Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 26.09.2023 – Az.: S 9 AY 9/22

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

1. Landkreis Waldeck-Frankenberg,
vertreten durch den Kreisausschuss,
Südring 2, 34497 Korbach,

Beklagte,

2. Regierungspräsidium Gießen,
Erstaufnahmeeinrichtung, Abteilung VII,
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen,

Beklagte,

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Marburg am 26. September 2023 durch den Vorsitzenden, Richter xxx, beschlossen:

Der Beklagte zu 1) hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattungspflicht nach Erledigung der Hauptsache in einem Verfahren einer Untätigkeitsklage.

Der Beklagte zu 1) gewährte dem Kläger Leistungen nach dem AsylbLG für die Monate Januar bis August 2020.

Der Kläger stellte am 03.08.2021 durch seinen Prozessbevollmächtigten einen Antrag auf Überprüfung der Leistungen für die Zeit vom 01.01.2020 bis zum 31.08.2020 beim Beklagten zu 1).

Am 14.02.2022 hat der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten Untätigkeitsklage erhoben, weil eine Bescheidung über den genannten Widerspruch nicht erfolgt war.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat den Rechtsstreit mit Schreiben vom 21.03.2022 in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte.

II.

In der Angelegenheit ist die Zuständigkeit der 16. Kammer des Sozialgerichts Marburg gegeben, weil die 9. Kammer insgesamt nicht mehr für das Rechtsgebiet zuständig ist und stattdessen eine Abgabe aller Verfahren an die 16. Kammer erfolgte.

Der Beklagte zu 1) hat im vorliegenden Rechtsstreit die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Dies entspricht nach Ansicht der Kammer billigem Ermessen.

Gemäß § 193 Absatz 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht über die Kostenerstattung auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. Hier ist der Rechtsstreit durch die Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, die als Klagerücknahme auszulegen ist, erledigt.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung erfolgt nach billigem Ermessen (vgl. BSG, SozR Nr. 3 und 4 zu § 193 SGG), wobei das Gericht an die Anträge der Beteiligten nicht gebunden ist und die Rechtsgedanken der §§ 91 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) herangezogen werden. Das Gericht hat folglich das Ergebnis des Rechtsstreits, wie er sich im Zeitpunkt der Erledigung darstellt, unter Berücksichtigung des sich aus den Akten ergebenden Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu würdigen. Maßgeblich für die Entscheidung sind demnach alle Umstände des Einzelfalls unter Zugrundelegung des aus der Akte ersichtlichen Sach- und Streitstands (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Aufl. 2023, § 193 Rn. 12 ff. m. w. N.; Hess. LSG, Beschl. v. 07.02.2003, Az. L 12 B 93/02 RJ).

Dabei kommt im Wesentlichen zwei Bewertungskriterien Bedeutung zu, nämlich den Erfolgsaussichten der Klage zum Zeitpunkt der Erledigung sowie den Gründen für die Klageerhebung und die Erledigung des Rechtsstreits. Es muss mithin neben der Berücksichtigung der Erfolgsaussicht auch darauf abgestellt werden, wer Anlass zum Rechtsstreit gegeben hat. Danach kann es für die zu fällende Kostenentscheidung von entscheidender Bedeutung sein, wen die Verantwortung dafür trifft, dass ein von vornherein vermeidbarer und daher überflüssiger Prozess überhaupt geführt werden musste (vgl. B. Schmidt, a. a. O.).

