Sozialgericht Heilbronn – Beschluss vom 05.03.2024 – Az.: S 16 AY 395/24 ER

BESCHLUSS

In dem Verfahren

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Land Baden-Württemberg
vertreten durch das Landratsamt Ludwigsburg Fachbereich Asyl
Hindenburgstr. 40, 71638 Ludwigsburg

– Antragsgegner –

Die 16. Kammer des Sozialgerichts Heilbronn
hat am 5. März 2024 in Heilbronn
durch den Richter am Sozialgericht xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig vom 20. Februar 2024 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 20. Februar 2024 gegen den Bescheid vom 1. Februar 2024, längstens bis zum 31. Mai 2024, dem Antragsteller Leistungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs.2 Nr. 1 AsylbLG unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zur gewähren.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam gewährt.

GRÜNDE
I.

Der am xxx 1986 geborene Antragsteller mit nigerianischer Staatsangehörigkeit reiste am xxx 2017 erstmals ins Bundesgebiet ein und stellte am 4. Dezember 2017 einen Asylantrag.

Seit seiner Einreise bezog der Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Seit dem 28. Juni 2018 befand sich der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft in Gerlingen.

Am 23. September 2018 teilte die Grenzpolizeiinspektion Raubling mit, der Antragsteller befinde sich im Besitz eines bis zum 20. Juli 2022 gültigen italienischen Aufenthaltstitels.

Mit Bescheid vom 23. April 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab. Ihm wurde die Abschiebung nach Italien angedroht. In der Begründung wurde ausgeführt, in Italien sei dem Antragsteller ein subsidiärer Schutz zuerkannt worden, der Schutzstatus sei bis zum 30. Juli 2022 gültig. Zum 18. März 2021 wurde der Antragsteller im Rahmen der Anschlussunterbringen der Gemeinde Korntal-Münchingen zugeteilt (§ 18 Abs 1 Flüchtlingsaufnahmegesetz – FlüAG). Dort wurde er in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht.

In der Folge der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller nur noch nach § 1a Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gekürzte Leistungen.

Zuletzt mit Bescheid vom 14. Dezember 2023 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller ab dem 1. Dezember 2023 gekürzte Leistungen „gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG“ zur Deckung des seines Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizkosten, sowie Körper- und Gesundheitspflege für sechs Monate. In dem Bescheid entschied der Antragsgegner, der Antragsteller erhalte die Kosten der Unterkunft – in Höhe von 143,60 Euro – sowie 185 Euro in Form von Wertgutscheinen und 18 Euro in Form eines Barschecks. Zur Begründung verwies der Antragsgegner auf die Regelung des § 1a Abs. 4 AsylbLG.

Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2024 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller ab dem 1. Dezember 2023 Leistungen in Höhe von 512,60 Euro und ab dem 1. Februar 2024 bis 31. Mai 2024 in Höhe von 556,60 Euro, wobei jeweils Kosten der Unterkunft in Höhe von 143,60 Euro enthalten waren. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, die Geldbeträge zur Deckung des notwendigen Bedarfs würden nach den in § 3a Abs.1 und 2 AsylbLG festgesetzten Beträgen gewährt. Die Zuordnung erfolge nach der Regelbedarfsstufe 2.

Hiergegen erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers am 20. Februar 2024 Widerspruch.

Der Antragsteller hat am 20. Februar 2024 durch seinen Bevollmächtigten auch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zur Begründung trägt er vor, die Regelungen der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG seien evident verfassungswidrig, da sie das durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG vom 09.02.2010 – Az.: 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175) verletzten und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstießen, Art. 3 Abs. 1 GG. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sicher jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich seien (BVerfG vom 09.02.2010 – Az.: 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175, 1. LS). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfordere eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Der Grundrechtsschutz erstrecke sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich sei. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müsse die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein (BVerfG vom 09.02.2010 – Az.: 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175, Rdnr. 109). Hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten nach den §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG habe der Gesetzgeber keinerlei Ermittlungen angestellt.

