Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 02.03.2020 – Az.: S 42 AY 11/20 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,
– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen, vertreten durch den Oberbürgermeister,
Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen
– Antragsgegnerin –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 2. März 2020 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a Absatz 1 Nr. 2b, Absatz 2 Nr. 2b AsylbLG in Höhe monatlich weiterer 153,19 Euro ab dem 15. Januar 2020 bis längstens zum 30. Juni 2020 zu gewähren, falls nicht zuvor über den Widerspruch vom 07. Januar 2020 entschieden wird.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Verfahren des ersten Rechtszuges Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, bewilligt.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen die Kürzung der Grundleistungen gemäß § 1a Absatz 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ab dem 15. Januar 2020.

Der nach eigenen Angaben 2000 geborene, aus Gambia stammende und in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnende Antragsteller reiste am 30. September 2017 erstmals in das Bundesgebiet ein und gab im Asylverfahren vier Identitäten an (xxx, xxx, geb. am xxx; xxx, xxx, geb. am xxx; xxx, xxx, geb. am xxx und xxx, xxx, geb. am xxx). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 15. Mai 2018 die Gewährung von Asyl, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzes ab, stellte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nicht fest und forderte den Antragsteller auf, innerhalb einer Woche das Bundesgebiet zu verlassen. Andernfalls werde er nach Gambia abgeschoben. Rechtbehelfe gegen die Entscheidung blieben erfolglos.

Der Antragsteller wurde dem örtlichen Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin am 22. März 2018 zugewiesen. Seit Beendigung des Asylverfahrens wird der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet geduldet. Das Ausländeramt der Antragsgegnerin forderte den Antragsteller mehrfach zur Beschaffung von Passersatzpapieren auf. Auf eine Vorsprache teilte die Botschaft von Gambia mit Schreiben vom 31. Juli 2019 mit, dass die persönliche Anwesenheit des Antragstellers in Gambia zur Ausstellung des Passes notwendig sei.

Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller mit Bescheid vom 14. Mai 2019 gekürzte Leistungen gemäß § 1a Absatz 3 AsylbLG bis zum 31. August 2019.

Mit Bescheid vom 19. November 2019 bewilligte die Antragsgegnerin gekürzte Leistungen für November 2019 in Höhe von 156,81 Euro und begründete dies damit, dass der Antragsteller erklärt habe, er wolle sich nicht um einen Pass bemühen.

Die Antragsgegnerin bewilligte konkludent ohne Erteilung eines Bescheides gekürzte Leistungen für Januar 2020.

Dagegen legte der Antragsteller am 07. Januar 2020 Widerspruch ein und hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Er trägt vor:

Die Kürzung sei verfassungswidrig. Es seien keine konkreten Handlungen gefordert worden.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 07. Januar 2020 für den Leistungszeitraum 01. Januar 2020 bis zum 31. Januar 2020 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie trägt vor:

Die Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung werde bestritten, weil der Antragsteller erst am 13. Januar 2020 den Monatsbetrag abgeholt habe.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang sowie die Ausländerakte Bezug genommen.
 

II.

Der Antrag hat Erfolg.

Nach § 86 b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.

Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Der Antrag ist analog § 123 SGG dergestalt auszulegen, dass sich der Antragsteller nur gegen die Kürzung wendet. Trotz anwaltlicher Vertretung wird vermieden, privilegierte Leistungen zu beantragen, so dass das Gericht davon ausgehen muss, dass dies nicht gewollt ist. Zudem würde die dreifache Identitätstäuschung im Asylverfahren einem Anspruch auf privilegierte Leistungen entgegenstehen. Die Antragsgegnerin kürzt zu Unrecht die Grundleistungen gemäß § 1a Absatz 3 AsylbLG.

Der Antragsteller ist gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 4 AsylbLG als geduldete Person leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Gemäß § 1a Absatz 3 Satz 1 AsylbLG gilt Absatz 1 entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. In analoger Anwendung des Absatz 1 Satz 2 werden ihnen ist zu ihrer Ausreise oder Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 gewährt werden (Satz 3). Die Leistungen sollen als Sachleistungen erbracht werden (Satz 4).

Der Tatbestand des § 1a Absatz 3 AsylbLG ist zur Überzeugung der Kammer nicht erfüllt. Der Antragsteller hat nicht zu vertreten, dass der Staat Gambia seine persönliche Anwesenheit bei der Beantragung von Passersatzpapieren für notwendig erachtet. Unter diesen Umständen sind die geforderten Mitwirkungsaufforderungen unmöglich.

Der Antragsteller hat Anspruch auf Grundleistungen gemäß §§ 3a Absatz 1 Nr. 2b, Absatz 2 Nr. 2b AsylbLG. Das Gericht nimmt zur Kenntnis, dass der anwaltlich vertretene Antragsteller die üblichen Textbausteine zur Verfassungswidrigkeit dieser Leistungen nicht eingebracht hat, sondern gesetzliche Leistungen beantragt. Diese gesetzlichen Leistungen als Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft erhält er mit dieser Entscheidung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.

Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe wegen der Erfolgsaussicht zu bewilligen (§§ 73a SGG, 114 ff. ZPO).

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde der Antragsgegnerin statthaft (§§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.