Einkommen nach den Regeln des SGB II verteilt (ständige Rechtsprechung des BSG, vergl. Urteil vom 18.06.2008 – B 14 AS 55/07 R; Urteil vom 13.05.2009 – B 4 AS 39/08 R; Urteil 07.07.2011 – B 14 KG 2/09 R).

2. Sowohl § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II als auch nunmehr § 1612b BGB ordnen – abweichend von der grundsätzlichen kindergeldrechtlichen Zuordnung – jeweils an, dass das auf das Kind entfallende Kindergeld zur Deckung des sozialrechtlichen bzw. unterhaltsrechtlichen Bedarfs des Kindes zu verwenden ist (vergl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30.04.2013 – L 6 AS 2234/12 NZB und vom 22.01.2014 – L 12 AS 888/13 NZB). Nur der überschießende Teil kommt den Eltern zugute, was insoweit zu einer Reduzierung ihres Bedarfs an Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II führt.

3. Die Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II auf die Leistungen nach dem SGB II ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG wird durch die Anrechnung des Kindergeldes nicht verletzt.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
ebenso LSG NRW, Urteil vom 24.02.2014 – L 19 AS 2286/13

4.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 17.02.2016 – L 25 AS 2488/12

Anrechnung von Zinsen und Kapitalerträgen – Buchungsdatum – Tag der Wertstellung

Leitsatz (Juris)
Der Zufluss von Zins- und Kapitalerträgen erfolgt am Tag der Wertstellung. Das Buchungsdatum belegt lediglich den Zeitpunkt der technischen Bearbeitung, nicht hingegen den Zeitpunkt der rechtlichen Verfügungsmöglichkeit des Leistungsberechtigten.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

4.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 17.03.2016 – L 9 AS 1580/15 B ER

Erwerbsfähige Unionsbürger, Hilfe zum Lebensunterhalt, Leistungsausschluss SGB II, Leistungsausschluss SGB XII, Europäisches Fürsorgeabkommen Italienische Staatsangehörige haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Grundsätzlich keine Sozialhilfe für erwerbsfähige Unionsbürger.

Leitsatz (Juris)
1. Erwerbsfähige Unionsbürger, die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, haben keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (§ 21 Satz 1, § 23 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 SGB XII).

2. Der Ausschluss erwerbsfähiger Unionsbürger von den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt des SGB XII (§ 21 Satz 1 SGB XII) stellt keinen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Europäischen Fürsorgeabkommens dar.

3. Der Ausschluss erwerbsfähiger Unionsbürger von laufenden Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ist nicht verfassungswidrig.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Der Senat hat bereits entschieden, dass er der Rechtsprechung der für das Grundsicherungsrecht für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG, die im Dezember 2015 und Januar 2016 in mehreren Entscheidungen zu Ansprüchen von EU-Ausländern gegen die Träger der Sozialhilfe auf Leistungen gelangt sind (Urt. v. 3. Dezember 2015 – B 4 AS 44/15 R und vom 16. Dezember 2015 – B 14 AS 15/14 R und B 14 AS 18/14 R; Urt. v. 20. Januar 2016 – B 14 AS 35/15 R), in dieser Form nicht folgen wird (Senatsbeschl. v. 22. Februar 2016 – L 9 AS 1335/15 B ER, juris Rn 52, Rn 56). Einer Anwendung des Dritten Kapitels des SGB XII steht allgemein § 21 Satz 1 SGB XII entgegen.

4.4 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil v. 07.03.2016 – L 1 AS 296/15

Leitsatz (Juris)
1. Eine unzulässige Wesensänderung eines Verwaltungsaktes liegt nicht vor, wenn das Jobcenter nach Durchführung von Ermittlungen die Aufhebung einer Leistungsbewilligung nicht mehr auf § 36 SGB II, sondern auf die fehlende Hilfebedürftigkeit stützt.

2. Im Rahmen von § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist eine Beweislastumkehr gerechtfertigt, wenn nach Ermittlungen des Jobcenters und der Gerichte Umstände unaufgeklärt bleiben (hier bezogen auf die Hilfebedürftigkeit), die der persönlichen Sphäre des Klägers zuzuordnen sind.

