Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 25.06.2013 – Az.: S 38 AS 853/13ER

BESCHLUSS

ln dem Rechtsstreit
xxx,
Antragsteller,

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis xxx,
Antragsgegner,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 38. Kammer – am 25. Juni 2013 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, beschlossen:

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, längstens für sechs Monate und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 31. Mai 2013 gegen den Bescheid des Antragsgegner vom 27. Mai 2013, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

2. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers trägt der Antragsgegner.

3. Dem Antragsteller wird für die Durchführung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes in erster Instanz unter Beiordnung von Herrn Rechtanwalt Adam, Göttingen, uneingeschränkt Prozesskastenhilfe bewilligt.

GRÜNDE
I.
Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller zuletzt bis zum 31.05.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von monatlich 735,16 Euro, vgl. Bescheid vom 16. November2012. Da der Antragsteller im Jahr 2011 über Ausfallerscheinungen im Sehbereich beider Augen und im weiteren Verlauf des Leistungsbezuges über Beschwerden in Form von Schlafstörungen und halluzinatorischen Erscheinungen unklarer Ursache klagte, vereinbarten die Beteiligten in der Eingliederungsvereinbarung vom 18. Oktober 2012, dass der Antragsgegner zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit ein amtsärztliches Gutachten zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit einleitet, sobald die einschlägigen Untersuchungen abgeschlossen sind und der Antragsteller verpflichtete sich seinem Fallmanager mitzuteilen, sobald die erforderlichen Untersuchungen abgeschlossen sind und reicht dann auch die unterschriebene Schweigepflichtentbindung sowie den ausgefüllten Gesundheitsfragebogen ein. An einem Beratungstermin am 21. Februar 2013, welcher mit dem Ziel der Einleitung der amtsärztlichen Untersuchung erfolgte, reichte der Antragsteller einen leeren Gesundheitsfrageboden und die nicht unterschriebene Schweigepflichtentbindung mit der Begründung ein, die Einleitung des Gutachtens sei rechtswidrig.
Unter dem 05. März 2013 und 22. März 2013 erhielt der Antragsteller jeweils die Aufforderung zur Teilnahme an einer ärztlichen/psychologischen Untersuchen am 08 April 2013 bzw. am 26. April 2013. Die Einladung enthielt jeweils eine Rechtsfolgenbelehrung nach § 32 SGB II. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 36 bis 42 des Hefters des Antragsgegners verwiesen.
Aus einer innerdienstlichen Mitteilung von Frau Dr. xxx vom 26. April 2013 geht hervor, dass der Antragsteller den Untersuchungstermin am 26. April 2013 wahrgenommen hat, jedoch eine Begutachtung mit der Begründung ablehnte, dass keine richterliche Anordnung oder auch keine begründete Aufforderung durch das Gesundheitsamt vorläge.
Mit Schreiben vom 10. Mai 2013 wies der Antragsgegner den Antragsteller auf seine Mitwirkungspflichten gemäß §§ 62 und 66 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hin und forderte ihn auf sich zwecks eines neuen Termins mit Frau xxx in Verbindung zu setzen. Ferner enthielt das Schreiben folgenden Inhalt:

“Sollten Sie ihrer Mitwirkungspflicht bis zum 26.05.2013 nicht vollumfänglich nachkommen, kann die weitere Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gem. § 66 Abs. 2 SGB I versagt werden.
Unter dem 08. Mai 2013, eingegangen am 15. Mai 2013, stellte der Antragsteller einen Fortzahlungsantrag.
Mit Bescheid vom 27. Mai 2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag vom 15. Mai 2013 wegen fehlender Mitwirkung gemäߧ 66 SGB I ab, da er im Rahmen des Termins am 26. April 2013 die Untersuchung verweigert habe. Zur Begründung führte der Antragsgegner weiter aus, dass durch die fehlende Mitwirkung eine Ermittlung der Anspruchsvoraussetzungen nach dem SGB II nicht erfolgen könne. Und “im Rahmen des mir gegebene Ermessens sehe ich mich damit gehalten, Ihnen die beantragten Leistungen zu versagen”.

Gegen den Bescheid vom 27. Mai 2013 legte der anwaltlich vertretene Antragsteller mit Schreiben vom 30. Mai 2013 Widerspruch ein und hat mit Schreiben vom 03. Juni 2013 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Hildesheim eingereicht. Der Antragsteller habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Selbst die unterstellte Verweigerung einer amtsärztlichen Untersuchung würde nicht die vollständige Leistungsversagung rechtfertigen. Zur weiteren Begründung nimmt er Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 07. November 2011 (Az. B 7b AS 10/06 R).

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 31. Mai 2013 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 27. Mai 2013 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung nimmt er Bezug auf seine Ausführungen in dem Bescheid vom 27. Mai 2013. Nach den Angaben des Antragstellers sollte im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung zudem auch geklärt werden, ob Suchtmittel konsumiert werden und eine Eignung bestehe eine Tätigkeit im Bereich der Betreuung vom Menschen aufzunehmen. Zur Herbeiführung einer Klärung des Gesundheitszustandes des Antragstellers seinen in der Vergangenheit bereits verschiedene Maßnahmen unternommen worden. Die Versagung der Leistungen erscheine auch im Rahmen des von Gesetzes insoweit eingeräumten Ermessens auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragstellers geboten, da die Frage, ob bzw. in welchem Umfang die vom Antragsteller vorgetragenen gesundheitlichen Problemen dessen Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigen, nicht dauerhaft offengelassen werden kann.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Antragsgegners (1 Ordner und 1 Hefter) Bezug genommen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

II.
Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist begründet.

Der Antragsgegner ist vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller Grundsicherungsleistungen ab Antragstellung bei Gericht (03. Juni 2013) zu gewähren.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Anordnungsanspruch – ein in der Hauptsache durchsetzbarer Rechtsanspruch – sowie Anordnungsgrund – Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ZPO -). Dies ist vorliegend der Fall.

Dem erforderlichen Anordnungsanspruch steht zunächst nicht die Wirkung des Versagungsbescheides vom 27. Mai 2013 entgegen. Ob der Widerspruch des Antragstellers vom 30. Mai 2013 gegen den Bescheid vom 27. Mai 2013 aufschiebende Wirkung entfaltet oder ob diese nach § 39 SGB II ausgeschlossen ist, kann dahinstehen. Dieser Bescheid erweist sich nämlich als rechtswidrig, so dass er dem vorläufigen Leistungsbegehren nicht entgegensteht.

Zur Überzeugung der Kammer kann es dahinstehen, ob der Versagungsbescheid bereits deswegen rechtswidrig, weil der Antragsteller berechtigt ist, eine neurologisch/psychiatrische Untersuchung zu verweigern. § 62 SGB I ordnet an, dass derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen soll, soweit diese für die Entscheidung über die Leistungen erforderlich sind. Zur Überzeugung der Kammer ist die Erforderlichkeit der Untersuchung jedoch nach den vorliegenden Unterlagen bei summarischer Prüfung nicht nachvollziehbar, da sie sich lediglich auf Angaben des Antragstellers bezieht und keine konkreten Anhaltspunkte der gesundheitlichen Beeinträchtigungen nachgewiesen sind. Soweit der Antragsgegner mitteilt, dass das Gutachten auch dazu eingeholt werden sollte um Abzuklären, ob der Antragsteller Suchtmittel konsumiert, liegen keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden Konsum vor. Aus dem Verhalten und der Ausdrucksweise des Antragsstellers lassen sich keiner derartigen Schlüsse ziehen.

Der Versagungsbescheid erscheint insbesondere rechtswidrig, weil die Entscheidung über die Versagung, die nur nach Fristsetzung mit Wirkung für die Zukunft möglich ist, im Ermessen der Behörde steht (BSG wie zuvor; BSG Urt. v. 22.02.1995 4 RA 44/94 = SozR 3- 1200 § 66 Nr. 3 S. 13 f; Becker, jurisPR-SozR 5/2006 Anm. 1). Der Antragsgegner hat von dem ihm eingeräumten Ermessen keinerlei Gebrauch gemacht. Da auch eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Antragstellers nicht vorliegt – mindestens Zeitpunkt und Höhe der Versagung können nicht als vorgegeben angesehen werden -, ist die Versagung rechtswidrig und daher nicht geeignet, dem Leistungsbegehren des Antragstellers entgegen gehalten zu werden. Eine Auseinandersetzung des Antragsgegners, ob die Leistungen ganz oder nur teilweise versagt werden oder aus welchen Gründen ggf. eine Sanktionierung nach § 32 SGB II als milderes Mittel in Betracht gekommen wäre, ist nicht erfolgt.

Die Kammer verkennt nicht, dass der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II Erwerbsfähigkeit voraussetzt (§ 7 S. 1 Nr. 2 SGB II), die derzeit gerade nicht festgestellt und für die der Antragsteller auch letztlich beweispflichtig ist. Jedoch besteht für den Fall, dass die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers nicht (mehr) vorliegt, kein Zweifel, dass er im Hinblick auf seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse Anspruch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII hat. Da aus der Bestimmung des § 44 a Abs. 1 S. 3 SGB II die regelmäßige Vorleistungspflicht des SGB II-Leistungsträgers bei Streitigkeiten über die Erwerbsfähigkeit folgt, erscheint zur Sicherung des Lebensunterhalts die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners angezeigt, zumal diesem gegebenenfalls ein Erstattungsanspruch gegen den SGB XII-Leistungsträger erwächst.

Im Hinblick auf die völlige Mittellosigkeit des Antragstellers sieht die Kammer auch den erforderlichen Anordnungsgrund als glaubhaft gemacht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §§ 192 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Da der Antrag demzufolge hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne der §§ 73a Abs. 1 SGG, 114 ZPO bietet, und der Antragsteller nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung auch nur teilweise aufzubringen, ist ihm ratenfreie Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.