Tacheles Rechtsprechungsticker KW 41/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 06.10.2022 – B 8 SO 1/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen – rückwirkende Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung – Antrag – bestandskräftige Ablehnung

Anspruch auf Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ab dem Zeitpunkt der Feststellung der vollen Erwerbsminderung (Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.).

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII stellt nicht auf den Zeitpunkt einer bescheidmäßigen Feststellung der vollen Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger ab, sondern darauf, dass die betreffenden Personen voll erwerbsgemindert sind.

2. Am erforderlichen rechtzeitigen Antrag fehlt es nicht. Indem der Kläger beim Jobcenter des Beklagten unter Hinweis auf seine fortlaufende Arbeitsunfähigkeit und seine fortschreitende Krebserkrankung eine SGB-XII-Leistung beantragt hat, ist auch der erforderliche Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII gestellt gewesen.

Quelle: www.bsg.bund.de

1.2 – BSG, Urt. v. 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R

Kosten der Unterkunft – Anrechnung von Einkommen – Angemessenheit – schlüssiges Konzept

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Zurückweisung an das LSG.

2. Eine Kostensenkungsaufforderung muss auch für den nichtleistungsberechtigten Ehegatten (§ 35 Abs 2 Satz 1 SGB XII) ergehen.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Unterkunftskosten für Sozialhilfeempfänger

weiter auf beck.de/aktuell

1.3 – BSG, Urt. v. 06.10.2022 – B 8 SO 2/21 R

Nothelferanspruch – Kostenübernahme – stationäre Notaufnahme – Abtretung – Prozessstandschaft

Zum Vorliegen einer den Nothelferanspruch nach § 25 SGB XII ausschließenden Kenntnis des Sozialhilfeträgers von den Leistungsvoraussetzungen

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Kein Anspruch als Nothelferin (§ 25 SGB XII), weil die Beklagte bereits am ersten Behandlungstag Kenntnis von der eventuellen Notlage der Patientin hatte und damit ggf Ansprüche der Patientin auf Hilfe bei Krankheit (vgl § 19 Abs 3, § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm § 48 Satz 1 SGB XII; § 23 Abs 3 Satz 5 SGB XII) unmittelbar einsetzten (vgl § 18 Abs 1 SGB XII; BSG vom 23.8.2013 – B 8 SO 19/12 R).

2. Ein Anspruch der Klägerin kann auch nicht aus der Abtretungserklärung der Patientin hergeleitet werden, weil Sozialhilfeansprüche nicht übertragbar sind (§ 17 Abs 1 Satz 2 SGB XII).

Quelle: www.bsg.bund.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.08.2022 – L 1 AS 401/18

Leitsätze
Der Nachweis einer überwiegend betrieblichen Nutzung eines privaten Kfz i.S.d. § 3 Abs. 7 S. 3 Alg II-V kann in Anlehnung an die steuerrechtliche Praxis durch ein Fahrtenbuch oder in anderer geeigneter Form erfolgen. Wird ein Fahrtenbuch vorgelegt, muss dieses zeitnah und in geschlossener Form unter Angabe von Datum und Fahrtziel sowie der jeweils aufgesuchten Kunden/Geschäftspartner bzw. des konkreten Gegenstands der dienstlichen Verrichtung geführt werden. Außerdem muss es die zu erfassenden Fahrten einschließlich des an ihrem Ende erreichten Gesamtkilometerstands vollständig und in ihrem fortlaufenden Zusammenhang wiedergeben.

Nicht allein ausreichend für den Nachweis einer überwiegend betrieblichen Nutzung ist das Innehaben einer Reisegewerbekarte.

Der Beitrag zu einer Gewerbehaftpflichtversicherung ist bei einem selbstständig Tätigen als Absetzungsbetrag und nicht als Betriebsausgabe zu berücksichtigen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG NRW, Urt. v. 02.03.2021 – L 7 AS 395/21

Weihnachtszuwendung von T e.V. ist auch Einkommen bei nicht erwerbsfähigen Leistungsempfängern

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Weihnachtszuwendungen von aufstockenden Leistungsempfängern sind als Einkommen zu berücksichtigen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 30.08.2017 – L 32 AS 1605/15).

2. Für nicht erwerbstätige Leistungsempfänger gilt unter Berücksichtigung des in § 111b SGB II verankerten Lohnabstandsgebots nichts anderes.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.08.2022 – L 29 AS 1321/17

Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft durch den Grundsicherungsträger

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft ist – nicht am Maßstab der WAV zu messen. Dass den bis Juni 2015 weiter angewandten Richtwerttabellen der WAV ein schlüssiges Konzept hinsichtlich der Ermittlung der Nettokaltmiete zugrunde lag, lässt sich ebenso wenig feststellen wie für die AV-Wohnen 2015.

