Tacheles Rechtsprechungsticker KW 35/2020

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – Bundessozialgericht, Urteil vom 30. April 2020 (B 8 SO 12/18 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Für die Anwendung der aus § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII hervorgehenden Härtefallbestimmung ist die Herkunft des Vermögens grundsätzlich unerheblich.

Eine Ausnahme ist hier dann vertretbar, wenn das Vermögen aus einem privilegierten Einkommen gebildet wurde. In diesem Fall dient dieses Vermögen dem gleichen Zweck wie die fortlaufend bewilligte Zahlung. Die zu einem Vermögen gewordene Beschädigtenrente nach § 1 OEG in Verbindung mit § 31 BVG verliert durch diese Ansparung nicht ihre ursprüngliche Funktion. Auch als Vermögen kann diese Rente (noch) die gleichen Zwecke erfüllen, denen die monatlich bewilligte Grundrente dient. Diese Geldleistung ist wesentlich vom Motiv des Ausgleichs eines vom Einzelnen erbrachten gesundheitlichen Sonderopfers geprägt.

Die gemäß § 1 OEG in Verbindung mit § 31 BVG bewilligte Grundrente hat den leistungsberechtigten Personen die Mehraufwendungen zu ersetzen, die ein solchermaßen gesundheitlich beeinträchtigter Mensch ohne die von ihm erlittene Schädigung nicht hätte, soll aber weder zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts noch zur Begründung eines Sparvermögens verwendet werden.

Die Privilegierung nach § 25f Abs. 1 Satz 5 BVG, der zufolge für Bezieher einer entsprechenden Grundrente das aus einer Nachzahlung gebildete Vermögen nach Ablauf von einem Jahr nach dem Kapitalzufluss unberücksichtigt bleibt, ist auch im Leistungsbereich der Sozialhilfe im Rahmen der Anwendung der Härtefallvorschrift des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XÍI angemessen zu berücksichtigen.

§ 25f Abs. 1 Satz 5 BVG soll den Beziehern einer Grundrente typisierend die Möglichkeit eröffnen, sich einen höheren Lebensstandard zu verschaffen, als dies mit Mitteln der Sozialhilfe realisierbar ist. Dies gilt gerade bei Kindern und Jugendlichen, die besondere Ansparungen für eine spätere, angemessene Lebensführung oder zur Finanzierung späterer schädigungsbedingter Mehraufwendungen tätigen.

Hinweis: 
BSG: Vermögen aus Opferrente kann besonders geschützt sein

Volltext: www.bsg.bund.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Urt. v. 19.04.2018 – L 7 AS 773/15

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Zweipersonenhaushalt in Günzburg in Bayern – Angemessenheitsprüfung – Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts des Grundsicherungsträgers – keine ausreichende Repräsentativität und Aktualität der Datenerhebung – Vergleichsraumbildung

Fehlendes schlüssiges Konzept wegen mangelhafter Datenbasis

Leitsatz (Juris)
Beruht die vom Grundsicherungsträger gewählte Datengrundlage nicht auf einem schlüssigen Konzept, das eine hinreichende Gewähr dafür bietet, die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Mietwohnungsmarktes wiederzugeben, und scheidet eine Nachbesserung des Konzepts aus, ist ein Rückgriff auf die Tabellenwerte zu § 12 Wohngeldgesetz zulässig. (Rn. 32 – 41) (redaktioneller Leitsatz)

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.07.2020 – L 37 SF 133/20 EK AS WA

Leitsatz (Juris)
1. Die in § 198 Abs. 2 GVG normierte Vermutung des Eintritts eines Nachteils, der nicht Vermögensnachteil ist, wenn ein Verfahren unangemessen lange gedauert hat, ist als widerlegt anzusehen, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, namentlich des Gegenstands des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens sowie des Vorgehens der Beteiligten in diesem Verfahren nicht zu erkennen ist, dass der spätere Entschädigungskläger in irgendeiner Form einer seelischen Unbill ausgesetzt gewesen sein könnte.

2. Eine Verzögerungsrüge ist i.d.R. als verspätet erhoben und damit bedeutungslos anzusehen, wenn sie erst zu einem Zeitpunkt bei Gericht eingeht, zu dem dieses bereits die Ladungen zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung bzw. entsprechende Terminsmitteilungen abgesandt hat.