3. Ein vorläufiger Bewilligungsbescheid nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III kann – wenn er von Anfang an rechtswidrig war – nach § 45 SGB X zurückgenommen werden.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

4.5 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.02.2016 – L 4 AS 772/15 NZB – rechtskräftig

Zur Anrechnung von Betriebskostenguthaben nach § 22 Abs 3 SGB II

Zur Frage, ob eine Anrechnung von Guthaben nicht zu erfolgen ist, wenn diese aus Regelleistungszahlungen entstanden sind.

Betriebskostenrückzahlungen und -guthaben mindern den anzuerkennenden Bedarf für Unterkunft und Heizung bei abgesenkten Leistungen für Unterkunft und Heizung nur anteilig.

Leitsatz (Juris)
Der Zulassungsgrund des § 144 Abs 2 Nr 1 SGG ist nicht gegeben, wenn die Rechtslage aufgrund umfangreicher Rechtsprechung des BSG als geklärt anzusehen ist. Das Urteil des BSG vom 23. August 2011 (B 14 AS 185/10 R) über die Abrechnung von Stromkostenvorauszahlungen steht hierzu nicht im Widerspruch, weil es den Regelbedarf und nicht die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) betrifft.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
a. A. LSG NSB, Urteil vom 23.09.2015 – L 13 AS 164/14 – anhängig beim BSG, Az.: B 14 AS 56/15 R; SG Berlin, Urteil vom 19.10.2015- S 27 AS 2022/14; offen gelassen LSG Berlin, Beschluss v. 25.10.2013 – L 25 AS 1711/13 B PKH

4.6 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 23.02.2016 – L 4 AS 33/16 B ER – rechtskräftig

Leitsatz (Juris)
1. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 12a SGB II.

2. Ein Anhörungsmangel, der einen belastenden Bescheid formell rechtswidrig macht, wirkt sich im Fall der Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren in einem sich ggf anschließenden Klageverfahren nicht mehr aus (vgl BSG, Urteil vom 25. Januar 1979, 3 RK 35/77, SozR 1200 § 34 Nr. 7). Er ist dann unbeachtlich; der Bescheid ist dann so anzusehen, als sei er von Anfang an mangelfrei gewesen (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X).

3. Solange jedoch über den Widerspruch noch nicht entschieden worden ist, kann sich der Betroffene auf die formelle Rechtswidrigkeit aufgrund der fehlenden Anhörung berufen. Mit Zugang des Widerspruchsbescheides fällt dieser Einwand weg (vgl LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Juni 2015, L 4 AS 237/15 B ER, juris).

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

4.7 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil v. 26.08.2015 – L 4 AS 81/14 – rechtskräftig

Grundsicherung für Arbeitsuchende – endgültige Entscheidung nach Gewährung vorläufiger Leistungen – keine Erstattung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge

Leitsatz (Juris)
1. Erfolgt eine Leistungsbewilligung nach dem ausdrücklichen Hinweis des SGB II-Leistungsträgers in dem Bescheid auf der Grundlage von § 40 Abs 1 Nr 1a SGB II iVm § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III vorläufig, bezieht sich diese Regelung im Verfügungssatz auf den gesamten Bewilligungsbescheid (Regelleistung und KdU), auch wenn in der Begründung zur Vorläufigkeit nur auf erforderliche weitere Ermittlungen zu den KdU verwiesen wird.

2. Eine nur teilweise Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung kommt dann nur ausnahmsweise nach Auslegung in Betracht, wenn sich aus der Begründung des Bescheids für die Beteiligten eindeutig erkennbar ergibt, dass abweichend von der Formulierung im Verfügungssatz über einen Teil des Anspruchs bereits abschließend entschieden werden sollte.

3. Bei der Auslegung des Verfügungssatzes ist auf die Begründung des Verwaltungsaktes, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte, auf allgemein zugängliche Unterlagen oder auf Schriftverkehr zwischen den Beteiligten zurückzugreifen (vgl BSG, Urt v 28. März 2013, B 4 AS 59/12 R, juris; BSG, Urt v 29. November 2012, B 14 AS 6/12 R, juris). Einer im Zusammenhang mit der vorläufigen Bewilligung versandten Aufforderung zur Angabe von Vermögen (Vorlage der ausgefüllten Anlage VM) kommt insoweit wesentliche Bedeutung zu.

