Tacheles Rechtsprechungsticker KW 46/2021

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II) und zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R

Grundsicherung für Arbeitssuchende – Einkommensberücksichtigung – Fahrkostenerstattung

Zur Berücksichtigung einer Fahrkostenpauschale, die der Leistungsberechtigte von seinem Arbeitgeber für betrieblich veranlasste Fahrten mit seinem privaten Kraftfahrzeug erhalten hat, als Einkommen nach dem SGB II.

Fahrkostenersatz durch einen Arbeitgeber ist Einkommen aus Erwerbstätigkeit

Leitsatz Redakteur von Tacheles e.V.
1. Fahrkostenersatz durch einen Arbeitgeber ist als Einkommen aus Erwerbstätigkeit iS des § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II bei der Berechnung des Alg II zu berücksichtigen.

2. Ist der Fahrkostenersatz Einkommen, sind hiervon die mit seiner Erzielung verbundenen notwendigen Aufwendungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB II vor seiner Berücksichtigung bei der Leistungsberechnung abzusetzen.

3. Pro gefahrenem Kilometer auf einem Betriebsweg steht ALG-II-Empfängern ein Absetzbetrag in Höhe von zehn Cent zu. Bei entsprechendem Nachweis können auch darüberhinausgehende höhere Fahrtkosten ebenfalls abgesetzt werden.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Bei Hartz-IV-Aufstockern gilt Fahrtkostenzuschuss als Einkommen: www.evangelisch.de

1.2 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 33/20 R

Grundsicherung für Arbeitssuchende – Einkommensberücksichtigung – Schülereinkommen

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Wird eine Erwerbstätigkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ferien ausgeübt bleibt allein privilegiert das in den Ferien erarbeitete Einkommen.

Quelle: www.bsg.bund.de

1.3 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 89/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Sozialgeldanspruch – Erwerbsminderungsrente – Sozialhilfe – Versicherungspauschale

Auch ein nichterwerbsfähiges Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, das Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII bezieht, kann grundsätzlich einen Anspruch auf Sozialgeld haben.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Auch ein nichterwerbsfähiges Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, das Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII bezieht, kann grundsätzlich einen Anspruch auf Sozialgeld haben. Es besteht insoweit allerdings ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis. Dies folgt aus § 19 Abs 1 Satz 2 und § 5 Abs 2 Satz 2 SGB II.

2. Dabei greift nachrangig ein Sozialgeldanspruch nur in dem Ausnahmefall, dass trotz der Erbringung von Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII eine Bedarfsunterdeckung verbleibt. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier – obwohl die Vorschriften des SGB II und SGB XII nicht aufeinander abgestimmt sind und die Bedarfsermittlung nach den Grundsätzen der sogenannten „gemischten Bedarfsgemeinschaft“ erfolgt – nicht vor.

3. Unterschiede zwischen dem SGB II und dem SGB XII bei der Einkommensanrechnung – wie sie vorliegend zur Begründung des Sozialgeldanspruchs geltend gemacht werden – können eine Bedarfsunterdeckung grundsätzlich nicht bewirken. Sie sind lediglich Ausdruck der Differenzierungen der jeweiligen Leistungssysteme aufgrund der mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Zwecke.

4. Ein Anspruch auf ergänzendes Sozialgeld ergibt sich auch nicht allein aufgrund des Abzugs der Versicherungspauschale des § 6 Abs 1 Nr 1 Alg II-V. Danach ist von dem Einkommen volljähriger Leistungsberechtigter ein Betrag in Höhe von 30 Euro monatlich für die Beiträge zu privaten Versicherungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II, die nach Grund und Höhe angemessen sind, als Pauschbetrag abzusetzen. Zwar hat die Regelung keine Entsprechung im SGB XII bzw der VO zu § 82 SGB XII gefunden. Dies führt jedoch nicht dazu, dass Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII nicht den Lebensunterhalt sichern. Der Pauschbetrag ist gerade keine zusätzliche, den Bedarf erhöhende Leistung.

5. Aus diesem Grunde erwächst ein Anspruch des Klägers auf – ergänzendes – Sozialgeld auch nicht daraus, dass seine Kfz-Haftpflichtversicherung nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II – anders als im SGB XII – abzugsfähig wäre.

Quelle: www.bsg.bund.de

1.4 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 16/20 R und B 14 AS 15/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Entschädigungszahlung – unangemessene Dauer – Gerichtsverfahren

Ist eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 GVG als Einkommen zu berücksichtigen?