3. Die Erhebung einer Verzögerungsrüge kann sich im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich und damit bedeutungslos erweisen.

4. Individueller Rechtsmissbrauch wird angenommen, wenn der Berechtigte kein schutzwürdiges Eigeninteresse verfolgt oder überwiegende schutzwürdige Interessen der Gegenpartei entgegenstehen und die Rechtsausübung im Einzelfall zu einem grob unbilligen und mit der Gerechtigkeit nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen würde. Dabei orientiert sich der Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs am Schutzbereich der Norm. Ein Missbrauchseinwand kommt in erster Linie dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen hat, die sich erst bei der späteren Anwendung des Gesetzes zeigen, und er diese nach seiner sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte (Anschluss an BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 10 EG 3/08 R–, juris, Rn. 25 ff. m.w.N.).

5. Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der §§ 198 ff. GVG zum Ausdruck gebracht, dass weder die Geduld eines Verfahrensbeteiligten „bestraft“ noch einem „Dulde und Liquidiere“ Vorschub geleistet werden soll. Letzteres ist aber der Fall, wenn Verzögerungsrügen beliebig spät erhoben werden können. Der Verdacht, der Erwerb eines Entschädigungsanspruchs stehe im Vordergrund, drängt sich in der Sozialgerichtsbarkeit insbesondere dann auf, wenn der Streitgegenstand (z.B. Klagen gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide angesichts des damit verbundenen Suspensiv-effekts) und/oder weitere rechtliche oder tatsächliche Entwicklungen im Laufe des Verfahrens dafür sprechen, dass der spätere Entschädigungskläger kein wirkliches Interesse an dem Verfahren hatte oder durch dessen Dauer sogar in gewisser Weise profitierte, und seine eigene Verfahrensführung keinerlei Bemühen, auf einen zügigen Verfahrensabschluss hinzuwirken, erkennen ließ.

6. Erkundigt sich ein anwaltlich vertretener Kläger in einem Verfahren, an dem er unter Zugrundelegung des objektiven Empfängerhorizonts kein wirkliches Interesse (mehr) hat, fast drei Jahre lang nicht ein einziges Mal nach dem Sachstand und unterlässt er es selbst, das Gericht über maßgebliche Entwicklungen in der Sache zu informieren, dann ist davon auszugehen, dass mit einer Verzögerungsrüge, die erst nach Absendung der Ladung durch das Gericht erhoben wird, kein schutzwürdiges Interesse verfolgt wird und keinerlei Anlass besteht, einen vermeintlichen Grundrechts-verstoß zu kompensieren. Erst recht hat dies dann zu gelten, wenn die Verzögerungsrüge erst nach Zustellung der Ladung erfolgt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 09.07.2020 – L 4 AS 328/19

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Sonderbedarf – Wohnungserstausstattung – Bett in Überlänge

Zur Berücksichtigung eines Mehrbedarfs aufgrund seiner Körpergröße und macht Aufwendungen für die Ausstattung mit Schuhen (ablehnend hier) und mit einem Bett in Übergröße nebst Zubehör geltend, hier bejahend

Leitsatz (Redakteur)
Hilfesuchender von 1,97 m Körperlänge hat Anspruch auf Mehrbedarf für Anschaffung eines Bettes in Überlange nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II (vgl. BSG, Urt. vom 23.5.2013 – B 4 AS 79/12 R).

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Der Kläger hat insoweit einen Anspruch auf Erstausstattungsbedarf nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II.

2. Die Anschaffung eines Bettes in Überlange ist kein bloßer Ersatzbedarf, der nicht als Erstausstattung angesehen werden könnte, sondern gleicht viel eher dem Übergang vom Kinderbett zum Jugend- bzw. Erwachsenenbett, der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts einen Erstausstattungsbedarf auslöst (BSG, Urt. vom 23.5.2013 – B 4 AS 79/12 R).