2. Bei Fehlen eines schlüssigen Konzepts ist zur Ermittlung der angemessenen Referenzmiete auf die Tabellenwerte des § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitsabschlags von 10 % zurückzugreifen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur:
vgl. dazu LSG BB, Urteil vom 7. April 2022 – L 10 AS 2286/18 – zu einem die Zeiträume März bis Dezember 2015 und Februar bis Juli 2016; LSG BB, Urteil vom 16. März 2022 – L 1 AS 456/21 WA – zum Bewilligungszeitraum Dezember 2016 bis Juli 2017 und der 18. Senat mit Urteil vom 10. August 2022 – L 18 AS 225/20 – zum Bewilligungszeitraum August 2017 bis Juli 2018 (soweit ersichtlich unveröffentlicht)

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG München, Urt. v. 07.09.2022 – S 40 AS 1478/21

Leitsätze
§ 67 Abs. 3 S. 1 SGB II ist auf Umzüge aus Unterkünften mit angemessenen Kosten von vornherein nicht anwendbar. Insbesondere erfolgt bei nicht notwendigen Umzügen gegebenenfalls eine Deckelung gemäß § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.2 – SG Schleswig, Urt. v. 10.08.2022 – S 35 AS 635/18 – anhängig beim BSG B 7 AS 21/22 R

SG Schleswig: Aufrechnung Strom gegen Gas nicht rechtens

Beziehen Leistungsempfänger nach dem SGB II Strom und Gas vom selben Anbieter und rechnet dieser in der Jahresabrechnung ein vorhandenes Stromguthaben gegen eine Heizkostennachforderung auf, muss der SGB II-Leistungsträger die gesamte Heizkostennachforderung übernehmen und nicht nur den um das Stromguthaben geminderten Betrag (Mitteilung LSG Schleswig-Holstein)

weiter zur Quelle dieser Meldung: www.soziale-schuldnerberatung-hamburg.de

Siehe auch dazu Presseerklärung des LSG Schleswig-Holstein v. 30.09.2022

Anmerkung Redakteur von Tacheles e. V.:
Im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 40/2022 habe ich auf eine Entscheidung des LSG Schleswig -Holstein hingewiesen, was somit falsch war, also mein Fehler.

Näheres dazu im o. g. Beitrag.

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Diese Frage war schon mal anhängig beim BSG, blieb aber in der Sache unbeantwortet

SG Schleswig, Urt. v. 25.11.2020 – S 9 AS 639/18 Revision anhängig BSG – B 4 AS 8/21 R

Ist eine Heizkostennachforderung auch dann in voller Höhe als Bedarf für Unterkunft und Heizung anzuerkennen, wenn der Energieversorger sie mit einem Stromkostenguthaben verrechnet und sich der Nachzahlungsbetrag dadurch verringert hat?

Zitat aus Juris: “Aus dem Umstand, dass die Klägerin Strom und Gas aus einer Hand bezieht, darf ihr kein bedarfsrelevanter Nachteil entstehen (so für das SGB XII: SG Schleswig, Urteil vom 28. September 2017, S 15 SO 122/16 und bestätigend LSG Schleswig-​Holstein, Urteil vom 24. September 2020, L 9 SO 72/17).

Das BSG hat mit Beschluss v. 11.04.2022 wie folgt entschieden: www.rechtsprechung-im-internet.de

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Düsseldorf, Urt. v. 10.08.2022 – S 21 AL 152/21

Voraussetzungen für den Bezug von Kurzarbeitergeld liegen vor – Pandemie – keine Regelung, dass nur bereits lange bestehende Beschäftigungsverhältnisse insoweit schutzbedürftig sind

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Einen Grundsatz, nach dem Neugründungen in einer Pandemie nicht unter den Schutz der staatlichen Schutzsysteme – wie auch dem Kurzarbeitergeld – fallen, gibt es nicht.

2. Eine Regelung, dass nur bereits lange bestehende Beschäftigungsverhältnisse insoweit schutzbedürftig sind, ist dem Gesetzeswortlaut und dem Willen des Gesetzgebers nicht zu entnehmen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG NSB, Urt. v. 07.07.2022 – L 8 SO 277/18

Kein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung wegen einer sog. Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizensensivität (NCGS)

1. Zur Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes bei der Auslegung von Rechtsbehelfen.

2. Der Anspruch auf Anerkennung eines (höheren) Mehrbedarfs nach § 30 Abs 5 SGB XII kann einen abtrennbaren Streitgegenstand darstellen.

