Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 24.06.2021 – Az.: L 8 AY 20/21 B ER

BESCHLUSS

L 8 AY 20/21 B ER
S 42 AY 4029/20 ER Sozialgericht Hildesheim 

In dem Beschwerdeverfahren 

xxx,

– Antragstellerin und Beschwerdegegnerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen Stabsstelle Justitiariat, vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Antragsgegner und Beschwerdeführer –

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 24. Juni 2021 in Celle durch die Richter xxx und xxx sowie die Richterin xxx beschlossen:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 1. April 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

GRÜNDE:

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht (SG) hat die aufschiebende Wirkung der beim SG anhängigen Klage (-S 42 AY 55/21 -) zu Recht angeordnet.

Der Eilantrag der Antragstellerin vom 3.12.2020 ist nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021 statthaft und insgesamt zu­lässig. Nach den zutreffenden Ausführungen des SG ist -ohne am Wortlaut des Antrags zu haften -durch Auslegung zu ermitteln, ob ein Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG oder ein Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG vorliegt. Ein Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG kann dabei in einen Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG umzudeuten sein, wenn dies dem sachgerecht verstandenen Begehren des Antragstellers entspricht (Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 86b SGG Rn. 108). Dies ist hier der Fall. Die Antragstellerin kann ihr Rechtsschutzziel in der Hauptsache mit einer isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) erreichen. In der Sache begehrt sie die Weitergewährung der mit Bescheid vom 7.10.2020 für die Zeit von Dezember 2020 bis Mai 2021 bewilligten Leistungen nach § 2 AsylbLG (in monatlicher Höhe von 842,67 €), weiter­gehende Leistungen werden von ihr nicht geltend gemacht bzw. für die Zeit ab Juni 2021 nicht im Wege der (Anschluss-)Beschwerde verfolgt. Durch den im Hauptsacheverfahren streitigen Bescheid über die Gewährung von nach § 1a AsylbLG eingeschränkten Leistungen ist die zuvor ergangene Leistungsbewilligung für den gleichen Zeitraum zum Teil aufgehoben worden. Der Klage gegen den Bescheid vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021 kommt nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 11 Abs. 4 Nr. 1, 2 AsylbLG keine auf­schiebende Wirkung zu.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist auch begründet.

Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung erfolgt auf der Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen ist das private Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung der Klage mit dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021. Im Rahmen der Interessenabwägung ist insbesondere die nach summarischer Prüfung der Rechtslage zu bewertende Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers; umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12 f.). Zusätzlich ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG zu beachten, dass die sofortige Vollziehung den gesetzlichen Regelfall darstellt und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur im Ausnahmefall ge­rechtfertigt ist (Keller a.a.O., § 86b Rn. 12b, 12c).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Nach den Gesamtumständen überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung der Klage. Der Bescheid vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021 ist nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand rechtswidrig, so dass die Klage voraussichtlich -soweit keine wesentlichen Ände­rungen des zugrundeliegenden Sachverhalts eintreten -erfolgreich sein wird.

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der mit Bescheid vom 7.10.2020 erfolgten Leistungsbewilligung nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 SGB X liegen nicht vor, weil Anhaltspunkte für eine nach Erlass des Bescheides eingetretene wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen fehlen (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Die vom Antragsgegner geltend gemachten Umstände für eine Anspruchseinschränkung gem. § 1a Abs. 3 AsylbLG, nach denen aus von der Antragstellerin selbst zu vertretenen Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, haben nicht erst im November 2020, sondern (jedenfalls) schon im Oktober 2020 vorgelegen, so dass eine (Teil-)Aufhebung des womöglich anfänglich rechtswidrigen Leistungsbescheides allenfalls nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 SGB X möglich ist. Insoweit liegen die Rücknahmevoraussetzungen aber nicht vor, so dass es nicht darauf ankommt, ob der Antragstellerin mit dem Bescheid vom 7.10.2020 zu hohe Leistungen bewilligt worden sind, die Voraussetzungen für eine An­spruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG vorliegen oder die gesetzliche Regelung verfassungsmäßig ist. Da der Antragsgegner im Verwaltungsverfahren nicht erkannt hat, dass die verfügte Anspruchseinschränkung zugleich auch eine (Teil-)Aufhebung der vorangegangenen Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG darstellt, hat er insoweit sein Rücknahmeermessen nicht ausgeübt (Ermessensausfall).

Neben der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021 berücksichtigt der Senat bei der Interessenabwägung, dass die Antrag­stellerin ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes eine Leistungskürzung mit erheblichem Gewicht -sowohl der Höhe als auch der Dauer nach hinzunehmen hätte. Dem Interesse der Antragstellerin kommt mit Blick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) ein besonderes Gewicht zu. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Anspruchseinschränkung tritt dahinter zurück, insbesondere weil der streitige Bewilligungszeitraum mittlerweile abgelaufen ist. Es ist dem Antragsgegner zuzumuten, dass die Frage, ob die Antragstellerin ihm wegen der Teilaufhebung des Bescheides vom 7.10.2020 für den Zeitraum von Dezember 2020 bis Mai 2021 bewilligte Leistungen zu erstatten hat, erst im Hauptsacheverfahren beantwortet wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.