3. Der Erstausstattungsbedarf umfasst Bett, Lattenrost, Matratze und Bettdecke. Ein Bett im Normalmaß von 2,00 m Länge deckt nicht den Bedarf eines Menschen von 1,97 m Körperlänge nach einer vernünftigen Schlafstätte ab; vielmehr ist es zu kurz, um ein entspanntes und unterstütztes Liegen zu ermöglichen. Dabei bedarf es keiner Festlegung, ab welcher Körpergröße ein Bedarf an Überlänge entsteht – jedenfalls bei einer Körpergröße von 1,97 m ist das ohne Weiteres festzustellen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 07.08.2020 – L 7 AS 1376/20 ER-B

Leitsatz (Juris)
Bei der Prüfung, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II einem Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II entgegensteht, hat der Leistungsträger die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Rahmen eines nachwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU selbständig zu prüfen. Er ist insoweit nicht an die Entscheidung der Agentur für Arbeit gebunden, die lediglich die in § 138 Abs. 1 SGB III genannten Voraussetzungen für das Bestehen von Arbeitslosigkeit (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit) zu bestätigen hat.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
ebenso vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Februar 2018 – L 7 AS 2309/17 B

2.5 – Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 05.06.2020 – L 8 AS 8/20 NZB

Zur Frage, ob ein gesetzlicher Betreuer im Rahmen des Aufgabenkreises Vermögenssorge und Behörden- und Wohnungsangelegenheiten den Betroffenen bei einem Meldetermin nach § 309 Abs. 1 Satz 1 SGB III wirksam vertreten könne mit der Folge, dass die Voraussetzungen für eine Sanktion eines Meldeversäumnisses nicht vorlägen, fehlt es jedenfalls an einer Klärungsbedürftigkeit.

Leitsatz (Redakteur)
Erscheinen des Betreuers reicht nicht aus, um der allgemeinen Meldepflicht des Klägers nach § 59 SGB II i.V.m. § 309 SGB III genüge zu tun.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Bereits dem Gesetzeswort kann mithin unmittelbar und eindeutig entnommen werden, dass die Meldung persönlich zu erfolgen hat. Dieses wird allgemein dahingehend verstanden, dass der Arbeitslose zwar in Begleitung erscheinen kann, die Entsendung nur eines Bevollmächtigten hingegen nicht zulässig ist, das heißt der Zweck der Meldung nur durch das persönliche Erscheinen des Arbeitslosen erreicht wird.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

2.6 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 16.10.2012 – L 12 AS 2309/11 – rechtskräftig

Leitsatz (Redakteur)
Die Überweisungspraxis der Bundesagentur für Arbeit verletzt nicht das Sozialgeheimnis. Die Überweisung mit dem Überweisungsvermerk „Bundesagentur für Arbeit“ unter Angabe der BG-Nummer ist in dieser Kombination eine zulässige Datenübermittlung.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Hierzu habe das Bayrische Landessozialgericht mit Beschluss vom 01.07.2011 – L 7 AS 461/11 B ER -, Juris Ausdruck Rdz 15 ff. ausgeführt, dass die Überweisung mit dem Überweisungsvermerk „Bundesagentur für Arbeit“ unter Angabe der BG-Nummer eine zulässige Datenübermittlung sei (§§ 53 Abs. 2 SGB I, 67 ff. und 67b Abs. 1 S. 1 SGB X). Eine Übermittlungsbefugnis ergebe sich aus § 68 bis 77 SGB X. Die vergebene Kundennummer diene als Identifikationsmerkmal, um bei der Massenverwaltung Zahlungen zu identifizieren und nachweisen zu können. Die Zahlen enthielten jedoch keine erkennbaren Informationen zum einzelnen Leistungsempfänger. Das Anliegen, zu verhindern, dass die Bank keine Information zur Identität des Überweisenden erhalte, könne schon aus überweisungstechnischen Gründen nicht sichergestellt werden. Die Empfängerbank sei immer in der Lage, eine Überweisung dem Antragsgegner zuzuordnen. Dies sei auch schon erforderlich, um seine Identität bei Geldüberweisungen offen zu legen. Nur so könne eine Überweisung überhaupt zugeordnet werden. Diesen Ausführungen des Bayrischen Landessozialgerichts folge die Kammer.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 23.04.2020 – L 7 AS 1772/19 – rechtskräftig

Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – keine Anhörungspflicht bei Vollaufhebung wegen Einkommenserzielung |

Orientierungshilfe (Redakteur)
Eine Kostenerstattung nach § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist ausgeschlossen, da auf eine Anhörung vor dem Aufhebungsbescheid nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X habe verzichtet werden kann (Sächsisches LSG Beschluss vom 24.07.2014 – L 3 AS 138/12 NZB).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.8 – LSG Sachsen, Urteil vom 28. Mai 2020 (L 3 AS 64/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine Sanktionierung wegen eines Meldeversäumnis nach § 32 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGB II hat zur Voraussetzung, dass das Jobcenter den Alg II-Empfänger über den Meldetermin, d. h. über den Zeitpunkt, den Meldeort und den Meldezweck, vorher eingehend informiert hat. Einem Leistungsempfänger muss nachweislich eine hinreichend bestimmte Aufforderung zur Meldung entsprechend § 59 SGB II in Verbindung mit § 309 SGB III zugegangen sein.