Entschädigung wegen langen Gerichtsverfahrens mindert nicht Hartz IV

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Hartz-IV-Bezieher können eine erhaltene Entschädigung wegen eines zu langen dauernden Rechtsstreits mit dem Jobcenter behalten.

2. Entschädigungszahlungen wegen einer überlangen Verfahrensdauer sind nicht als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen.

Hinweis:
Entschädigung wegen langen Gerichtsverfahrens mindert nicht Hartz IV: www.evangelisch.de und www.juris.de

1.5 – BSG, Urt. v. 03.11.2021 – B 11 AL 6/21 R

Arbeitslosenversicherung – Kurzarbeitergeld – Grenzgänger – fiktiver Lohnsteuerabzug

Bundessozialgericht kippt Benachteiligung von Grenzgängern bei der Berechnung des Kurzarbeitergeldes – Ein Beitrag von Hans-Georg Herrmann

Das Bundessozialgericht hat am 03.11.2021 mit der Entscheidung B 11 AL 6/21 R die bisherige Handhabung der Bundesagentur für Arbeit bei der Berechnung von Kurzarbeitergeld für Grenzgänger verworfen und damit eine Benachteiligung französischer Grenzgänger bei Bezug von deutschem Kurzarbeitergeld beseitigt.

weiter auf www.anwalt.de und www.bsg.bund.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 22.06.2021 – L 4 AS 215/20 – Revision anhängig BSG B 4 AS 58/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – endgültige Entscheidung nach vorläufiger Leistungsbewilligung – Pflicht zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen – Rechtsfolgenbelehrung – Unvollständigkeit der Nachweise nach Ablauf der gesetzten Frist – Nullfestsetzung – Vorlage von Kontoauszügen erst im Klageverfahren

Orientierungssatz
1. Im Widerspruchsverfahren vorgelegte Unterlagen zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen sind bei abschließenden Entscheidungen nach § 41a Abs 3 SGB II zu berücksichtigen (vgl BSG vom 12.9.2018 – B 14 AS 4/18 R und B 4 AS 39/17 R = BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1). Offen gelassen hat das BSG, ob nach der abschließenden Entscheidung vorgelegte Nachweise noch zu berücksichtigen sind. (Rn.27)

2. § 41a Abs 3 S 4 SGB 2 hat nach Auffassung des Senats keine materielle Präklusionswirkung. Erst im Klageverfahren vorgelegte Kontoauszüge und Belege über Betriebseinnahmen und -ausgaben sind daher nicht unbeachtlich und noch zu berücksichtigen. (Rn.28)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 29.09.2021 – L 5 AS 275/21 B

Rechtsanwaltsvergütung

Leitsatz
1. Vertritt ein Rechtsanwalt mehrere Streitgenossen, die nicht alle einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, besteht zwar ein Vergütungsanspruch in Höhe der vollen Gebühren gegen die Staatskasse. Die Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG bestimmt sich aber nur nach der Zahl der Streitgenossen, für die Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.

2. Besteht gegen den Prozessgegner ein Anspruch auf teilweise Übernahme von außergerichtlichen Kosten, muss der Rechtsanwalt sich gemäß § 58 Abs. 2 RVG die erhaltenen Zahlungen anrechnen lassen. Dies gilt aber nur, soweit diese die von ihm vertretenen prozesskostenhilfebedürftigen Kläger betreffen.

3. Sowohl bei der Bestimmung des Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse als auch die Anrechnung erhaltener Zahlungen erfolgt keine kopfanteilige Berechnung (hier: Bewilligung von Prozesskostenhilfe für zwei von drei Klägern).

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

2.3 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 10.09.2021 – L 4 AS 381/21 B

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS), Mahnung, Festsetzung Mahngebühr

Leitsatz
Sowohl bei der Mahnung als auch der Festsetzung einer Mahngebühr handelt es sich um eine Angelegenheit, die in einem rechtlichen Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit nach dem SGB II steht. Sie sind keine Vollstreckungsmaßnahmen.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Bremen, Urteil vom 16. August 2021 (S 22 AS 754/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein zur Konkretisierung der Angemessenheit von Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Jobcenter zusammengestelltes Konzept, das z. B. zu mehreren Wohnungsmarkttypen mit unterschiedlichen Angemessenheitswerten innerhalb eines Vergleichsraums aufgrund einer „Clusteranalyse“ führt, erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Bejahung eines schlüssigen Konzepts.

Für eine solche, weitere Aufteilung von Städten und Gemeinden eines Vergleichsraums besteht keine rechtliche Begründung.

Durch die Bildung von Wohnungsmarkttypen können die Voraussetzungen für die Bildung und die Rechtsfolgen eines Vergleichsraums nicht geändert werden.

Bei unterschiedlichen Angemessenheitswerden für die Nettokaltmiete je nach Wohnungsmarkttyp könnte, weil bei einer Kostensenkungsaufforderung (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II) ein Umzug innerhalb des Vergleichsraums zulässig ist, eine solche Verfügung zu einem Umzug von einem Wohnungsmarkttyp mit niedrigeren Angemessenheitswerten in einen solchen mit einem höheren Standard und damit letztlich zu einer Erhöhung der vom Jobcenter hier zu finanzierenden Aufwendungen führen.

Die Bildung einzelner Wohnungsmarkttypen bedarf stets einer diesen Vorgang rechtfertigenden, sachlichen Herleitung.

Bei einer rechtlichen Angreifbarkeit eines entsprechenden, abstrakten Angemessenheitswerts muss dem Jobcenter stets Gelegenheit gegeben werden, diese rechtlichen Beanstandungen durch Stellungnahmen – ggf. nach weiteren, eigenen Ermittlungen – auszuräumen.

Eine fehlende Datenrepräsentativität, eine unzureichende Wiedergabe der tatsächlichen Verhältnisse des örtlichen Mietwohnungsmarkts, folgt daraus, wenn vom Jobcenter ganz überwiegend Mieten von Wohnungsgesellschaften erfasst wurden, sowie Mieten kleinerer und privater Vermieter durch die vom SGB II-Träger erfassten Rückläufe nicht im ausreichenden Maße eine Berücksichtigung erfahren. Bei diesem Verfahren wird nicht der gesamte Wohnungsmarkt einschließlich aller Vermietergruppen sachgerecht abgebildet.

Das Gebiet der Stadtgemeinde Bremen bildet in Sachen der Beurteilung der Angemessenheit von Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen akzeptablen Vergleichsraum, um einen ausreichend großen Raum der Wohnbebauung, der aufgrund seiner räumlichen Nähe, seiner Infrastruktur und insbesondere seiner verkehrstechnischen Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet.

Es stellt allerdings eine elementare Voraussetzung für die Schlüssigkeit eines Angemessenheitskonzepts dar, dass dort der gesamte Vergleichsraum abgedeckt ist und sich nicht durch soziale Segregation die Ausbildung von „Brennpunkten“ einstellt.

Eine unzulässige Separierung von einzelnen Wohnungstypen liegt vor, wenn in Bezug auf Mieten für Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus verfügt wird, diese Kosten der Unterkunft wären grundsätzlich in tatsächlicher Höhe anzuerkennen. Dies führt zu einer rechtswidrigen Privilegierung des sozialen Wohnungsbaus.

Wenn ein Jobcenter nicht in der Lage ist, in Sachen seines Angemessenheitskonzepts vertretene Beanstandungen vollständig – auch auf der Grundlage eigener Ermittlungen – auszuräumen, selbst wenn eine ausreichende Frist zur Stellungnahme eingeräumt wurde, dann liegt ein Ausfall von lokalen Erkenntnismöglichkeiten vor. Dies hat zur Folge, dass vom Jobcenter stets die tatsächliche Bruttokaltmiete bis zur Grenze der Höchstbeträge des § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von zehn v. H. gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzuerkennen ist.

Als notwendige Voraussetzung einer Kostensenkungsaufforderung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II hat ein Jobcenter erwerbsfähige Leistungsberechtigte insbesondere über die bestehenden Angemessenheitsgrenzen zu informieren und umfassende Kenntnis von notwendigen Kostensenkungsmaßnahmen zu vermitteln, sowie müssen die Alg-II-Empfänger über die subjektive Möglichkeit einer Absenkung ihrer unterkunftsbezogenen Aufwendungen verfügen.

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Mietobergrenzen für SGB-II-Leistungsbezieher in der Stadtgemeinde Bremen in der Zeit von März 2017 bis Juni 2021

Leitsatz (www.sozialgericht-Bremen.de)
Die in der Verwaltungsanweisung der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen der Freien Hansestadt Bremen zu § 22 SGB II, §§ 35, 36 SGB XII und AsylbLG für den Zeitraum März 2017 bis Juni 2021 festgesetzten Mietobergrenzen beruhen nicht auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.