4. Bei einer vorläufigen Leistungsgewährung nach § 328 Abs 1 SGB III kommt eine Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nach § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1a SGB II aF iVm § 328 Abs 3 Satz 2 SGB III nicht in Betracht, da nach dem Wortlaut des Gesetzes nur die erbrachten „Geldleistungen“ iSv § 328 Abs 1 Satz 1 SGB III zu erstatten sind (vgl LSG Sachsen, Urt v 22. Mai 2014, L 3 AS 600/12, juris, LSG Sachsen-Anhalt, B v 28. März 2012, L 2 AS 24/12 B, juris RN 18). Geldleistungen sind SGB II-Barleistungen an den Berechtigten, ggf auch an Dritte. Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sind keine Geldleistungen und fallen deshalb nicht unter § 328 SGB III.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

5.1 – Sozialgericht Augsburg, Beschluss v. 30.03.2016 – S 8 AS 312/16 ER

Leitsatz (Juris)
Keine vorläufige Leistungseinstellung bei offener Bedürftigkeitsprüfung.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

S.a. dazu Beitrag von RA Mathias Klose, Regensburg:
Keine vorläufige Leistungseinstellung im SGB II bei offener Bedürftigkeitsprüfung: sozialrecht-aktuell.blogspot.de

5.2 – Sozialgericht Neuruppin, Urteil v. 18.02.2016 – S 18 AS 882/15 – Berufung zugelassen

Zur Frage, ob die Richtsatzsammlung des BMF im Rahmen der Einkommensberechnung bei selbständiger Arbeit herangezogen werden kann und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen

Keine – pauschale – Anwendung der Werte der Richtsatzsammlung des BMF.

Die Richtsammlung des BMF kann ggf. in den Fällen herangezogen werden, in denen eine ordnungsgemäße Buchführung nicht vorliegt. In diesen Fällen kann es sinnvoll sein, Schätzungen anhand der Werte der Richtsatzsammlung zuzulassen.

Macht der Leistungsträger dem Leistungsberechtigten „Vorgaben“ darüber, in welchem Umfang und in welcher Höhe der Betriebsausgaben anerkennt, muss dies nachvollziehbar begründet und durch Erfahrungswerte/Ermittlungen belegt sein. Pauschale Vorgaben, die dem Einzelfall des Leistungsberechtigten nicht gerecht werden, sind daher unzulässig.

Ist dem Leistungsträger eine solche Begründung nicht möglich oder hat er den Leistungsberechtigten nicht ausreichend belehrt, hat er dessen unternehmerische Entscheidungen für abgelaufene Bewilligungszeiträume zu respektieren, auch wenn er diese nicht nachvollziehen kann oder gar für wirtschaftlich unsinnig hält.

Den Leistungsträgern steht bei der Frage, ob Betriebsausgaben notwendig sind, kein Beurteilungsspielraum zu.

Die Entscheidung ist im Falle einer Klage von den Gerichten in vollem Umfang zu überprüfen.

Leitsatz (Redakteur)
1. Die Werte der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen können nicht herangezogen werden, um Betriebsausgaben zu kürzen, sofern eine ordnungsgemäße Buchführung des Leistungsberechtigten vorliegt.

2. Denn die – pauschale – Anwendung der Werte der Richtsatzsammlung führt im Ergebnis dazu, dass beim Leistungsberechtigten Einnahmen berücksichtigt werden, die dieser tatsächlich nicht erwirtschaftet hat (sog. fiktive Einnahmen). Dies widerspricht dem Faktizitätsprinzip, welches eines der zentralen Grundsätze des SGB II ist (vgl. BSG, Urteil v. 19.03.2008 – B 11b AS 33/06 R).

3. Die Prüfung, ob Betriebsausgaben notwendig sind, ist anhand des konkreten Einzelfalls vorzunehmen.

5.3 – SG Speyer, Urteil v. 20.03.2016 – S 5 AS 493/14

Kein Anspruch auf Sozialhilfe für erwerbsfähige Unionsbürger (irische)

Leitsatz (Redakteur)
Erwerbsfähige Unionsbürger, die aufgrund eines gesetzlichen Ausschlusses keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) erhalten können, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben, haben auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe (abweichend von der Rechtsprechung des BSG).

Einer Vorlage an das BVerfG bedürfe es nicht.