Für die ordnungsgemäße Bekanntgabe einer Meldeaufforderung trägt das Jobcenter gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 37 Abs. 2 Satz 3, 2. HS SGB X die objektive Beweislast, wenn der Alg II-Empfänger den Zugang dieser Aufforderung in Abrede stellt.

Wenn ein Jobcenter ein Einladungsschreiben mit einfacher Post verschickt, dann nimmt es dieser SGB II-Träger in Kauf, dass der Zugang dieses Briefes beim Leistungsempfänger nicht über eine Zustellungsurkunde nachgewiesen werden kann.

Bestreitet ein Alg II-Empfänger wiederholt den Erhalt von Schriftstücken des Jobcenters, dann entspricht es den Obliegenheiten des SGB II-Trägers, diesen Behauptungen in geeigneter Weise, nämlich durch die Wahl einer Versendungsform mit Nachweis, entgegen zu treten.

Hinweis:
LSG Sachsen (Urt. v. 28.5.20 – L 3 AS 64/18) klargestellt: wird der Zugang eines Schreibens von einer Behörde bestritten, muss die Behörde den Zugang beweisen, dies gilt auch dann, wenn Darstellungen des Klägers nicht in jedem Falle der Wahrheit entsprechen. Das LSG bezieht sich natürlich auf § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X.

weiter: Thomé Newsletter 29/2020 vom 24.08.2020

2.9 – LSG Hessen, Beschluss vom 5. August 2020 – L 6 AS 362/20 B ER

SGB-II-Leistungen für bulgarische Sexarbeiterin nach pandemiebedingtem Tätigkeitsverbot

Rechtsanwältin Elisabet Poveda Guillén aus Frankfurt hat einen Beschluss des LSG Hessen (6. Senat, Beschluss vom 5. August 2020; L 6 AS 362/20 B ER) erstritten, in dem einer bulgarischen selbstständigen Sexarbeiterin SGB-II-Leistungen zugesprochen werden. Die Frau musste ihre Selbstständigkeit als Sexarbeiterin aufgrund des Tätigkeitsverbots im Zuge der Corona-Pandemie aufgeben bzw. unterbrechen. Da zu dieser Konstellation bislang kaum positive Rechtsprechung bekannt ist, soll der Beschluss hier ausführlicher dargestellt werden. Unten gibt es dazu auch noch eine ausführliche Kommentierung der Rechtsanwältin. Eine aktualisierte Rechtsprechungsübersicht mit positiven Gerichtsentscheidungen zu Leistungsansprüchen von Unionsbürger*innen gibt es hier.

www.ggua.de

Volltext des Beschl.

S. a. Dazu Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine seit Jahren im Bundesgebiet als selbständige Prostituierte tätige Bulgarin, der aufgrund der Corona-Pandemie die weitere Ausübung dieser Tätigkeit untersagt wurde, ist nicht entsprechend § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b) SGB II von der Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit den §§ 19 ff. SGB II ausgenommen.

Diese Person hält sich nicht zur Arbeitsuche im Bundesgebiet auf, sondern kann sich auf die Fortwirkung ihrer Freizügigkeitsberechtigung berufen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU).

Nach der mit dem Prostituiertenschutzgesetz 2016 verbundenen Legalisierung der Prostitution kann es nicht mehr als fraglich aufgefasst werden, ob es sich bei der diese Tätigkeit über Jahre hinweg weit überwiegend im Bundesgebiet ausübenden Antragstellerin bis zur behördlichen Untersagung um eine niedergelassene selbständige Erwerbstätige im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU gehandelt hat.

Während dieses Zeitraums gelang es ihr einen Verdienst zu erzielen, der ihr ein Leben ohne die Inanspruchnahme von Leistungen der öffentlichen Fürsorge ermöglichte, war bei der zuständigen Ordnungsbehörde nach § 3 Abs. 1 ProstSchutzG angemeldet und wurde polizeilich wiederholt beanstandungsfrei kontrolliert.

