Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 18.09.2021 – Az.: S 12 AY 14/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Kassel,
vertreten durch den Kreisausschuss, Fachbereich Aufsicht und Ordnung,
Wilhelmshöher Allee 19-21, 34117 Kassel,

Antragsgegner,

hat die 12. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 18. September 2021 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, beschlossen:

  1. Auf den am 14. Juli 2021 bei Gericht eingegangenen Antrag des in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 12. Juli 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. Juni 2021 und insoweit die mit diesem erfolgte Bewilligung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum vom 1. Juli 2021 bis 31. Dezember 2021 allein noch nach § 1a AsylbLG, angeordnet.
  2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 14. Juli 2021, dem Antragseingang bei Gericht, bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 12. Juli 2021 gegen den Bescheid vom 29. Juni 2021, bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender rechtzeitiger Klageerhebung auch darüber hinaus, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1. Instanz, jedoch zunächst längstens bis 31. Dezember 2021, wie zuletzt bezogen, ungekürzte Leistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren und diese nach der Regelbedarfsstufe 1 zu bemessen.
  3. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
  4. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller 2/3 der Kosten des Verfahrens zu erstatten.
GRÜNDE

Der zulässige Antrag ist im entschiedenen Umfang begründet, wobei Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund der den Beteiligten seitens des Kammervorsitzenden unter dem 18. August 2021 aufgezeigten, den Beteiligten im Übrigen aber auch hinlänglich bekannten und auch auf den Antragsteller des vorliegenden Verfahrens anwendbaren Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts (HLSG, Beschlüsse vom 26. Februar 2020, L 4 AY 14/19 B ER; vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER, juris und zuletzt vom 26. Juli 2021, L 4 AY 19/21 B ER) einerseits zum Vorliegen erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG u.a. in Fallgestaltungen der auch hier vorliegenden Art, also bei fehlender Passbeschaffung und bestehender Ausreiseverpflichtung und andererseits zum Vorliegen ebenfalls erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Gewährung von Leistungen an in Gemeinschaftsunterkünften alleinlebenden Asylbewerbern statt nach der Regelbedarfsstufe 1 allein noch nach der Regelbedarfsstufe 2 folgen (vgl. zu § 1a AsylbLG weiter Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22. Februar 2021, L 8 AY 9/20 B ER –, juris sowie zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG den Vorlagebeschluss des SG Düsseldorf, Beschluss vom 13. April 2021, S 17 AY 21/20 –, juris ). Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer nach eigener Überprüfung insgesamt an, wobei jedenfalls zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG auch bereits eine Reihe von auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung klagestattgebenden Hauptsacheentscheidungen der Kammer vorliegen, in denen entweder der Prozessbevollmächtigte des vorliegenden Antragstellers Prozessbevollmächtigter der dortigen Kläger oder der Antragsgegner des vorliegenden Verfahrens auch dort Beklagter war. Insoweit liegen dann auch im hier konkreten Einzelfall des vorliegenden Antragstellers nach wiederum weiterer Prüfung sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund vor, ohne dass sich insoweit für die Kammer rechtserhebliche Zweifel ergäben, die die Kammer an der insoweit von ihr getroffenen Abwägungsentscheidung gehindert hätten.

Soweit über nach der Regelbedarfsstufe 1 zu bemessende Leistungen nach § 3 AsylbLG hinaus nach der Regelbedarfsstufe 1 zu bemessende Analogleistungen nach § 2 AsylbLG geltend gemacht werden, ist der Antrag jedoch nicht begründet. Hier fehlt es jedenfalls in der vorliegenden Fallgestaltung, in der der Antragsteller unabhängig von § 1a AsylbLG bisher allein Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen hatte, an einem Anordnungsgrund, da das Existenzminimum insoweit bereits durch Leistungen nach § 3 AsylbLG gedeckt ist und ein darüberhinausgehender Anordnungsgrund hier selbst auch nicht glaubhaft gemacht ist.

Soweit der Antrag begründet ist, bestehen auf der Grundlage der Ausführungen des HLSG in der oben genannten Entscheidung vom 26. Februar 2020, denen die erkennende Kammer folgt, bei summarischer Prüfung der Leistungskürzung, denen der Antragsteller bereits wiederholt ausgesetzt gewesen ist, nämlich auch hier die nicht nur vom HLSG formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken an der streitigen Leistungskürzung, wobei sich ebenfalls das Sächsische Landessozialgericht nicht nur mit seiner o.a. Entscheidung, sondern ebenfalls zwei weiteren Entscheidungen (vgl. Beschlüsse vom 11. Januar 2021, L 8 AY 10/20 B ER und vom 3. März 2021, L 8 AY 8/20 BER, juris) dahingehend geäußert hat, dass die Regelung in § 1 Abs. 1 S. 2 AsylbLG den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16, zitiert nach juris) genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen widerspreche. Dabei weist das Sächsische Landessozialgericht darauf hin, dass aus der Kürzung nach § 1a AsylbLG einem von der Leistungseinschränkung betroffenen Ausländer rund 50% seines monatlichen Regelbedarfs vorenthalten werde. Das BVerfG habe die Sanktionsnormen im SGB II für verfassungswidrig erklärt, die über die Höhe der Leistungsminderung selbst bei wiederholten Pflichtverletzungen von 30% hinausgehen würden. Kürzungen i.H.v. 60% habe es als unzumutbar und für verfassungswidrig beurteilt.

