Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 17.08.2023 – Az.: S 11 AY 45/23

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Kassel,
vertreten durch den Kreisausschuss,
Fachbereich Aufsicht und Ordnung,
Wilhelmshöher Allee 19-21, 34117 Kassel,

Beklagter,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 17. August 2023 durch den Vorsitzenden, Richter xxx, beschlossen:

Der Beklagte hat dem Kläger seine Kosten zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Der Kläger begehrte ursprünglich Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.03.2020 bis zum 31.08.2020.

Der Beklagte bewilligte dem in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Kläger Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 (Bescheid vom 25.06.2020, teilweise aufgehoben durch Bescheid vom 28.08.2020). Der dagegen am 03.06.2020 erhobene und auf Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 gerichtete Widerspruch, der sich nur auf den Zeitraum vom 01.03.2020 bis 30.04.2020 bezog, blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10.09.2020). Auch der gegen den Bescheid vom 28.08.2020 unter dem unter dem 04.09.2020 erhobene und weiterhin auf Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 gerichtete, sich nunmehr aber auf den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.03.2020 bis zum 31.08.2020 erstreckende Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 09.12.2020).

Der Kläger hat bereits am 24.09.2020 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben.

Er trug vor, die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 auf ihn sei verfassungswidrig.

Das Gericht hat PKH bewilligt und das Ruhen des Verfahrens angeordnet, da Berufungsverfahren und eine Vorlage nach Art. 100 GG betreffend die hier streitige Rechtsfrage anhängig waren (Beschluss vom 23.02.2021).

Nach Ergehen der Entscheidung des BVerfG zum Aktenzeichen 1 BvL 3/21 vom 19.10.2022 hat der Beklagte ein Anerkenntnis in Höhe der Differenz zwischen der Regelbedarfsstufe 1 und der Regelbedarfsstufe 2 abgegeben und sich zur Übernahme von 31 % der Kosten des Klägers bereiterklärt. Hierzu hat er Bezug genommen auf den Abhilfebescheid vom 08.03.2023.

Der Kläger hat das Anerkenntnis zur Erledigung des Rechtsstreits angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen für erledigt erklärt.

Er beantragt nunmehr,
zu entscheiden, dass der Beklagte dem Kläger seine Kosten zu erstatten hat.

Die Beklagte trägt vor, dass eine volle Kostentragung nicht angemessen sei. Der Kläger habe seine Klage auf Leistungen in gesetzlicher Höhe gerichtet und im Widerspruch sowie in der Klagebegründung die Verfassungsmäßigkeit der §§ 3, 3a AsylbLG infrage gestellt, sodass er auch Leistungen nach § 2 AsylbLG begehre. Insoweit sei seinem Begehren aber nicht abgeholfen worden, weswegen eine Obsiegensquote von 31 % resultiere.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Der Rechtsstreit des kostenprivilegierten Klägers hat sich durch das angenommene Anerkenntnis anders als durch Urteil erledigt und der Kläger hat einen Kostenantrag gestellt. Die Kostenentscheidung steht im Ermessen des Gerichts und orientiert sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten, soweit nicht Veranlassungsgesichtspunkte oder sonstige Gründe eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Die Klage hatte in vollem Umfang Erfolg. Der Beklagte hat Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum anerkannt.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts insbesondere keine Leistungen nach § 2 AsylbLG begehrt. Für die Auslegung des Klagebegehrens relevant ist die in § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Ausdruck kommende sog. Dispositionsmaxime, d.h. dass die klagende Partei den genauen Streitgegenstand bestimmt, also das festlegt, worüber das Gericht entscheidet. § 123 SGG stellt klar, dass es nicht auf die äußere Form des Antrags, sondern auf seinen erkennbaren Inhalt, auf das wirkliche Rechtsschutzziel ankommt. Ausgangspunkt für die Feststellung dessen, was im konkreten Verfahren Streitgegenstand ist, ist mithin der Antrag und das sonstige Vorbringen des Klägers. Es ist nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 133 BGB der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R –, SozR 4-4200 § 21 Nr 10 –, juris Rn. 12). Bei der Bestimmung des Klagebegehrens können sowohl der vorgetragene als auch der aktenkundige oder sonst im Verfahren festgestellte Sachverhalt als Anknüpfungspunkt dienen. Aus der Dispositionsmaxime folgt auch, dass das Gericht bei seiner Entscheidung nicht über das hinausgehen darf und nichts anderes zusprechen darf, als was ihm vom Kläger zur Entscheidung (nach Auslegung) angetragen worden ist („ne ultra petita“, vgl. auch BSG, Urteil vom 27. Mai 2014 – B 5 RE 6/14 R –, SozR 4-2600 § 106 Nr 4 –, juris Rn. 19).

Zwar ist dem Beklagten zuzustimmen, dass der Klageantrag unergiebig ist, da dieser sich auf Leistungen „in gesetzlicher Höhe“ bezieht, mit denen potentiell auch solche nach § 2 AsylbLG gemeint sein könnten. Allerdings ergibt sich aus den Widersprüchen und der Klageschrift des Klägers und aus der übrigen Verwaltungsakte des Beklagten, dass sein tatsächliches Rechtsschutzziel von Anfang an der Erhalt von (höheren) Leistungen entsprechend der Regelbedarfsstufe 2 statt hier ursprünglich gewährten Leistungen entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 war. Dies hat auch der Beklagte nicht verkannt, wie sich bereits aus dem Schreiben des Beklagten an das Regierungspräsidium vom 04.05.2020 (Bl. 123 der Verwaltungsakte) ergibt. Dem Begehren des Klägers hat der Beklagte somit vollumfänglich abgeholfen.

Dass der Kläger in Widerspruch und Klageschrift einen Vergleich zwischen §§ 3, 3a AsylbLG und § 2 AsylbLG angestrengt hat, um die Verfassungswidrigkeit der §§ 3, 3a AsylbLG aufzuzeigen, bedeutet nicht, dass seinerseits tatsächlich Leistungen nach § 2 AsylbLG begehrt wurden. Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf das Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 19.04.2020 (Bl. 120 f. der Verwaltungsakte). Ersichtlich wird auch dort eine Anpassung auf die Regelbedarfsstufe 1 begehrt, nicht mehr und nicht weniger.

Abschließend wird darauf hingewiesen, dass bei verfassungswidrigen Gesetzen stets eine Kostenentscheidung zulasten der beklagten Behörde auszusprechen ist. Soweit das BVerfG Kostenquoten zugunsten von Klägern erwogen hat, betraf dies nur Konstellationen, in welchen Leistungen nicht rückwirkend in verfassungskonformer Höhe zugesprochen werden konnten, die Verfassungswidrigkeit der Regelungen zugunsten der Betroffenen aber trotzdem berücksichtigt werden sollte (BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175, Juris Rn. 219; BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, BVerfGE 132, 134, Rn. 113).

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen, § 172 Abs. 3 SGG.