Der Antragstellerbevollmächtigte beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 20.02.2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 01.02.2024 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner lebe in einer Gemeinschaftsunterkunft, weshalb er nur Anspruch auf die Regelbedarfsstufe 2 habe. Das Bundesverfassungsgericht habe über eine andere Fallkonstellation entschieden, nämlich über Analogleistungen. Der Antragsgegner sei nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an Recht und Gesetz gebunden und sei deshalb nicht befugt, ein Gesetz nicht anzuwenden.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht, wenn der Antragsteller nach materiellem Recht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Leistung hat (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK- GG, 2. Aufl., § 86b SGG Rn. 384 (Stand: 04.03.2024)). Das Gericht führt hierzu eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem Umfang durch, wie es in der zur Verfügung stehende Zeit möglich ist, wobei die Prüfung umso eingehender erfolgt, je schwerer die möglichen Folgen wiegen (Binder in Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021, § 86b Rn. 41). Ein Anordnungsgrund ist nur dann glaubhaft gemacht, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Antragsteller bei einem Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens unzumutbare Nachteile entstünden (Burkiczak a.a.O. Rn. 412 (Stand: 10.01.2020)).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Auflage 2020, § 86b Rn. 27, 29 und 29a m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungs-grund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Verfahren nicht möglich ist, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist (LSG Hessen 13.03.2008 – L 7 SO 100/07 ER).

Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.05.2005 – BvR 569/05 Rn. 24 in juris). Die Entscheidung im Eilverfahren kann zwar auch dann, wenn existenzsichernde Leistungen zur Gänze im Streit stehen, statt auf eine Folgenabwägung auch auf eine summarische Prüfung der Hauptsache gestützt werden (BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12). Dabei ist aber zu beachten, dass die Sach- und Rechtslage vom Gericht umso intensiver zu prüfen ist, je gewichtiger und wahrscheinlicher eine drohende Grundrechtsverletzung ist. Wenn eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, muss das Gericht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung verringern.

Ausgehend hiervon sind dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung höhere Leistungen zu gewähren, nachdem ein solcher Anspruch mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht.

Insoweit schließt sich das Gericht der Rechtsauffassung des Bayerischen Landessozialgerichts (Urteil vom 30.10.2023, L 8 AY 33/23) an, wonach eine verfassungskonforme Auslegung des § 3a AsylbLG erforderlich ist. Auch das hier erkennende Gericht ist der Überzeugung, dass erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine wortlautgetreue Auslegung bestehen. Insoweit verweist das Gericht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21). Dort führt das BVerfG aus: „Sind Leistungen zur Sicherung der Menschenwürdigen Existenz nicht bereits evident unzureichend, so ist zu prüfen, ob sie nachvollziehbar und sachlich differenziert und insgesamt tragfähig begründbar sind“. Dies, so das BVerfG, ist bei der Annahme des Gesetzgebers, „dass die in Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Bedürftigen regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern erzielen, die einer Absenkung der Leistungshöhe um 10 % gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 entsprechen“, nicht der Fall. Die nicht begründete Annahme der Einsparungen hat der Gesetzgeber ebenfalls der Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 b) und Abs. 2 Nr. 2 b) zugrunde gelegt (vgl. hierzu Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.06.2023, L 8 AY 18/23 B ER).

Durch eine normerhaltende teleologische Reduktion ist deshalb zu fordern, dass neben dem zusammenleben in einer Gemeinschaftsunterkunft auch nachvollziehbare Sachverhalte für Einsparungseffekte vorliegen, etwa einem gegenseitigen „Füreinandereinstehen“ in einer Gemeinschaft, das der Situation von Paarhaushalten und der damit zulässigerweise verbundenen Annahme tatsächlicher Einspareffekte gleichkommt (vgl. zum Ganzen auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.04.2021, L 8 AY 122/20). Hierzu hat der Antragsgegner nichts vorgetragen noch ist aus der Akte ersichtlich, dass der Antragsteller.

Wegen der ganz überwiegenden Erfolgsaussicht in der Hauptsache liegt auch ein Anordnungsgrund vor (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.).

Die Kostenfolge ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Beschwerde ist ausgeschlossen, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) erfolgt gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht des nicht mutwilligen Antrags ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen. Der Antragsteller erfüllt auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH. Die Beiordnung des Rechtsanwalts erfolgt gemäß §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.