Sozialgericht Kassel – Urteil vom 20.06.2023 – Az.: S 9 AS 343/18

URTEIL

In dem Rechtsstreit

1. xxx,

Klägerin,

2. xxx,

Kläger,

3. xxx,

Klägerin,

4. xxx,

Klägerin,

5. xxx,

Kläger,

zu 3-5 vertreten durch
xxx,
xxx,

Prozessbevollm. zu 1-5:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Jobcenter Werra-Meißner,
vertreten durch den/die Geschäftsführer/in,
Fuldaer Straße 6, 37269 Eschwege,

Beklagter,

hat die 9. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2023 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, sowie die ehrenamtlichen Richter, xxx und Herr xxx, für Recht erkannt:

Der Bescheid des Beklagten vom 11.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2018 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Klägern die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Vorverfahrens gegen den Bescheid vom 03.01.2018 zu erstatten und die Hinzuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren gegen den Bescheid vom 03.01.2018 für notwendig zu erklären.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu tragen.

TATBESTAND

Die Kläger begehren von dem Beklagten die Erstattung für notwendig erachteter Aufwendungen im Widerspruchsverfahren sowie die Feststellung, dass die Hinzuziehung ihres Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig war.

Die Klägerin zu 1) ist Mutter der Kläger zu 2) bis 5). Nach der Trennung von ihrem Ehemann und Vater der Kläger zu 2) bis 5) beantragte die Klägerin für eine Anzahl von Wohnungen eine Zusicherung nach § 22 Abs.4 SGB II, so für die xxx in Witzenhausen zu 651,– EUR bruttokalt.

Mit Bescheid vom 03.01.2018 lehnte der Beklagte die Zusicherung mit der Begründung ab, dass die Mietkosten nicht angemessen seien.

Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 11.01.2018 erhoben die Kläger Widerspruch. Mit Schriftsatz vom 08.03.2018 teilte der Bevollmächtigte dem Beklagten dann mit, dass die Wohnung vergeben sei, und begehrte eine Kostenentscheidung.

Mit Bescheid vom 11.04.2018 lehnte der Beklagte eine Kostenerstattung ab. Der angefochtene Verwaltungsakt habe sich erledigt. Kosten seien jedoch nur zu erstatten, wenn ein Widerspruch erfolgreich sei.

Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 13.04.2018 legten die Kläger Widerspruch ein. Sie vertraten die Meinung, Erfolg gehabt zu haben, wenn denn die Beklagte die korrekten Angemessenheitsgrenzen angewandt und zeitnah entschieden hätte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück, die entstandenen Aufwendungen könnten nicht erstattet werden. Nach § 63 Abs. 1. S. 1 SGB X habe er die Kosten zu erstatten, wenn der Widerspruch erfolgreich sei. Durch die anderweitige Vermietung benötige die Klägerin keine Zusicherung mehr, der ablehnende Bescheid habe keine belastende Wirkung mehr. Auch ein Fall des § 63 Abs. 1 S. 1 SGB i.V.m. § 41 SGB X liege nicht vor.

Am 29.06.2018 ist die Klage beim Sozialgericht Kassel eingegangen. Für die minderjährigen Kläger zu 3) bis 5) hat der Kindsvater die Prozesskostenhilfe-Anträge durch Unterzeichnung der Erklärungsbögen genehmigt.

Mit Urteilen vom 21.11.2018 – L 6 AS 429/16 und L 6 AS 185/18 – hat das Hessische Landessozialgericht entschieden, dass jedenfalls im Mai 2014 der Beklagte nicht über ein schlüssiges Konzept zur Feststellung der Angemessenheitsgrenzen gemäß § 22 Abs. 1 SGB II verfügt hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zum Bundessozialgericht – B 14 AS 10/19 B – war erfolglos.

Im April 2019 hat der Beklagte einen Korrekturbericht zu seinem Konzept verabschiedet.

Die Kläger halten an ihrer Auffassung aus dem Widerspruchsverfahren fest. Die Wohnungskosten seien für sie als 5 Personen angemessen gewesen nach § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) plus 10% Sicherheitszuschlag, was 660,– EUR bedeute.

Die Kläger beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.04.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2018 zu verpflichten, den Klägern die notwendigen Auslagen für das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Beklagten vom 03.01.2018 zu erstatten, sowie die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren gegen den Bescheid vom 03.01.2018 für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat im Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer die Verteidigung des Anfang 2018 von ihm herangezogenen Konzepts aufgegeben. Er ist jedoch der Meinung, dass ein Obsiegen der Kläger im Zeitpunkt des Widerspruchs nicht absehbar gewesen sei und er daher keine Kosten zu tragen habe. Die Wohnung übersteige auch die Werte des § 12 WoGG zuzüglich Sicherheitszuschlages von 10%, da nicht von 5 Personen, sondern aufgrund des von der Familie zur Kinderbetreuung praktizierten Wechselmodells nur von 3,5 Personen auszugehen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Rechtsgrundlage für die Erstattung der Vorverfahrenskosten ist § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X. Danach hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, „soweit der Widerspruch erfolgreich ist“. Erledigt sich der Widerspruch, kann dies einen Erstattungsanspruch auslösen, im Zusammenhang mit der Kostengrundentscheidung muss inzidenter die Frage geprüft werden, ob der Widerspruch Erfolg gehabt hätte. Wäre der Widerspruch erfolgreich gewesen, so besteht ein Kostenerstattungsanspruch (vgl. Schütze, SGB X § 63 Rn. 24, beck-online).

Das war hier der Fall. Die Bruttokaltmiete der Wohnung xxx in Witzenhausen zu 651,– EUR war angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II und die begehrte Zusicherung hätte nicht aus diesem Grunde abgelehnt werden dürfen. Aufgrund der Feststellungen des Hessischen Landessozialgerichts in den Urteilen vom 21.11.2018 war nicht ein Konzept des Beklagten, sondern § 12 WoGG plus ggf. ein 10%-iger Sicherheitszuschlag für die Bestimmung der Angemessenheitsgrenze der Wohnkosten heranzuziehen. Dabei war bei den 5 Klägern von einem Bedarf einer 5-Personen-Bedarfsgemeinschaft auszugehen. Betreuen – wie hier vorgetragen – getrennt lebende Eltern ihre Kinder gleichmäßig im Sinne eines familienrechtlichen Wechselmodells, haben die Kinder einen grundsicherungsrechtlich anzuerkennenden Wohnbedarf in den Wohnungen beider Eltern. § 22 SGB II dient der Befriedigung des Grundbedürfnisses, eine Wohnung als räumlichen Lebensmittelpunkt zu besitzen. Werden mehrere Wohnungen genutzt, ist daher grundsicherungsrechtlich ein Wohnbedarf nur für die Wohnung anzuerkennen, die den Lebensmittelpunkt bildet, also (nur) für die Wohnung, die überwiegend genutzt wird (vgl. BSG vom 11.07.2019 – B 14 AS 23/18 R, juris). Soweit die Familie den Umgang in Form eines familienrechtlichen Wechselmodells praktiziert, lässt sich ein Lebensmittelpunkt des Kindes jedoch tatsächlich nicht bestimmen. Vielmehr hat es einen gleichwertigen Wohnbedarf in den Wohnungen seiner beiden Elternteile und ist grundsicherungsrechtlich jeweils als weiteres Haushaltsmitglied zu berücksichtigen (vgl. mit ausführlicher Begründung und Nachweisen BSG vom 11.07.2019, a.a.O.). Für Witzenhausen mit Mietstufe 1 betrug 2018 die maßgebliche rechte Spalte der Wohngeldtabelle somit 600,– EUR, mit Sicherheitszuschlag von 10% konnten demnach bis 660,– EUR als angemessen angesehen werden.

Ein erfolgreicher Widerspruch hat nach § 63 Abs.1 Satz 1 SGB X die Konsequenz, dass der Beklagte dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat. Die Kosten eines Rechtsanwaltes im Vorverfahren sind erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war (§ 63 Abs. 2 SGB X). So liegt der Fall hier. Es besteht in der Regel die Notwendigkeit zur Hinzuziehung einer Bevollmächtigten, weil der Bürger selbst nur in Ausnahmefällen in der Lage sein wird, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, § 63 SGB X Rn 11 m.w.N.). Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall sind nicht vom Beklagten vorgetragen und für die Kammer auch im Übrigen nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung für das Klageverfahren beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache selbst.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.