Diese Tatsachen sprechen gegen ein fortgesetzt praktiziertes, rechtsmissbräuchliches Verhalten.

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Hildesheim – Az.: S 38 AS 1417/17 vom 14.07.2020

Normen: § 32 SGB II – Schlagworte: Sanktion, Rechtsfolgenbelehrung

Leitsatz (Redakteur)
Schreibt das Jobcenter pauschal in die Rechtsfolgenbelehrung, dass eine Bettlägerigkeitsbescheinigung notwendig ist, erweckt er fälschlicherweise —unabhängig von einem ggf. vorliegenden Ausnahmefall- den Eindruck, dass diese in jedem Fall zwangsläufig benötigt werde und das ist rechtswidrig.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Nach der ständigen Rechtsprechung darf eine Rechtsfolgenbelehrung jedoch auch keine überflüssigen oder falschen Informationen enthalten, die den Leistungsberechtigten verwirren oder abschrecken könnten.

2. Dies ist vorliegend jedoch gerade der Fall. In der Rechtsfolgenbelehrung ist ausgeführt, dass eine Erkrankung einen wichtigen Grund darstellen kann, zu dem Termin nicht zu erscheinen. Hierfür sei eine Bettlägerigkeitsbescheinigung vorzulegen. Für den Nachweis einer krankheitsbedingten Hinderung zur Wahrnehmung eines Meldetermins muss jedoch nicht einmal eine „normale“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden. Der wichtige Grund muss objektiv vorliegen, sodass auch ohne Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine krankheitsbedingte Verhinderung ggf. durch andere Beweismittel wie z.B. Zeugen nachgewiesen werden kann.

3. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung kann der Leistungsträger zwar dazu auffordern, zukünftig eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der sich ergibt, dass der Eingeladene krankheitsbedingt nicht zu einem Meldetermin erscheinen kann. Dies ist jedoch nach der Rechtsprechung lediglich in begründeten Ausnahmefällen, z.B. bei mehrfachen Meldeversäumnissen möglich. Ein solcher Fall ist hier vorliegend in Bezug auf die Einladung vom 8. Mai 2017 nicht ersichtlich und auch von dem Beklagten nicht vorgebracht.

4. Weiterhin bestehen erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit einer Leistungsminderung nach § 32 SGB II, denn es handelt es sich bei der Einladung nicht um eine Einladung zu einem einfachen Meldetermin, sondern um die Einladung zu dem Termin einer Maßnahme im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Eine verweigerte Teilnahme an einer Maßnahme müsste jedoch nach § 31 SGB II sanktioniert werden und kann nicht nach § 32 SGB II sanktioniert werden.

Quelle: www.anwaltskanzlei-adam.de

3.2 – Sozialgericht Köln, Urteil vom 11. August 2020 (S 15 AS 456/19):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Der von einem bedürftigen Oberstufenschüler geltend gemachte Bedarf für die Anschaffung eines Laptops und Druckers zur Teilnahme am Schulunterricht (einschließlich der notwendigen Vor- und Nachbereitung) ist vom Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II nicht mit umfasst und kann auf der Grundlage des § 21 Abs. 6 SGB II eine Finanzierung erfahren.

Auch die Anschaffung einer für den Schulbesuch gerade ganz aktuell unabdingbar notwendigen Sache zur laufenden Benutzung kann einen laufenden Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II darstellen. Die Höhe der hier entstehenden Kosten (EUR 450,-) ist nicht zu beanstanden.

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 18.06.2020 – L 4 SO 7/19

Sozialhilfe – Hilfe in anderen Lebenslagen – Übernahme von Bestattungskosten – Unzumutbarkeit der Kostentragung – Einzelfallprüfung – späte Antragstellung – wirtschaftliche Zumutbarkeit – Bedürftigkeit sowohl im Zeitpunkt der Fälligkeit als auch im Zeitpunkt der Behördenentscheidung

Leitsatz (Redakteur)
Ein Anspruch auf Kostenübernahme der Bestattungskosten setzt zwar einen Antrag voraus, sieht hierfür aber keine Frist vor.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Ein Anspruch des Klägers ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil er die im Zusammenhang mit der Bestattung seines Vaters angefallenen Rechnungen bereits beglichen hat.