Quelle: Pressemitteilung des SG Speyer 3/2016 v. 04.04.2016: www2.mjv.rlp.de

5.4 – Sozialgericht Altenburg, Gerichtsbescheid v. 05.01.2016 – S 31 AS 1035/14 – rechtskräftig

Leitsatz (Juris)
Sofern ein wirksamer Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Vollstreckungsgerichts gemäß § 850 f Abs. 2 ZPO,

§ 54 Abs. 4 SGB I vorliegt, ist dem Leistungsträger als Drittschuldner gemäß § 829 Abs. 1 S. 1 ZPO verboten, an den Leistungsberechtigten Zahlungen zu leisten, die den im Pfändungs- und Überweisungsbeschluss benannten maximal dem Schuldner verbleibenden Betrag übersteigen.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

6.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

6.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 18.02.2016 – L 9 SO 145/14

Zur Voraussetzung der Anerkennung von Unterkunftskosten bei Mietverhältnis unter nahen Angehörigen (hier ablehnend)

Keine Übernahme der Unterkunftskosten durch den Sozialhilfeträger für die behinderte volljährige Antragstellerin, denn einer ernsthaften Mietforderung ihrer Eltern war sie nicht ausgesetzt, obwohl sie – offenbar aus der ihr gewährten Regelleistung – tatsächlich Zahlungen mit dem ausweislich der aktenkundigen Kontoauszüge benannten Bestimmungszwecken „Miete“ und „Heizung“ erbracht hat.

Leitsatz (Redakteur)
1. Kosten für Unterkunft und Heizung sind nicht nur dann zu übernehmen, wenn ein wirksamer zivilrechtlicher Vertrag vorliegt, sondern es genügen lassen, wenn sich ein volljähriger Leistungsberechtigter und seine Eltern über eine Kostenbeteiligung faktisch einig waren. Jedoch kann auch eine „faktische“ Einigung nur dann einen anerkennungsfähigen Bedarf begründen, wenn diese Einigung ernst gemeint und nicht nur deshalb erfolgt war, um gegen den Sozialhilfeträger einen Anspruch nach § 35 SGB XII zu begründen.

2. Nichts Anderes kann auch für den Fall eines zivilrechtlich wirksamen Mietvertrages gelten.

3. Ob und in welchem Umfang einem erwachsenen Kind, das mit seinen Eltern zusammenlebt, tatsächliche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung entstehen, hängt deshalb weiterhin davon ab, ob es einer ernsthaften Mietzinsforderung seiner Eltern ausgesetzt ist, d.h. entweder ein wirksamer Mietvertrag abgeschlossen oder zumindest eine faktische Einigung über eine entsprechende Kostenbeteiligung erzielt worden ist und der Mietvertrag oder die faktische Einigung von Seiten des Vermieters auch tatsächlich vollzogen werden soll (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.06.2011 – L 9 SO 16/10; Senat, Urt. v. 19.03.2015 – L 9 SO 309/14). Ob insbesondere Letzteres der Fall ist, obliegt allein der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall (so BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 8 SO 10/14 R).

4. Dass Eltern von ihren volljährigen Kindern, unabhängig davon ob sie behindert oder nichtbehindert sind, ernsthaft Miete verlangen, solange sie ihrem noch jungen Alter entsprechend – die Klägerin ist 1993 geboren – typischerweise noch über kein oder nur geringfügiges Einkommen verfügen, welches sie in die Lage versetzt, sich an den Unterkunftskosten zu beteiligen, ist absolut unüblich.

5. Dies gilt erst recht, wenn die Eltern – wie hier – über ein Eigenheim verfügen und die laufenden Kosten mit ihren Mitteln decken können.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

6.2 – Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil v. 10.02.2016 – L 9 SO 59/13

Leitsatz (Juris)
Kein Anspruch auf Kostenübernahme nachdem SGB XII für heilpädagogisches Reiten, wenn es sich um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation handelt.

Quelle: https://sozialgerichtsbarkeit.de

7.   Grundsicherung: L.E.O. (Linke Erwerbslosenorganisation) Köln zu den Unterkunftskosten in Köln, da Köln kein schlüssiges Konzept besitzt

Nach der 7. Kammer des SG Köln, Urt. v. 10.02.2015 – S 7 AS 2502/13 – rechtskräftig – dejure.org/2015,7813 – verfügt die Stadt Köln (Jobcenter und Sozialamt) über kein schlüssiges Konzept, das den Anforderungen des Bundessozialgerichts genügt.

Aus diesem Grunde muss entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2012 – B 4 AS 44/12 R – dejure.org/2012,44676) auf die derzeitigen Tabellenwerte nach § 12 WoGG als Obergrenze der Kosten der Unterkunft zurückgegriffen werden. Dabei ist ein Sicherheitszuschlag von 10% zu berücksichtigen.

Weiter: leo-koeln.org

8.   SGb 4/2016 – Editorial – Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein zur Grundsicherung für Unionsbürger

Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser,
die Grundsicherung für Unionsbürger gleicht dem gordischen Knoten. Seine Fäden bestehen aus dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht, dem Diskriminierungsverbot sowie seinen sekundärrechtlichen Konkretisierungen in der Unionsbürgerrichtlinie und der Koordinierungsverordnung, zugleich aus dem deutschen Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger und dem Aufenthaltsrecht und dem SGB II. Je nach Konstellation webt sich mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen auch noch ein völkerrechtlicher Faden mit ein.

Weiter: www.diesozialgerichtsbarkeit.de

Die Prof. Dr. Anne Lenze, Bensheim schrieb in der NJW 8/2016, 555 in ihrer Anmerkung zu EuGH (Große Kammer),

Urteil vom 15.9.2015 – C-67/14 (Jobcenter Berlin Neukölln/Nazifa Alimanovic ua):
(…)
Dieses Urteil kann als ein Entgegenkommen gegenüber Großbritannien gewertet werden, wo sich der weitere Verbleib in der EU an der Frage der Sozialleistungen für EU-Ausländer entzündet hat. Es dürfte auch in Deutschland begrüßt werden, denn es erlaubt eine einfache Handhabung dieser Fälle durch Jobcenter und Sozialgerichte, weil erst eine über einjährige Beschäftigung für den unbegrenzten Bezug von Grundsicherungsleistungen qualifiziert. Fraglich ist nur, inwieweit diese Rechtsprechung durch die beiden SGB-Il-Senate des BSG konterkariert wird, die – wohl als (Ausweich)Reaktion auf die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Dano und Alimanovic dazu übergegangen sind, in einer Reihe von Verfahren aus dem Grundgesetz selbst einen Anspruch auf Sozialleistungen für EU-Ausländer abzuleiten. Sie halten es bei einem tatsächlichen Aufenthalt von EU-Bürgern in Deutschland für möglich, dass nach den Umständen des Einzelfalls Sozialhilfe nach § 23 I 3 SGB XII zugesprochen werden kann (BSG, Beschl. v. 15.1.2015 – B 14 AS 33/14 B; 14 AS 15/14 R; B 14 AS 18/14 R; B 14 AS 15/15; B 14 AS 35/15 R; bisher liegt nur die Pressemitteilung vor). Bis zur Vorlage der schriftlichen Entscheidungsgründe bleibt abzuwarten, wie das BSG den Widerspruch aufzulösen gedenkt, dass EU-Bürger, die lediglich nicht ausgewiesen werden dürfen, weil sie sich glaubhaft weiter um Arbeit bemühen (Art. 14 IV Buchst. b RL 2004/38), Leistungen nach einem Hilfesystem für Erwerbsunfähige und Erwerbsgeminderte zugesprochen werden kann. Absehbar ist auch, dass in dieser Frage der bundesdeutsche Gesetzgeber erneut tätig werden wird, weil sich das BSG im Rahmen einer unzulässigen Rechtsfortbildung über den klaren Willen des Gesetzgebers in § 7 I 2 Nr. 2 SGB II hinweggesetzt hat und durch den Rückgriff auf das SGB XII außerdem in die föderale Finanzierungsverantwortung für die Grundsicherung nach § 46 SGB II eingegriffen hat.

9.   Gerichte geben vielen Klägern recht Jede dritte Hartz-IV-Sanktion scheitert

Wenn das Amt vom Hartz-IV-Geld einen Teil einbehält, kann es finanziell eng werden. Langzeitarbeitslose haben dann die Möglichkeit Einspruch gegen die Kürzung einzulegen. In dem Fall sind die Chancen auf einen Erfolg sogar ausgesprochen gut.

Weiter: www.n-tv.de

10.  Zu wenig Geld, zu viel Bürokratie

Seit fünf Jahren gibt es das Bildungs- und Teilhabepaket für arme Kinder. Wohlfahrtsverbände halten das Programm für gescheitert – aus vielerlei Gründen.

Weiter: www.sueddeutsche.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de