3. Ein Beteiligtenwechsel wegen der gesetzlichen Änderung der sachlichen Zuständigkeit kommt für in der Vergangenheit geltend gemachte Ansprüche nicht in Betracht, wenn durch die Gesetzesänderung keine umfassende Funktionsnachfolge erfolgt ist (vgl. auch BSG v. 18.11.2015 – B 9 V 1/15 R – juris Rn. 14).

4. Zur Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 30 Abs 5 SGB XII; hier verneint für die sog Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität bzw. Nicht-Zöliakie-Weizensensivität (NCGS).

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

5.2 – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Januar 2022 (L 9 SO 12/22 B ER und L 9 SF 2/22 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Das Recht der Eingliederungshilfe (§§ 90 ff. SGB IX) geht grundsätzlich davon aus, dass die Erbringung von Leistungen durch Dritte im Wege des sog. sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses erfolgt. In diesem Rahmen sind insgesamt drei verschiedene Rechtsverhältnisse zu unterscheiden:

Zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Leistungserbringer (Erfüllungsverhältnis), b) dem Leistungsberechtigten und dem Träger der Eingliederungshilfe (Grundverhältnis) sowie c) zwischen dem Leistungserbringer und der Träger der Eingliederungshilfe (Leistungsverschaffungsverhältnis).

Mit dieser grundsätzlichen Ausgestaltung der Leistungserbringung geht ein Vorrang des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses und ein Verbot der Durchführung von Vergabeverfahren einher.

Der Sinn und Zweck des Regelungssystems der §§ 123 ff. SGB IX besteht in der Gewährleistung einer Trägervielfalt, die im Interesse der Qualitätssicherung und der Realisierung des Wunsch- und Wahlrechts leistungsberechtigter Personen (§ 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) bestehen soll.

Über die Einleitung von Vergabeverfahren soll regelmäßig eine Beschränkung der Leistungserbringung auf einige wenige, ggf. einzelne im Wege der Vergabe ausgewählte Leistungserbringer bewirkt werden. Diese Zielfunktion steht im Widerspruch zu allgemeinen sozial- und eingliederungshilferechtlichen Grundsätzen.

Der Gesetzgeber geht im Geltungsbereich der §§ 123 ff. SGB IX von einer Nichtanwendung dieses Beschaffungsinstruments aus. Die in diesem Vertragsrecht geregelten Sachleistungen unterliegen dem Vereinbarungsprinzip nach § 123 SGB IX, für die derzeit Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen sind.

Eine von einem Träger der Eingliederungshilfe getätigte Ausschreibung in Sachen „Einsatz von Integrationshelfern an Schulen für Kinder mit Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe“ für die Schuljahre 2022/23 und 2023/24, in der der Zuschlag für das wirtschaftlichste Angebot in besonderer Gewichtung des Preises und in Berücksichtigung des Faktors „Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung“ erteilt werden soll, ist deshalb als rechtswidrig zu erachten.

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – LSG Bayern, Beschluss v. 06.09.2022 – L 8 AY 73/22 B ER

Leitsätze
1. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG setzt ein vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten voraus.

2. Der Leistungsberechtigten muss die Leistungseinschränkung durch eigenes zumutbares Tun abwenden können; insbesondere muss die Rückkehr in den nach der Dublin III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat – hier Bulgarien – zumutbar sein.

3. Die Rechtsfolge des § 1a Abs. 1 Satz 2 und 3 AsylbLG bedarf der verfassungskonformen Auslegung.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 – Vermieter hat keinen eigenen Anspruch gegen Sozialhilfebehörde auf Mietzahlungen – Ein Beitrag von RA Michael Dligatch

Was vielen Vermietern nicht klar ist, ist der Umstand, dass der Vermieter gegen die Sozialbehörde keinen eigenen Anspruch auf Zahlung der Miete hat. Der Anspruch steht ausschließlich dem bedürftigen Mieter zu. Sofern die Sozialhilfebehörde direkt an den Vermieter leistet, erfüllt die Behörde damit eine sozialrechtliche Pflicht gegenüber dem bedürftigen Mieter, nicht aber eine mietrechtliche Pflicht gegenüber dem Vermieter. Der Vermieter kann somit nicht aus eigenem Recht Zahlungen von der Behörde fordern. Schuldner der Mietzahlungen ist stets der Mieter. Verschiedene Urteile in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung bestätigen das (vgl. etwa LSG München, Urt. v. 12.10.2017, Az. L 7 AS 326/17 ZVW, LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 03.02.2022, Az. L 11 AS 578/20)

Dies ist praktisch bedeutend etwa in folgenden Konstellationen:

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker