Tacheles Rechtsprechungsticker KW 23/2017

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 24.02.2017 – L 11 AS 698/15

Grundsätzlich habe Leistungsbezieher zwar Anspruch auf Erstattung von Reisekosten zu Meldeterminen iSd § 59 SGB II i.V.m. § 309 SGB III, auch wenn es sich um eine Ermessensleistung handle. Erstattungsfähig seien jedoch nur die tatsächlich nachgewiesenen Kosten (hier ablehnend wegen fehlendem Nachweis)

Jobcenter müssen Kosten für Meldetermine nur gegen Vorlage von Nachweisen zu erstatten.

Leitsatz (Redakteur)
Trotz der Kenntnis, dass die angefallenen Reisekosten nachzuweisen seien, habe die Klägerin keine Belege für ihren Kostenaufwand erbracht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.07.2014 – L 7 AS 587/13 NZB – Fahrtkosten zum Meldetermin können vom Jobcenter im Rahmen einer Ermessensentscheidung erstattet bzw. vorgestreckt werden. Bei Mittellosigkeit des Leistungsberechtigten ist dabei das Ermessen auf Null reduziert.

1.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 15. Senat, Beschluss vom 26.05.2017, L 15 AS 62/17 B ER

Leitsatz (Juris)
1. Zum Anspruch auf SGB II-Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, wenn die zuständige Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeitsberechtigung festgestellt hat. Auch wenn gegen den Bescheid der Ausländerbehörde Widerspruch eingelegt worden ist und damit eine Durchsetzung der Ausreisepflicht nicht erfolgen kann, begründet allein die bloße Verlustfeststellung eine Ausreisepflicht.

2. Dass nach § 41 Abs. 7 SGB II dem Leistungsträger eingeräumte Auswahl- und Entschließungsermessen ist nicht allein aufgrund des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II stets „auf Null“ reduziert.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Rechtstipp:
Ebenso: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 24.03.2017 – L 5 AS 449/17 B ER; a. A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. Februar 2017 – L 8 SO 344/16 B ER – aus einer etwaig drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Ausschluss von unterhaltssichernden Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII folgt eine Ermessensreduzierung auf Null

1.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 13. Senat, Urteil vom 19.05.2017 – L 13 AS 224/16 – Die Revision wird zugelassen.

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung- Angemessenheitsprüfung bei gemeinsamem Haushalt von Eltern und unter 25jährigen Kindern

Zur Frage, ob bei einem Entfallen der Voraussetzungen für die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft eines Elternteils mit einem minderjährigen Kind nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II aufgrund übersteigenden Einkommens des Kindes bei der Ermittlung der Angemessenheitsgrenze für die Bedarfe für Unterkunft auf einen Ein- oder einen Zwei-Personen-Haushalt abzustellen ist.

Leitsatz (Juris)
Bei einem Zusammenleben von Eltern mit unter 25jährigen, unverheirateten Kindern in einem Haushalt ist bei der Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II auch dann auf diese Personenmehrheit abzustellen, wenn die Kinder ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen oder Vermögen sicherstellen können.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Anmerkung Harald Thomé:
Mit dieser Entscheidung stellt sich das LSG eindeutig gegen die BSG Rechtsprechung. Das BSG sagt in gefestigter Rechtsprechung:
„Abzustellen ist bei der Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten nicht auf die Zahl der Familienmitglieder, die eine Wohnung gemeinsam nutzen, sondern allein auf die Zahl der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Frage der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft stets nur im Hinblick auf den Hilfebedürftigen nach dem SGB II und den mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen beantwortet werden kann“ (BSG v. 18.06 2008 – B 14/11b AS61/06 R, Rdnr. 22; BSG v. 18.02.2010 – B 14 AS 73/08 R, Rdnr. 23); SG Kiel v. 11.08.2016 – S 43 AS 185/16 ER, SG Kiel v. 30.11.2016 – S 39 AS 289/16 ER u. SG Kiel v. 30.01.2017 – S 38 AS 1728/14). 

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Detmold, Urt. v. 27.04.2017 – S 18 AS 1197/15

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Vorläufige Bewilligung – Erstattungsanspruch nach abschließender Entscheidung – keine analoge Anwendung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10

Eine Frist für die Geltendmachung der Erstattungsforderung nach einer endgültigen Festsetzung gibt das Gesetz in § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III nicht vor

Leitsatz (Redakteur)
Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ist auf die endgültige Festsetzung und Erstattung nach § 328 Abs. 3 SGB III entsprechend – nicht – anzuwenden (a, A. SG Neubrandenburg, Urteil vom 12. November 2015, S 14 AS 969/15).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – SG Chemnitz, Urteil vom 25.04.2017 – S 35 AS 4409/16

SG Chemnitz: Arbeitslosengeld, Aufwandsentschädigung, Betriebskostenguthaben, Erwerbseinkommen, Grundfreibetrag, Dienstaufsichtsbeschwerde

Leitsatz (beck-online)
Wird neben einem nach § 11b Abs. 2 S. 3 SGB II privilegierten Einkommen ein weiteres Nichterwerbseinkommen erzielt, sind beide Einkommen gesondert zu bereinigen, sodass von dem Nichterwerbseinkommen die Versicherungspauschale auch dann abzusetzen ist, wenn das privilegierte Einkommen bereits um den Grundfreibetrag bereinigt wurde.

Rechtstipp: a. A. SG Chemnitz, 23.05.2013 – S 2 AS 4947/12 –

2.3 – SG Hildesheim, Urteil v. 10.05.2017 – S 39 AS 187/16

Leitsatz (Redakteur)
Das Gutachten der Firma „Analyse und Konzepte“ entspricht nicht den Anforderungen des Bundessozialgerichts an das so genannte „schlüssige Konzept“ – Vergleichsraum

Hinweis Gericht
Der Vergleichsraum bestehend aus der Stadt Göttingen und den Gemeinden Bovenden und Rosdorf ist hingegen fehlerhaft gebildet worden.

Um prüfen zu können, welche Aufwendungen für eine Wohnung des „einfachen Standards“ abstrakt angemessener Größe im unteren Segment des Wohnungsmarktes zu zahlen ist, muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der maßgebliche Vergleichsraum festgestellt werden, innerhalb dessen das Mietpreisniveau ermittelt wird (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird der Vergleichsraums grundsätzlich aus dem Wohnort des Hilfebedürftigen gebildet (vgl. BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 10/06 R, BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 18/06 R), wobei jedoch nicht unbedingt eine Orientierung am kommunalverfassungsrechtlichen Begriff der „Gemeinde“ zu erfolgen hat (vgl. BSG, aaO): Vielmehr kann die Bildung größerer Räume insbesondere in ländlichen Bereichen geboten sein, während in größeren Städten eine Unterteilung in mehrere kleinere Einheiten erfolgen kann, wobei bei Städten ab einer Größenordnung von 75.000 Einwohner (vgl. BSG, aaO) das Stadtgebiet selbst den Vergleichsraum bilden kann. Hierbei sind nicht bloß Stadtteile, sondern ausreichend große Räume der Wohnbebauung zu definieren, die aufgrund ihrer Nähe zueinander, ihrer Infrastruktur und insbesondere ihrer verkehrstechnischen Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bilden (vgl. BSG, aaO).

Für das Gebiet der Stadt Göttingen und die Gemeinden Bovenden und Rosdorf ist feststellbar, dass diese weder aufgrund einer vergleichbaren Infrastruktur, noch ihrer verkehrstechnischen Verbundenheit, noch aus sonstigen Gründen einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bilden.

Die Infrastruktur der Stadt Göttingen und die Infrastruktur der Gemeinden Bovenden und Rosdorf sind nicht vergleichbar.

Die 39. Kammer schließt sich den Ausführungen der 26. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim in dessen Urteil vom 05. April 2017 (Az. S 26 AS 504/15) an und macht sich diese zu Eigen. Darin heißt es:

„Das Konzept des Beklagten erfüllt in wesentlichen Punkten nicht die Mindestanforderungen an ein schlüssiges Konzept. Der aufgrund der Untersuchung des Angebots und Bestandsmieten vorgenommenen Mietdatenerhebung liegt keine nachvollziehbare Definition des Gegenstandes der Beobachtung zugrunde, die Repräsentativität des Umfangs und der Kappungsgrenze sind nicht nachzuvollziehen, so dass nicht abschließend beurteilt werden kann, dass tatsächlich die zutreffenden Kosten für Wohnraum einfachen Standards abgebildet werden.

Für einen Ein-Personen-Haushalt in Göttingen (Mietstufe IV) belaufen sich die maximal übernahmefähigen Werte auf 477,40 EUR (434,00 EUR zuzüglich eines 10-prozentigen Aufschlages).

Quelle: Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen: www.anwaltskanzlei-adam.de

Hinweis: Damit ist das KdU-Gutachten für die Optionskommune Landkreis Göttingen bisher für rechtswidrig ausgeurteilt durch:

LSG Celle, Az.: L 11 AS 953/16 B ER
(bzgl. Stadt Göttingen:) S 26 AS 1597/14, S 26 AS 1698/14, S 26 AS 1699/14, S 26 AS 1804/14, S 26 AS 602/16, S 26 AS 668/16, S 26 AS 1549/16 und (bzgl. Stadt Hann. Münden:) S 26 AS 220/16, S 26 AS 306/16, S 26 AS 307/16, S 26 AS 315/16.

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Arbeitsförderung (SGB III)

3.1 – SG Bayreuth, Urteil vom 29.03.2017 – S 10 AL 107/16

Leitsatz (Juris)
1. „Eine Sperrzeit nach § 159 SGB III tritt ua ein, wenn ein Arbeitnehmer sich nicht innerhalb von 3 Tagen ab Kenntnis des Beendigungszeitpunktes seines Arbeitsrechtsverhältnisses bei der Beklagten persönlich arbeitsuchend gemeldet hat (§ 38 Abs. 1 Satz 2 SGB III).

2. Unkenntnis dieser 3-Tages-Frist ist dann kein wichtiger Grund für die Nichteinhaltung dieser Frist, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschreiben ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, sich zur Vermeidung von Nachteilen „unverzüglich“ bei der Beklagten arbeitsuchend zu melden. „Unverzüglich“ bedeutet in der deutschen Sprache, die auch Behörden und Gerichtssprache ist, „umgehend“, „ohne Zeitverzug“, „sofort“ (Duden). Meldet sich der Arbeitnehmer „unverzüglich“ in diesem Sinne arbeitsuchend, ist die 3-Tages-Frist fraglos eingehalten.

3. Sucht der nicht juristisch gebildete Arbeitnehmer auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit unter dem Stichwort „Arbeitslosmeldung“ statt „Arbeitsuchendmeldung“, gehen die demzufolge nicht passenden Ergebnisse zu seinen Lasten.“

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 23.05.2017 – L 9 SO 191/17 B ER – rechtskräftig

Keine Versagung der Sozialhilfe wegen Kopie der neuen Kontokarte.
Allein ein Kontowechsel berechtigt das Sozialamt nicht zu faktischen Einstellung bewilligter Leistungen der Grundsicherung, wenn nicht die Voraussetzungen der §§ 60 ff. SGB I vorliegen und verfahrensfehlerfrei umgesetzt werden.

Leitsatz (Redakteur)
1. Eine ausschließlich in der Sphäre des Sozialhilfeträgers liegende Problematik, dass ein früherer Sachbearbeiter des Duisburger Sozialamtes unter erheblicher krimineller Energie zahlreiche Sozialhilfezahlungen auf eigene Konten überwiesen habe und die Vorgesetzten nun gehalten seien, im Rahmen des Vieraugenprinzips alle Kontendaten bei der Zahlbarmachung von Sozialhilfe zu überprüfen Mitwirkungspflichten von Leistungsberechtigten zu statuieren, kann nicht dazu führen, dass existenzsichernden Leistungen zur Folge entzogen werden.

2. Insoweit dürfte wohl nur eine Optimierung der internen Verwaltungsabläufe ohne rechtliche Sanktionierung der Leistungsberechtigten in Betracht kommen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

5.1 – LG Berlin v. 10.01.2017 – Az.: 67 S 408/16

Übernahme von Mietschulden „nach aktuellem Stand“: Keine ausreichende Verpflichtungserklärung des Jobcenters

Das LG Berlin hat entschieden, dass die Erklärung des Jobcenters, nicht näher bezeichnete Mietschulden des Mieters „nach aktuellem Stand“ zu übernehmen, keine ausreichende Verpflichtungserklärung einer öffentlichen Stelle ist, die die Kündigung des Mietverhältnisses unwirksam macht.
Weiter: www.juris.de

Dürfen Jobcenter die Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge verlangen? Ein Beitrag von Justiziar datenschutz nord, Bremen
Es darf geschwärzt werden.
Weiter: www.datenschutz-notizen.de

Jobcenter schickt Arbeitslose in Sexshop – erlaubt?
Die Bundesregierung hat es entschieden: Arbeitslose müssen nicht in der Erotikbranche arbeiten.
Quelle: www.berliner-kurier.de

AG München: Wertloses Altglas – „Pfandflaschenfischen“ aus Altglascontainer bleibt straffrei
Mit Beschluss vom 29.03.2017 lehnte der zuständige Richter am Amtsgericht München den von der Staatsanwaltschaft beantragten Erlass von zwei Strafbefehlen gegen zwei Altflaschensammler wegen Diebstahls ab.
Quelle: www.justiz.bayern.de

SG Heilbronn: Kassenpfändung beim Jobcenter der Stadt Heilbronn?
Kurzbeschreibung: Kurioser Streit um Taschenpfändung beim Jobcenter Stadt Heilbronn!
Quelle: www.sg-heilbronn.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de