Die fehlende Schlüssigkeit ergibt sich daraus, dass der Mietmarkt im Vergleichsraum nicht ausreichend den privaten Wohnungsmarkt abbildet und unterschiedliche Angemessenheitswerten im Vergleichsraum durch Wohnlagenzuschläge und die Privilegierung des sozialen Wohnungsbaus geregelt wurden.

Dementsprechend ist für den genannten Geltungszeitraum die seitens des Jobcenters Bremen nach § 22 Abs. 1 S. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu tragende Bruttokaltmiete nicht auf die dort festgesetzten Werte zu begrenzen.

Da für die Zeit ein Ausfall lokaler Erkenntnismöglichkeiten gegeben ist, ist zur Bestimmung der Obergrenze der angemessenen Bruttokaltmiete daher auf die um einen Sicherheitszuschlag i.H.v. 10% erhöhten Werte von § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) in der jeweils geltenden Fassung zurückzugreifen.

Rechtstipp:
Ebenso SG Bremen, Urteil v. 16.08.2021 – S 70 AS 2145/19

Quelle: dejure.org und www.sozialgericht-bremen.de

Anmerkung RA Fabian Rust 28757 Bremen-Vegesack:
Nachdem die MOG in der Stadtgemeinde Bremen bis März 2017 bereits gekippt wurde, jetzt auch für die Zeit ab März 2017 bis Juni 2021. Seit Juli 2021 liegt ein neues Konzept zur Mietdeckelung in Bremen vor, welches aus meiner Sicht auch nicht schlüssig ist.

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Pressemitteilung des Sozialgerichts Bremen vom 05.11.2021

Mietobergrenzen für SGB-II-Leistungsbezieher in der Stadtgemeinde Bremen in der Zeit von März 2017 bis Juni 2021 nicht rechtmäßig

weiter: www.sozialgericht-bremen.de

3.2 – Sozialgerichts Hildesheim, Urt. v. 30.09.2021 – S 26 AS 1381/20

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Mehrfachabsetzung Versicherungspauschale – Kindergeldnachzahlung

Bei einer Kindergeldnachzahlung ist für jeden Monat die Versicherungspauschale zu berücksichtigen (Redakteur von Tacheles e. V.).

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Auch wenn das Kindergeld im Rahmen einer Nachzahlung für mehrere Monate in nur einem Monat zufließt, ist für jeden Monatsbetrag die Versicherungspauschale von 30,- € abzusetzen (vgl. rechtlichen Hinweis des BSG in der mündlichen Verhandlung (B 4 AS 78/20 R Terminbericht v. 30.06.2021)

Hinweis:
Siehe dazu Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Robin von Eltz

Leistungen nach dem SGB II („Hartz4“): Die Anrechnung einer Nachzahlung von Kindergeld

1. Bedeutung in der Praxis
Bezieht eine Familie Leistungen nach dem SGB II („Hartz4“) und wird ein neues Kind geboren, wird meist auch direkt ein Antrag auf Kindergeld bei der Familienkasse gestellt. Häufig dauert es aber einige Monate bis die Familienkasse das Kindergeld bewilligt. In diesen Fällen kommt es zu einer Kindergeldnachzahlung, weil die Familienkasse das Kindergeld für die Monate ab Antragstellung nachzahlt.

Das Jobcenter wird das laufende Kindergeld und die Nachzahlung dann zuerst bei dem betreffenden Kind anrechnen. Soweit laufendes Kindergeld und Kindergeldnachzahlung mehr sind als der Bedarf des Kindes, wird der überschießende Teil bei dem kindergeldberechtigten Elternteil angerechnet.

2. Entscheidung des Sozialgerichts Hildesheim vom 30.09.2021 – S 26 AS 1381/20
Das Sozialgericht Hildesheim hat nun in einer durch unsere Kanzlei erstrittenen Entscheidung geurteilt, dass bei der Anrechnung der Kindergeldnachzahlung bei dem kindergeldberechtigten Elternteil die Versicherungspauschale von 30 € nicht nur einmal, sondern mehrfach, nämlich für jeden Monat der Nachzahlung abzuziehen ist.

