Sozialgericht Fulda – Beschluss vom 11.07.2022 – Az.: S 7 AY 10/22 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

1. xxx,

Antragstellerin,

2. xxx,

Antragstellerin,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Hersfeld-Rotenburg,
vertreten durch den Kreisausschuss,
Friedloser Straße 12, 36251 Bad Hersfeld,

Antragsgegnerin,

hat die 7. Kammer des Sozialgerichts Fulda am 11. Juli 2022 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen ab 10.05.2022 bis 31.12.2022 vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG in gesetzlicher Höhe und, soweit es den Leistungsanspruch der Antragstellerin zu 1. betrifft, unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 zu erbringen.

2. Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die am xx.xx.1980 geborene Antragstellerin zu 1. und ihre am xx.xx.2009 geborene Tochter, die Antragstellerin zu 2., welche die nigerianische Staatsangehörigkeit besitzen, reisten erstmals am xx.xx.2018 aus Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 21.08.2018 wurden die Antragstellerinnen dem Landkreis Hersfeld-Rotenburg zugewiesen. Mit Bescheid vom 06.02.2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anträge der Antragstellerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz ab. Die Antragstellerinnen sind seit 16.02.2019 vollziehbar ausreisepflichtig und verfügen aktuell über eine bis 20.07.2022 gültige Duldung.

Der Antragsgegner gewährte den Antragstellerinnen erstmals mit Bescheid vom 30.08.2018 laufende Leistungen nach § 3 AsylbLG. Zum 29.02.2020 stellte der Antragsgegner die Leistungen wieder ein, nachdem er zuvor davon Kenntnis erlangt hatte, dass die Antragstellerinnen freiwillig nach Italien zurückgekehrt seien. Am 01.10.2020 kehrten die Antragstellerinnen in den Landkreis Hersfeld-Rotenburg zurück und wohnen seit 08.10.2020 in einer Gemeinschaftsunterkunft in Bad Hersfeld. Ein von den Antragstellerinnen gestellter Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.10.2020 abgelehnt, woraufhin die Antragstellerinnen am 03.11.2020 Klage zum Verwaltungsgericht Kassel erhoben.

Mit Bescheid vom 16.10.2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellerinnen erneut Leistungen nach dem AsylbLG ab 01.10.2020. Der Antragstellerin zu 1. wurden insoweit abgesenkte Leistungen gemäß § 1a Abs. 4 S. 3 in Verbindung mit §§ 1 Abs. 1; 14 AsylbLG gewährt und der Antragstellerin zu 2. Leistungen nach § 3 AsylbLG. Zur Begründung führte der Antragsgegner aus, dass die Antragstellerin zu 1. ein bis 14.11.2027 gültiges Aufenthaltsrecht in Italien, einem Mitgliedstaat der EU, besitze, während die Antragstellerin zu 2. ein bis 04.10.2022 gültiges Aufenthaltsrecht in Italien besitze. Es sei auch keine Rede davon, dass dieses Aufenthaltsrecht nicht fortbestehe. Gemäß § 1a Abs. 4 S. 3 AsylbLG könnten der Antragstellerin zu 1. nur noch Leistungen nach § 1a Abs. 1 AsylbLG gewährt werden. Daneben führte der Antragsgegner aus, dass die Antragstellerin zu 1. auch zum Zwecke der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG eingereist sei. Die eingeschränkte/sanktionierte Leistungsgewährung erfolge zunächst für sechs Monate. Danach erfolgte eine erneute Prüfung.

Nachdem den Antragstellerinnen am 14.10.2020 eine bis zum 13.01.2021 gültige Duldung erteilt wurde, führte der Antragsgegner mit Änderungsbescheid vom 27.10.2020 aus, dass aufgrund der zwischenzeitlich erteilten Duldung eine Leistungseinschränkung bei der Antragstellerin zu 1. nach § 1a Abs. 4 S. 3 in Verbindung mit § 1a Abs. 1 in Verbindung mit § 14 AsylbLG nicht mehr angewendet werden könne. Es lägen allerdings die Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG vor, da die Antragstellerin zu 1. in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen. Die Leistungskürzung erfolge gemäß § 14 AsylbLG bis einschließlich 13.04.2021. Seit dem14.04.2021 erhalten die Antragstellerinnen wieder ungekürzte Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Der Antragstellerin zu 1. werden insoweit Grundleistungen in Höhe der Bedarfssätze nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 gewährt. Der Antragstellerin zu 2. werden Grundleistungen in Höhe der Bedarfssätze nach § 3a Abs. 1 Nr. 4 und nach Abs. 2 Nr. 5 AsylbLG gewährt. Der letzte in der Verwaltungsakte des Antragsgegners enthaltene Leistungsbescheid, bezeichnet als Änderungsbescheid, datiert vom 29.12.2021 und betrifft die Neuberechnung der den Antragstellerinnen gewährten Leistungen für den Monat Januar 2022 in Höhe von insgesamt 613 €. Der Bescheid enthält folgende allgemeine Hinweise:

„Die bewilligte(n) Leistung(en) wird (werden) zunächst nur für einen Zeitraum von einem Monat und unter dem Vorbehalt gewährt, dass sich die vom Hilfesuchenden bzw. Leistungsempfänger angegebenen und der Bewilligung zu Grunde gelegten Verhältnisse nicht ändern. Tritt keine Änderung ein, so erfolgt ohne Antrag aufgrund stillschweigender monatlicher Neubewilligung die Weiterzahlung der bisher bewilligten Leistung(en) in der in diesem Bescheid angegebenen Höhe. Treten jedoch Änderungen in den Verhältnissen eine und erfolgt dadurch eine gesetzlich nicht gerechtfertigte Zahlung, so ist diese zu erstatten, soweit sie der Hilfesuchende/Leistungsempfänger zu vertreten hat. Ist der Leistungsbezug befristet, so endet die Zahlung mit Ablauf des angegebenen Zeitpunktes.“

Mit Schreiben ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 31.01.2022 erhoben die Antragstellerinnen Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.12.2021. Der Widerspruch wurde bislang noch nicht beschieden.

Darüber hinaus erhoben die Antragstellerinnen bereits mit Schreiben vom 25.12.2021 Widerspruch gegen die monatliche Leistungsbewilligung und stellten einen Antrag nach § 44 SGB X mit dem Ziel der Bewilligung höherer Leistungen nach dem AsylbLG für den Monat Februar 2020 und die Zeit von Oktober 2020 bis Dezember 2020 sowie für das gesamte Jahr 2021. Die Antragstellerin zu 1. begehrte insoweit Leistungen unter Anerkennung eines Regelbedarfs nach der Regelbedarfsstufe 1. Das Regierungspräsidium Kassel als zuständige Widerspruchsbehörde wies den vorgenannten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.03.2022 als unbegründet zurück, woraufhin die Antragstellerinnen am 22.04.2022 Klage zum Sozialgericht Fulda erhoben. Das Klageverfahren wird dort unter dem Aktenzeichen S 7 AY 6/22 geführt.

Am 10.05.2022 wandten sich die Antragstellerinnen mit dem vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht Fulda.

Die Antragstellerinnen sind der Auffassung, einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu haben. Daneben ist die Antragstellerin zu 1. der Auffassung, einen Anspruch auf Leistungen der Regelbedarfsstufe 1 zu haben. Die Antragstellerin zu 1. verweist insoweit auf den Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 13.04.2021 zu dem Aktenzeichen L 4 AY 3/21 B ER.

Die Antragstellerinnen beantragen:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerinnen vom 31.01.2022 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29.12.2021 (Az.: 4.30-A531-222356) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

Der Antragsgegner trägt vor, dass es gesetzlich vorgesehen sei, dass Alleinstehende in Gemeinschaftsunterkünften der Regelbedarfsstufe 2 zugeordnet werden. Auch wenn diese Einstufung für verfassungswidrig gehalten werde, entspreche sie der derzeitigen Gesetzeslage. Abzuwarten sei insoweit die Entscheidung des Vorlagebeschlusses durch das Bundesverfassungsgericht. Weiterhin ist der Antragsgegner der Auffassung, dass der Antragstellerin zu 1. aufgrund der sonstigen Leistungen in dem Zeitraum 01.10.2020 bis 13.04.2021 erst ab dem 14.10.2022 Leistungen nach § 2 AsylbLG gewährt werden könnten, da Leistungen nach § 1a AsylbLG einen Rechtsmissbrauch im Sinne des § 2 AsylbLG darstellten. Lediglich die Antragstellerin zu 2. habe rückwirkend ab dem 01.04.2022 einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG, da sie seit dem 01.10.2020 Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG beziehe.

Auf die Aufforderung des Gerichts vom 30.06.2022 den entsprechenden Änderungsbescheid im Hinblick auf die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG an die Antragstellerin zu 2. vorzulegen, erfolgte keine weitere Rückmeldung des Antragsgegners.

Für das weitere Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.

II.

Der vorliegende Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, mit welchem die Antragstellerinnen die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerbergesetz sowie, soweit es die Antragstellerin zu 1. anbelangt, unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 begehren, ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach Satz 2 dieser Bestimmung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein. Es muss daher eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (HLSG, Beschluss vom 18.06.2008 – L 6 AS 41/08 B ER m.w.N.). Eine solche Notlage ist vor allem bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 86b, Rn. 28). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (HLSG, a. a. O.; Keller a. a. O., Rn. 27 u. 29 m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (HLSG, a. a. O.). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Soweit existenzsichernde Leistungen im Streit stehen und schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern muss abschließend geprüft werden. Ist dem Gericht in derartigen Fällen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist ebenfalls anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei allerdings die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen sind (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, NVwZ 2005, 927-929).