Bei der Anwendung dieser beiden Kriterien ist zu beachten, dass es sich um Abwägungskriterien einer Ermessensentscheidung handelt und beide Kriterien gegenseitig als Korrektur des jeweils anderen dienen. Es kann daher in Betracht kommen, dass, wenn sich die Rechtslage aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach der Klageerhebung ändert und nunmehr Erfolgsaussichten der Klage bestehen, dem Beklagten wegen des Überwiegens des Veranlassungs- gegenüber dem Erfolgsgesichtspunkt im Rahmen der Ermessensabwägung keine außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen sind. Dies setzt voraus, dass der zuständige Verwaltungsträger einer tatsächlichen oder rechtlichen Veränderung unverzüglich nach Kenntniserlangung Rechnung trägt (Rechtsgedanke des § 93 ZPO, siehe zum Ganzen etwa Hess. LSG, Beschl. v. 13.05.1996, Az. L-5/B-64/94, NZS 1997, 48; B. Schmidt, a. a. O., Rn. 12c m. w. N.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte zu 1) im vorliegenden Rechtsstreit die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Dies entspricht nach Ansicht der Kammer billigem Ermessen.

Die erhobene Untätigkeitsklage ist für den Kläger erfolgreich gewesen, da er sein Klageziel – eine Entscheidung über den Überprüfungsantrag – vollständig erreicht hat.

Von entscheidender Bedeutung für die Kostentragungspflicht ist bei einer Untätigkeitsklage jedoch der Veranlassungsgesichtspunkt. Dieser bezieht sich hier auf die Frage einer vorwerfbaren Verzögerung des Vorverfahrens. Zu prüfen ist, ob der Kläger mit seiner Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (Rechtsgedanke des § 161 Absatz 3 Verwaltungsgerichtsordnung). Das ist der Fall, wenn zu dieser Zeit die Voraussetzungen des § 88 SGG erfüllt waren; die Klage also anfänglich zulässig und begründet war. Dafür muss der Kläger einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts gestellt oder einen Widerspruch eingelegt haben, der sachlich nicht beschieden wurde (B. Schmidt, a. a. O., § 88 Rn. 3 f.). Weiter muss grundsätzlich die Wartefrist des § 88 Absatz 1 oder Absatz 2 SGG ergebnislos verstrichen sein (B. Schmidt, a. a. O., § 88 Rn. 5 ff.). Schließlich darf kein zureichender Grund dafür vorliegen, dass der Bescheid bzw. der Widerspruchsbescheid noch nicht erlassen worden ist (B. Schmidt, a. a. O., § 88 Rn. 7a ff.).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

Der Kläger beantragte am 03.08.2021 durch seinen Prozessbevollmächtigten die Überprüfung der Leistungen beim Beklagten zu 1). Bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 14.02.2022 – also nach Ablauf von mehr als sechs Monaten – lag keine Entscheidung über den Widerspruch vor.

Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Klägers innerhalb der gesetzlichen Frist ist weder erkennbar noch vorgetragen. Von Seiten der Beklagten ist weder eine besondere Schwierigkeit des Verfahrens vorgetragen worden noch eine besondere Belastung oder ein anderweitiger Grund, der im Einzelfall die verzögerte Bescheidung rechtfertigen könnte (zu den verschiedenen Gründen siehe B. Schmidt a. a. O., § 88 Rn. 7a f.).

Im Verhältnis der beiden Beklagten trifft die Verantwortung den Beklagten zu 1), der eine zügige Weiterleitung an den Beklagten zu 2) zu verantworten hat und vorliegend nicht dargelegt ist, dass dies auch geschehen ist.

Eine Pflicht des Klägers, die Behörde anzumahnen und die Untätigkeitsklage anzudrohen, kann nur in Ausnahmefällen anerkannt werden. Eine grundsätzliche Pflicht zur Erkundigung bei der Behörde besteht nicht, da sie sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck von § 88 SGG ergibt. Vielmehr knüpft die Vorschrift allein an das Verstreichen der Wartefrist an. Ist diese abgelaufen, kann Untätigkeitsklage erhoben werden. Es ist Sache der Behörde, eine Bescheidung in der gesetzlichen Frist sicherzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.02.2023, Az. 1 BvR 311/22, Juris Rn. 15 ff.; Hess. LSG, Beschluss vom 15.02.2008, Az. L 7 B 184/07 AS, Juris Rn. 21).

Die Beschwerde gegen diesen Kostenbeschluss ist ausgeschlossen, § 172 Abs. 3 SGG.