In dem Fall war die Kindergeldnachzahlung für die Monate Februar bis April zusammen mit der laufenden Kindergeldnachzahlung für Mai erfolgt, insgesamt ein Betrag 940 €. Das Jobcenter hatte bei der Anrechnung lediglich für Mai einmal die Versicherungspauschale von 30 € in Abzug gebracht. Das Gericht entschied nun, dass auch für die Monate Februar bis April die Versicherungspauschale von 30 € zu berücksichtigen ist, also weitere 90 € vor der Anrechnung abgezogen werden müssen.

3. Begründung des Gerichts
weiter auf www.anwalt.de und www.rechtsanwalt-von-eltz.de

Rechtstipp Redakteur von Tacheles e. V.:
Ebenso LSG BB, Urt. v. 17.09.2015 – L 31 AS 1571/15 und zur Krankengeldnachzahlung: SG Cottbus, Gerichtsbescheid vom 23. Januar 2018 (Az.: S 31 AS 1324/15):

Orientierungssatz RA Dr. Jens Lehmann
Versicherungspauschale ist bei „aufgestauter“ Nachzahlung von Krankengeld pro Monat abzusetzen: Grundsätze des BSG, 17.07.2014 – B 14 AS 25/13 R gelten unabhängig von der Einkommensart

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Gießen, Gerichtsbescheid v. 05.11.2021 – S 20 AL 70/21

AL, allgemeines Verwaltungsrecht, Sozialverwaltungsrecht

Leitsatz
Ein Prozessbeteiligter hat keinen materiell-rechtlichen Anspruch auf Akteneinsicht in die elektronische Verwaltungsakte der prozessbeteiligten Behörde, wenn ihm das Gericht seinerseits bereits vollständige elektronische Akteneinsicht gewährt hat.

Ein Beteiligter hat jedenfalls bei elektronischen Verwaltungsakten keinen Anspruch auf Übermittlung einer paginierten Fassung.

Ein Beteiligter hat keinen Anspruch auf Übersendung eines papierhaften Ausdrucks einer elektronischen Verwaltungsakte.

Quelle: www.rv.hessenrecht.hessen.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylBL

5.1 – SG Bremen, Beschluss v. 23.04.2021 – S 39 AY 44/21 ER

Leistungseinschränkung § 1a Abs. 3 AsylblG

Leitsatz (www.sozialgericht-bremen.de)
Bei Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 3 AsylblG sind neben der notwendigen Befristung nach § 14 AsylblG auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 zu beachten (vgl. insoweit LSG Sachsen, Beschluss vom 3. März 2021 – 8 AY 8/20 B ER).

Quelle: www.sozialgericht-bremen.de

5.2 – LSG Bayern, Beschluss v. 23.08.2021 – L 19 AY 72/21 B ER

§ 1a AsylbLG ist verfassungswidrig – u.a. mit Bezugnahme auf BVerfG 12.5.21 – 1 BvR 2682/17 (Norm, die sozikulturelle Bedarfe ausschließt ist verfassungswidrig) – im Eilverfahren daher Leistungen nach § 3 zu gewähren

Quelle: RA Volker Gerloff

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Anmerkung zu: BSG 4. Senat, Urteil vom 30.06.2021 – B 4 AS 76/20 R

Autor: Dr. Andreas Jüttner, RiSG als ständiger Vertreter des Direktors

Berücksichtigung von Beiträgen des Mieters zu einer Privathaftpflichtversicherung im Rahmen der KdUH

Orientierungssatz zur Anmerkung
Die Kosten einer Privathaftpflichtversicherung sind als Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen, wenn der Vermieter den Nachweis einer solchen Versicherung zur Bedingung macht.

weiter auf Juris

6.2 – Wahl zwischen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege – Anmerkung zum Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 3. Mai 2021, L 8 SO 47/21 B ER

Der Autor Roland Rosenow bespricht in diesem Beitrag den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 3. Mai 2021, Az. L 8 SO 47/21 B ER. Das Gericht hat in dem Verfahren entschieden, dass Im Rahmen der vorrangigen Selbsthilfe (§ 2 Abs. 1 SGB XII) keine „Obliegenheit“ zur Stellung eines Antrags auf Eingliederungshilfe besteht. Es argumentiert u. a. mit der UN-Behindertenrechtskonvention und den Ausführungen des BVerfG zu Sanktionen im Sozialrecht. Der Autor begrüßt die Entscheidung und setzt sich insbesondere mit den praktischen Folgen für die Wahl zwischen zwei gleichermaßen bedarfsdeckenden Leistungssystemen und den Voraussetzungen für Eilrechtsschutz auseinander.

Quelle: www.reha-recht.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker