BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –
gegen
Altmarkkreis Salzwedel, vertreten durch den Landrat,
Karl-Marx-Straße 32, 29410 Salzwedel
– Antragsgegner –
hat die 31. Kammer des Sozialgerichts Magdeburg am 9. Oktober 2023 durch die Vorsitzende, die Richterin am Sozialgericht xxx, beschlossen:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter den Vorbehalt der Rückforderung ab dem 10. September 2023 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 8. September 2023 gegen den Bescheid vom 4. September 2023, längstens jedoch bis zum 30. März 2024, Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
GRÜNDE
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), insbesondere über die Gewährung von Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1.
Der Antragsteller reiste am 19. Oktober 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Antrag auf Asyl. Er gab an Staatsangehöriger Syriens zu sein.
Der Antragsteller wurde der dem Antragsgegner zur Aufnahme zugewiesen und erhielt mit Bescheid vom 5. Januar 2023 die Grundleistungen nach §§ 3 und 3a AsylbLG ab dem 9. Januar 2023 bis auf weiteres (im Januar in Höhe von 127,23 € und ab Februar 2023 in Höhe von monatlich 369,00 €) gewährt. Derzeit lebt der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.d. § 53 Abs. 1 AsylbLG.
Unter dem 3. April 2023 teilte die zuständige Ausländerbehörde mit, dass mit Bestandskraft einer Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 27. Februar 2023 über einen Asylantrag die Aufenthaltsgestattung des Antragstellers seit dem 11. März 2023 nach § 67 Abs. 1 Asylbewerbergesetz (AsylG) erloschen sei. Mit Bescheid vom gleichen Tag ordnete das BAMF die Abschiebung nach Italien an und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Zugleich erging die Mitteilung, dass ein Tatbestand des § 1a Abs. 7 AsylbLG vorliegen könnte, da eine Abschiebeanordnung in dem zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staates erlassen wurde.
Nach Anhörung nahm der Antragsgegner den Bescheid über die Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG vom 5 Januar 2023 mit Wirkung ab dem 5. Mai 2023 zurück und gewährte dem Kläger Leistungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG (Bescheid vom 8. Mai 2023).
Mit anwaltlichem Schreiben vom 14. August 2023 beantragte der Antragsteller die Überprüfung der Bescheide vom 5. Januar 2023 und vom 8. Mai 2023 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
Nachdem die zuständige Ausländerbehörde mit Statusmitteilung vom 30. August 2023 auf die Beendigung des Dublin-Verfahrens und den Übergang in ein nationales Verfahren hingewiesen hatte, hob der Antragsgegner den Bescheid vom 8. Mai 2023 mit Wirkung ab dem 30. August 2023 auf und gewährte dem Antragsteller erneut Leistungen nach §§ 3 und 3a AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 (Änderungsbescheid vom 4. September 2023). Gründe für eine Leistungskürzung gemäß § 1 a Abs. 7 AsylbLG seien nicht mehr gegeben.
Gegen den Bescheid vom 4. September 2023 legte der Antragsteller mit anwaltlichem Schreiben vom 8. September 2023 Widerspruch ein. Eine Begründung wurde nach Akteneinsicht in Aussicht gestellt. Der Widerspruch ist noch nicht beschieden.
Zugleich hat der Antragsteller mit Schreiben vom 8. September 2023, eingegangen am Folgetag, einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Magdeburg (SG) gestellt und die Gewährung von Leistungen nach den §§ 3, 31 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 begehrt. Die Regelungen der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG seien evident verfassungswidrig, da sie das durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzten und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstießen. Er verwies neben zahlreichen sozialgerichtlichen erstinstanzlichen Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auch auf den am 23.11.2022 veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19.10.2022 zu dem Az. 1 BvL 3/21. Darin hat das BVerfG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt werde. Die Entscheidung des BVerfG sei auch auf die Normen des § 3a Abs. 1 Nr. 2 b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG anzuwenden.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 08.09.2023 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 04.09.2023 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Der Antragsgegner trägt vor, dass kein Anspruch auf höhere Leistungen bestünde. Für Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, basiere die Leistungsgewährung für den notwendigen persönlichen Bedarf sowie den notwendigen Bedarf auf der Regelbedarfsstufe 2 gem. §§ 3 und 3a AsylbLG. Eine andere gesetzliche Regelung gebe es nicht. Eine analoge Anwendung der Entscheidung des BVerfG zum Az. 1 BvL 3/21 sei nicht bekannt und von der Fachaufsichtsbehörde nicht verfügt. Es verbleibe bei der gesetzlichen Regelung.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
1. Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 41).
Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa, weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 14. März 2019 – 1 BvR 169/19 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Zur Überzeugung der Kammer hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.v. § 53 Abs. 1 AsylbLG und bezieht unstreitig Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Unter Berücksichtigung des Beschlusses des BVerfG vom 19. Oktober 2022 stehen ihm diese allerdings im Umfang der Regelbedarfsstufe 1 zu. Das BVerfG hat mit dem am 23. November 2022 veröffentlichten Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – entschieden, dass die Sonderbedarfsstufe 2 für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person nach der Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums). Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.), sei zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens sei aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür müssen sich jedoch ausdrücklich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG) oder Aufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) Anhaltspunkte ergeben (vgl. BVerfG v. 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 74 ff.).
Das BVerfG hat eine Übergangsregelung angeordnet, nach der für alleinstehende Erwachsene, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind, unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 S. 1 und S. 4 Nr. 1 AsylbLG ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anstatt 2 anerkannt wird.
Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass diese Überlegung des BVerfG auch auf die Parallelvorschriften für Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften nach § 3a AsylbLG Anwendung zu finden haben, da mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass auch die §3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG verfassungswidrig sind (vgl. Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 28.11.2022), Rn. 44_18). Die Sachverhalte sind vergleichbar, denn es bestehen keine Anhaltspunkte, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächliche Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt wird oder werden könne.
Insofern hat bereits die Bundesregierung über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bekannt gegeben, dass der Beschluss des BVerfG auch bei der Gewährung von Grundleistungen nach §§ 3 bzw. 3a AsylbLG angewandt werden sollte. Die der Verfassungswidrigkeit der Norm zugrundeliegende Begründung, es gäbe keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden, sei von grundsätzlicher Natur. Das BMAS geht daher von einer Anwendbarkeit des Beschlusses auch auf die Parallelregelungen in § 3a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 AsylbLG für Leistungen im Grundleistungsbezug aus. So haben bereits einzelne Länder (z.B. Berlin) verfügt, dass künftig alle erwachsenen alleinstehenden Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, die in einer Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung oder ggf. Notunterkunft untergebracht sind, Anspruch auf den Bedarfssatz bzw. die Regelbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene nach der Regelbedarfsstufe 1, soweit sie nicht als junge Erwachsene im elterlichen Haushalt (unabhängig von der Art der Unterbringung) leben (vgl. beispielsweise Rundschreiben der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Soz Nr. 01/2023 zur Umsetzung der §§ 2 und 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Es ist zudem ein Anordnungsgrund gegeben. Vor dem Hintergrund der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG vom 19. Oktober 2022 ist eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung im einstweiligen Rechtsschutz nicht angezeigt (Frerichs, a.a.O., Rn. 44.19).
Die Kammer hat es für angemessen gehalten, die Regelungsanordnung auf den Zeitraum bis zum 30. März 2024 zu begrenzen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) voraus, dass der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten des Rechtsstreits ganz, teilweise oder nur in Raten zu tragen und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Aufgrund des Beschlusses über die Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten steht dem Antragsteller ein rechtskräftiger Kostenerstattungsanspruch gegen den Antragsgegner zu. Damit verfügt der Antragssteller über Vermögen im Sinne des § 115 Abs. 3 Satz 1 ZPO, weshalb dieser nicht bedürftig im Sinne des Gesetzes sind (vgl. hierzu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17. Dezember 2008 – L 5 B 414/07 AS – zitiert nach Juris; so im Ergebnis auch: Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 20. Oktober 2014 – L 4 AS 1070/14 B ER – und Beschluss vom 13. Februar 2012 – L 4 AS 1197/12 B -, wonach aufgrund des Bestehens eines Kostenerstattungsanspruches das Rechtsschutzbedürfnis für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe entfallen ist). Der Antragsteller ist, aufgrund der gerichtlichen Kostengrundentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG, Inhaber der Forderung auf Erstattung der erstattungsfähigen notwendigen außergerichtlichen Kosten, wozu nach § 193 Abs. 2 und 3 SGG auch die Kosten des Bevollmächtigten gehören. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe würde hier zu einer Doppelalimentation ihres Prozessbevollmächtigten führen. Zweifel an der Leistungsfähig- und Leistungswilligkeit des Antragsgegners bestehen aufgrund der gerichtlich auferlegten Pflicht zu Kostenerstattung nicht.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.