Hieran gemessen haben die Antragstellerin sowohl das Bestehen eines Anordnungsanspruchs als auch das Bestehen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Die Antragstellerinnen haben einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Antragstellerinnen sind gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5, 6 AsylbLG leistungsberechtigt im vorgenannten Sinne. Darüber hinaus haben die Antragstellerinnen das Erfordernis des Aufenthalts von mindestens 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet mit Ablauf des 31.03.2022 erfüllt. Schließlich vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass die Antragstellerinnen die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Der Begriff des Rechtsmissbrauchs enthält eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden. Diesem Tatbestandsmerkmal des § 2 AsylbLG liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), führt zum Ausschluss von Analog-Leistungen. Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, S 121) als typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs an, es sei denn, sie wären ihrerseits eine Reaktion auf oder eine vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates. Nicht hinreichend ist die bloße Ausnutzung einer Verfahrensposition durch Nichtausreise. So liegt nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung) ein Rechtsmissbrauch, sondern unter Umständen in den Gründen, die hierzu geführt haben. Der Aufenthaltsstatus (Duldung) ist für die Beantwortung der Frage, ob der Ausländer seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, unerheblich. Hat der Ausländer diese Gründe zu vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden. Ein Rechtsmissbrauch im oben genannten Sinn kann weiterhin nur vorliegen, wenn der Ausländer sich hierüber auch bewusst ist; ein bloß fahrlässiges Verhalten für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs genügt nicht. Vielmehr setzt der Vorwurf sowohl Vorsatz bezüglich der tatsächlichen Umstände als auch der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts voraus (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER –, juris, Rn. 16 ff. m.w.N.).

Das Gericht vermag bereits nicht zu erkennen, inwieweit vorliegend der objektive Missbrauchstatbestand des § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt sein sollte. Soweit der Antragsgegner hierzu die Auffassung vertritt, das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG begründe für sich genommen bereits einen Rechtsmissbrauch, vermag sich das Gericht dieser nicht weiter begründeten Auffassung nicht anzuschließen, da der Gesetzgeber dann bereits die entsprechenden Alternativen des § 1a AsylbLG ausdrücklich als Regelbeispiele für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in § 2 AsylbLG aufgenommen hätte. Darüber hinaus bleibt ungeachtet der verfassungsrechtlichen Bedenken des Hessischen Landessozialgerichts an der Anwendbarkeit von § 1a Abs. 2 AsylbLG (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. März 2020 – L 4 AY 4/20 B ER –, juris) zu beachten, dass der Antragsgegner im Zusammenhang mit der Wiedereinreise der Antragstellerinnen im Oktober 2020 keinerlei Ermittlungen zum Motiv der Wiedereinreise anstellte. Das Motiv der Wiedereinreise geht daneben auch aus dem sonstigen Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte nicht hervor, so dass bereits mangels Feststellbarkeit der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1a Abs. 2 AsylbLG diese Alternative der Anspruchseinschränkung im vorliegenden Fall von vornherein kein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG darstellen kann. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerinnen die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben, sind nicht erkennbar.

Das Gericht ist daneben zu der Auffassung gelangt, dass § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, wonach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Verbindung mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz und den §§ 28a, 40 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch auf Leistungsberechtigte nach Satz 1 mit den Maßgaben entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Absatz 1 des Asylgesetzes oder in einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Absatz 1 des Asylgesetzes für jede erwachsene Person ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, im Wege der teleologischen Reduktion nicht auf Wohnsituationen Anwendung findet, in denen die Betroffenen nicht tatsächlich mit zumindest einer Person zusammen wirtschaften. Das Gericht schließt sich insoweit in vollem Umfang den überzeugenden Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts in dessen Beschluss vom 13.04.2021 zu dem Aktenzeichen L 4 AY 3/21 B ER (juris, Rn. 39 ff., 51 ff.) an.

Die Voraussetzungen des im vorgenannten Sinne verfassungskonform ausgelegen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG sind nicht erfüllt. Das Gericht kann weder anhand des Inhalts der vorliegenden Verwaltungsakte noch anhand des Vortrages der Beteiligten erkennen, dass die Antragstellerinnen in einer Wohnsituation leben, in der die Antragstellerin zu 1. zumindest mit einer anderen Bewohnerin /einem anderen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft zusammen wirtschaftet. Der Antragstellerin zu 1. sind dementsprechend Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Zugrundelegung der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Der Anordnungsgrund für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung wurde daneben ebenfalls hinreichend glaubhaft gemacht und liegt aufgrund einer monatelangen und nicht lediglich einmaligen bzw. unerheblichen Bedarfsunterdeckung der Antragstellerinnen auf der Hand.

Die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgt nach alledem antragsgemäß ab Antragstellung bei Gericht. Das Gericht erachtet es vorliegend für angemessen, den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellerinnen zunächst bis zum 31.12.2022 Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG im vorgenannten Umfang zu erbringen, da davon auszugehen ist, dass ein eventuelles Beschwerdeverfahren bis dahin abgeschlossen sein wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.