Gleiches gilt mit der Rechtsprechung der Kammer (SG Kassel, u.a. Urteile vom 19. November 2020, S 12 AY 56/20 und S 12 AY 44/20) und der des HLSG (Beschluss vom 13. April 2021) dann aber auch bezogen auf § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sowie § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG

Im Rahmen der Folgenabwägung ist dem Antragsteller daher einerseits die weitere Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG jedenfalls im Rahmen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Ansprüche nicht zuzumuten und der Antragsgegner ist dazu zu verpflichten, vorläufig ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren (vgl. hierzu auch u.a. SG Kassel, Beschluss vom 5. Mai 2021, S 11 AY 7/21 ER und SG Marburg, Beschluss vom 13. April 2021, S 9 AY 1/21 ER); gleiches gilt andererseits und darüber hinausgehend dann aber auch für eine alleinige Leistungsgewährung nach der Regelbedarfsstufe 2 statt nach der Regelbedarfsstufe 1. Dies auch unabhängig davon, dass mit dem HLSG (Beschluss vom 13. April 2021) die Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nach summarischer Prüfung darüberhinausgehend auch unionsrechtswidrig sind.

Bei der Entscheidung ist insoweit letztlich und in erster Linie auf die Aussichten im Hauptverfahren abzustellen. Ist eine Klage offensichtlich begründet, wird die Anordnung in der Regel erlassen, ist sie offensichtlich unbegründet, wird sie in der Regel abgelehnt. Liegen schließlich beide Voraussetzungen nicht offensichtlich vor, ist darüber hinaus im Rahmen des Ermessens eine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei müssen in Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz die Gerichte bei der Auslegung der anzuwendenden Vorschriften der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung tragen und insbesondere die Folgen der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes berücksichtigen. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Insoweit reicht es in diesen Fällen aus, dass bei einer überschlägigen Prüfung der Sach- und Rechtslage Gründe dafürsprechen, dass ein Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung besteht (Anordnungsanspruch).

Dies deshalb, weil mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) u.a. vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02 und vom 19. März 2004, 1 BvR 131/04, das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition umso weniger zurückgestellt werden darf, je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt insoweit auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 25. Juli 1996, NVwZ 1997, Seite 479).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen mit dem HLSG (Beschluss vom 21. März 2007, L 7 AY 14/06 ER, mzwN) sodann aber auch nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Dies deshalb, weil Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System bilden.

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei diese regelmäßig dann zugunsten des Bürgers ausfällt, wenn dessen grundgesetzlich aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot herzuleitender Anspruch auf Führung eines menschenwürdigen Lebens gefährdet wäre. Insoweit sind grundrechtliche Belange eines Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die z.B. darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt. Denn im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (vgl. u.a. HLSG, Beschlüsse vom 27. Juli 2005, L 7 AS 18/05 ER und vom 19. Juni 2008, L 7 AS 32/08 B ER).

Die im Rahmen der summarischen Prüfung vorzunehmende umfassende Interessenabwägung führt insoweit, jedenfalls soweit dem Antrag stattgegeben worden ist, zum Überwiegen des Anordnungsinteresses des Antragstellers vor dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners, d.h., bei offenem Ausgang der Hauptsache überwiegen die Interessen des Antragstellers an der vorläufigen Leistungsgewährung.

Auf Grund der erheblichen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Absatz 7 SGG einerseits und der Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG andererseits sowie den daraus drohenden erheblichen Nachteilen des Antragstellers für dessen Existenzsicherung war dem Antrag vorliegend jedenfalls im entschiedenen Umfang stattzugeben.

Dabei war der Antrag mit dem HLSG (Beschluss vom 16. Februar 2020) selbst als Kombination eines Antrages nach § 86b Abs. 1 und § 86b Abs. 2 SGG auszulegen, da die Verfügungssätze der Feststellung der Pflichtverletzung und der Einschränkung des Leistungsanspruchs einerseits und der Verfügung der leistungsrechtlichen Umsetzung andererseits (entweder durch Änderungsbescheid oder einen Neubewilligungsbescheid in abgesenkter Höhe) zu unterscheiden sind und ein Widerspruch gegen die Feststellung der Einschränkung des Leistungsanspruchs keine aufschiebende Wirkung entfaltet, die Kammer also ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs am Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der Leistungen in einer die festgestellte Einschränkung übersteigenden Höhe gewährt werden, gehindert wäre. Umgekehrt ist mit dem HLSG (wie vor) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht hinreichend, da es in dieser Konstellation keine Leistungsbewilligung in beanspruchter Höhe gibt, die wiederaufleben könnte. Statthaft ist daher mit dem HLSG (wie vor) allein eine Kombination beider Anträge.

Teilweise war der geltend gemachte Antrag, die vorläufige Gewährung von nach der Regelbedarfsstufe 1 zu bemessenden Leistungen nach § 2 AsylbLG betreffend, aus den o.a. Gründen dann aber auch abzulehnen.

Die Kostenentscheidung folgt § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.