2. § 74 SGB XII knüpft den Anspruch auf Kostenübernahme nicht zwingend an die Bedürftigkeit des Verpflichteten, sondern verwendet die eigenständige Leistungsvoraussetzung der Unzumutbarkeit und nimmt damit im Recht der Sozialhilfe eine Sonderstellung ein (BSG, Urteil vom 4.4.2019 – B 8 SO 10/18 R). Die Regelung unterscheidet sich von anderen Leistungen des Fünften bis Neunten Kapitels u.a. dadurch, dass der Bedarf bereits vorzeitig (vor Antragstellung) gedeckt sein kann, eine Notlage, die andere Sozialhilfeansprüche regelmäßig voraussetzen, also nicht mehr gegeben sein muss. Die Verpflichtung des zuständigen Trägers der Sozialhilfe setzt nach § 74 SGB XII nur voraus, dass die (ggf bereits beglichenen) Kosten „erforderlich“ sind und es dem Verpflichteten nicht „zugemutet“ werden kann, diese Kosten (endgültig) zu tragen (BSG, Urteil vom 4.4.2019 – B 8 SO 10/18 R).

3. Für einen Anspruch nach § 74 SGB XII fehlt es jedoch an der Unzumutbarkeit der Kostentragung.

5. Ein Anspruch auf Kostenübernahme setzt zwar einen Antrag voraus, sieht hierfür aber keine Frist vor. Bereits deshalb kann (soweit keine Verjährung im Raume steht) ein längeres Zuwarten nicht allein und quasi automatisch zur Annahme von Zumutbarkeit und damit zum Wegfall des Anspruchs führen. Vielmehr ist stets, also auch bei später Antragstellung, die Zumutbarkeit im Einzelfall zu prüfen (so auch Siefert, juris PK SGB XII, § 74 Rn. 15). Dabei ist es allerdings zulässig, die späte Antragstellung in diesem Rahmen zu würdigen. Im Einzelfall mag es daher durchaus sein, dass der späte Zeitpunkt der Antragstellung – in der Gesamtschau mit allen anderen Umständen des Einzelfalls – die Zumutbarkeit mitbegründen kann. Eine Regelvermutung diesbezüglich lässt sich aber nicht aufstellen.

6. Dem Kläger war es nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, insbesondere aufgrund seines Erwerbseinkommens, durchaus zumutbar, die vollen von ihm geltend gemachten Bestattungskosten zu tragen (weshalb es auf die Frage, in welcher Höhe die Beklagte ggf. Kosten anzuerkennen hätte, nicht ankommt).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp (Redakteur):
Sozialgericht Stade, Urteil vom 21.01.2015 – S 33 SO 31/14

Sozialhilfe – Bestattungskosten – Antragstellung – angemessene Frist – keine Verwirkung

Leitsatz (Redakteur)
1. Sozialhilfeträger ist im Einzelfall auch zur Bestattungskostenübernahme verpflichtet, wenn erst mehr als 13 Monate nach Anfall der Beerdigungskosten ein Antrag gestellt worden ist.

2. Aus der späten Antragstellung kann nicht schematisch abgeleitet werden, dass allein wegen des Zeitablaufs die Kostentragung nunmehr zumutbar sei, zumal der Anspruch nach § 74 XII nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht fristgebunden ist.

4.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 29.06.2020 – L 15 SO 95/19 NZB – rechtskräftig

Verzinsung; vollständiger Leistungsantrag; Notwendigkeit eines Folgeantrags bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Zur Frage, ob für Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung (GruSi) gemäß den §§ 41 SGB XII ein Folgeantrag notwendig ist und es bei der Prüfung der Vorschrift des § 44 Abs. 2 SGB I auf das (vollständige) Vorliegen dieses Folgeantrags ankommt

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Ein einmal gestellter Antrag auf Grundsicherungsleistungen muss auch nicht aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung erneut gestellt werden. D.h., dass der Grundsicherungsträger nach Ablauf des Bewilligungszeitraums nicht auf einen Antrag des Grundsicherungsberechtigten warten darf, sondern von Amts wegen zu prüfen hat, ob weiterhin Grundsicherungsleistungen zu gewähren sind.

2. Die Kläger wären im Rahmen ihrer Mitteilungspflichten gemäß den §§ 60 ff SGB I verpflichtet gewesen, mitzuteilen, wenn eine Räumung erfolgt wäre. Die Mitteilung, dass eine Änderung der angegebenen Verhältnisse nicht stattgefunden hat, gehörte jedoch nicht zu ihren Obliegenheiten.

Leitsatz (Juris)
Die Frage, ob für Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß den §§ 41 ff Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch ein Folgeantrag notwendig ist und es bei der Prüfung der Vorschrift des § 44 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch auf das (vollständige) Vorliegen dieses Folgeantrags ankommt, ist nicht klärungsbedürftig. Für ihre Beantwortung ergeben sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bereits ausreichende Anhaltspunkte.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Anmerkung zu: LSG Darmstadt 6. Senat, Urteil vom 11.03.2020 – L 6 AS 471/19

Autor: Dr. Jens Blüggel, Vors. RiLSG
Zur fingierten abschließenden Festsetzung vorläufiger Leistungen gemäß § 41a Abs. 5 SGB II

Leitsätze
1. Auch während eines anhängigen gerichtlichen Verfahrens wegen einer vorläufigen Entscheidung kommt es ggf. zu deren fiktiver Wandlung in eine endgültige Festsetzung nach § 41a Abs. 5 SGB II; diese wird zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens.

2. a) Zur rügelosen Einlassung in eine Klageerweiterung in der Berufungsinstanz.

b) Das Landessozialgericht ist für die Entscheidung über eine im Berufungsverfahren zulässig erweiterte Klage instanziell zuständig.

weiter auf Juris www.juris.de

5.2 – Änderung des AufenthG

Das Aufenthaltsgesetz ist an verschiedenen Stellen bereits am 24. Juni 2020 relativ unbemerkt geändert worden. Diese Änderungen waren versteckt in Art.26a des „Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ und sind jedenfalls an mir bislang vollständig vorbeigegangen. Die genannten Änderungen sind erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nachträglich eingebracht worden, daher findet sich die Begründung dazu in einer gesonderten Drucksache (ab S.30, Begründung ab S.62). Sie betreffen vor allem Klarstellungen zum Arbeitsmarktzugang von Personen mit Aufenthaltstiteln zur Erwerbstätigkeit oder zur Ausbildung/Studium, aber auch Änderungen bei den Bußgeldvorschriften wegen unerlaubter Erwerbstätigkeit sowie für Inhaber*innen einer Beschäftigungsduldung, die den Verlust der Arbeit nicht ordnungsgemäß an die ABH melden:

www.ggua.de

5.2 – Hartz IV: Landkreis muss Mietobergrenze neu berechnen

Einen höheren Zuschuss zu den Mietkosten muss das Jobcenter nach einem Urteil des Sozialgerichts Augsburg einer Hartz-IV-Empfängerin aus Stadtbergen zahlen. Vorübergehend wird für die Berechnung der sogenannten Angemessenheitsgrenze im Landkreis Augsburg nun die Wohngeldtabelle zugrunde gelegt. Damit könnten auch weitere Betroffene Anspruch auf einen höheren Zuschuss haben.

Eine alleinstehende Frau aus Stadtbergen, die vom Augsburger Anwalt Daniel Zeeb vertreten wurde, hat mit einer Klage vor dem Sozialgericht Augsburg einen höheren Zuschuss für ihre Mietkosten erstritten, der vom Jobcenter im Rahmen der Grundsicherung zu zahlen ist. Bei der Hartz-IV-Empfängerin wurde bislang eine Bruttokaltmiete in Höhe von 425 Euro pro Monat übernommen. Aufgrund des Urteils wird in diesem Fall für die Miete für die Monate Mai bis September 2019 nun 477,40 Euro gezahlt.

Da ihr für diesen Zeitraum gut 50 Euro pro Monat mehr als nach der bisher geltenden Berechnung zustanden, resultiert aus der Einschätzung des Gerichts, dass die Berechnung der Mietobergrenze für den Landkreis Augsburg nicht rechtmäßig erfolgt sei.

weiter: www.augsburger-allgemeine.de

Hinweis:
SG Augsburg: Landkreis Augsburg hat kein schlüssiges Konzept

Orientierungshilfe (RA Daniel Zeeb, Augsburg)
Die Angemessenheitsgrenze des Jobcenters Augsburg Land im Zeitraum ab 01.07.2018 beruht nicht auf einem schlüssigen Konzept. Leider ergibt der Wert gemäß § 12 Wohngeldgesetz zzgl. 10 Prozent nicht in allen Kommunen einem höheren Wert als die bisher angewendete Angemessenheitsgrenze.

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker