Tacheles Rechtsprechungsticker KW 24/2022

1. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum SGB II und zur Befreiung von der Rundfunkgebühr

1.1 – Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. April 2022 (1 BvL 12/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die aus § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Abs. 3 Satz 2 SGB II hervorgehende Verwertungsschutznorm hat vom Jobcenter stets in Berücksichtigung der Anzahl der aktuellen Bewohner der jeweiligen Liegenschaft angewandt zu werden.

Von dieser Bestimmung nicht erfasst wird die Lebenssituation, wenn Eltern in einem unangemessen großen Eigenheim leben, weil die Kinder dieses Wohneigentum zwischenzeitlich wieder verlassen haben.

Es stellt keinen Verstoß gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG hervorgehenden allgemeinen Gleichheitssatz dar, wenn § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 SGB II den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Verwertung ihres eigengenutzten, aktuell unangemessen großen Wohneigentums abverlangt, ohne dass danach unterschieden wird, ob es sich hier um ein bereits immer schon in diesem Sinne unangemessen großes Wohneigentum handelte, oder ob die betr. Liegenschaft früher von den Eltern zusammen mit den Kindern bewohnt wurde und deshalb vor deren Auszug als angemessen i. S. d. § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II aufgefasst werden konnte.

Diese Regelung verlangt von einem Ehepaar, das sein Wohneigentum zuvor zusammen mit seinen Kindern bewohnt hat, in gleicher Weise wie von einem Paar, das stets ohne Kinder im unangemessen großen Wohneigentum gelebt hat, im Bedarfsfall die Wohnfläche auf die nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II angemessene Größe zu beschränken.

Die Angemessenheit der Größe von Wohneigentum richtet sich hier in sämtlichen Konstellationen ohne Unterschied jeweils einzig nach der Anzahl der dort lebenden Personen.

Das in Art. 6 Abs. 1 GG festgeschriebene Familiengrundrecht wird in seinem Wesensgehalt nicht berührt, wenn die Kinder das von ihnen einst mitbewohnte elterliche Haus bereits verlassen haben.

Das Jobcenter muss hier nicht berücksichtigen, ob in dem zum Bedarfszeitpunkt unangemessen großen Immobilieneigentum einst Kinder erzogen wurden, für die ein derart großer Wohnraum vorgehalten zu werden hatte. Dies entspricht Grundprinzipien des Systems der Grundsicherung für Arbeitsuchende, denen zufolge Leistungen der öffentlichen Fürsorge stets nachrangig zu gewähren sind (§§ 1 bis 3 SGB II), wenn Antragstellerinnen und Antragsteller ihre Existenz nicht vorrangig aus eigenen Kräften und Mitteln sichern können.

1.2 – BVerfG, Beschluss vom 4. April 2022 (1 BvR 1370/21):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zum Verstoß gegen die Rechtswahrnehmungsgleichheit von bemittelten und unbemittelnden Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich (hier: dem Jobcenter gegenüber) im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz entsprechend Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG.

Fragen nach der Anrechnung eines Betriebskostenguthabens auf den von einem Antragsteller gemäß den §§ 19 ff. SGB II geltend gemachten Leistungsanspruch nach § 22 Abs. 3 SGB II und der Aufteilung dieses Betrags auf einen Zeitraum von sechs Monaten sind offenkundig nicht einfach gelagert. Nähere Erläuterungen zum hier zentral aufgeworfenen Aspekt, in welcher Form eine solche Aufteilung zulässig ist oder nicht, können von einem Antragsteller im Rahmen des Nachsuchens um Beratungshilfe nicht erwartet werden.

1.3 – BVerfG, Beschluss vom 19. Januar 2022 (1 BvR 1089/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht als Härtefall gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags (RBStV) bei einer alleinerziehenden Studentin, die ihren und den Lebensunterhalt ihres minderjährigen Sohnes aus Mitteln eines Studienkredits der Darlehenskasse der Studentenwerke im Land Nordrhein-Westfalen e. V. finanzierte.

Über die Ablehnung einer solchen Befreiung wird diese Antragstellerin gegenüber anderen finanziell bedürftigen Personen benachteiligt, denen die Zahlung des Rundfunkbeitrags aus ihren sozialrechtlichen Regelleistungen, die das Existenzminimum schützen sollen, nicht zugemutet wird. Hierin liegt ein Verstoß gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG hervorgehenden allgemeinen Gleichheitssatz. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet, dass ein nachweislich den sozialrechtlichen Regelleistungen entsprechendes oder sogar noch unterschreitendes Einkommen nicht zur Begleichung von Rundfunkbeiträgen eingesetzt zu werden hat.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Bayern, Urt. v. 19.05.2022 – L 7 AS 460/21

Leitsätze
1. Die rückwirkende Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger lässt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zumindest hinsichtlich der Versagung von Leistungen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers im Hinblick auf § 44a Abs 1 S 2 SGB II idF vom 26.7.2016 unberührt.

2. Die Versagung von Leistungen auf Dauer ist nicht von § 66 Abs 1 S 1 SGB I gedeckt (vgl bereits BSG, Urteil vom 5.4.2000 B 5 RJ 38/99 R) und als Ermessensüberschreitung im Rahmen der gerichtlichen Rechtskontrolle zu beanstanden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Bayern, Urt. v. 25.04.2022 – L 7 AS 621/20

Leitsätze
Nur nach entsprechender Abmahnung, die Voraussetzung einer ordentlichen Kündigung wäre, ist ein Arbeitgeber von der Rückzahlungspflicht eines Eingliederungszuschusses befreit.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 07.07.2021 – L 13 AS 2528/20 – anhängig BSG – B 4 AS 12/22 R

Welche Anforderungen stellt das SGB II an die postalische Erreichbarkeit eines wohnungslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten?

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.05.2022 – L 9 AS 257/21

Zum Vorrang von § 22 Abs. 3 SGB II gegenüber § 41a SGB II.

Die Berücksichtigung eines Heiz-/Nebenkostenguthabens richtet sich auch bei endgültiger Festsetzung nach vorläufiger Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 41a SGB II (in der bis zum 31. März 2021 geltenden Fassung) nach § 22 Abs. 3 SGB II.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Hinweis:
a. A. SG Lübeck vom 28. April 2021 – S 42 AS 372/18 – anhängig BSG B 7/14 AS 65/21 R

2.5 – LSG Hamburg, Urt. v. 09.05.2022 – L 4 AS 9/22 D

Zum Vorliegen eines Mehrbedarfs für Fahrtkosten bezüglich des Umgangsrechts – Anspruch kann nur bei der Person entstehen, die durch den Umgang einen Aufwand hat

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Ein Anspruch auf den Mehrbedarf kann nur bei der Person entstehen, die durch den Umgang einen Aufwand hat.

2. Das ist in der Person des Klägers (Sohn) unstreitig nicht der Fall. Der Aufwand ist allein auf Seiten des Vaters des Klägers zu sehen. Dieser ist nicht SGB II-leistungsberechtigt, er muss und kann sein Begehren als SGB XII Leistungsbezieher beim Sozialamt geltend machen.

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.4.2022 – L 2 SO 2937/20

Leitsätze
Zur Frage der Angemessenheit von Bestattungskosten und ob bzw. inwieweit bei der Prüfung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Antragstellers Versicherungsbeiträge, Beiträge zu Lebensversicherungen und Kreditverpflichtungen bei der Berechnung des einzusetzenden Einkommens abzuziehen sind.

Quelle: lrbw.juris.de

3.2 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.4.2022 – L 2 SO 2796/21

Leitsätze
Im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung bei der Gewährung von Leistungen für Hilfe zur Pflege ist auch das Vermögen des Ehepartners des Hilfeempfängers (nach Abzug der Vermögensfreibeträge) in vollem Umfang zu berücksichtigen. Es ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung, von wem das Vermögen angespart wurde.

Quelle: lrbw.juris.de

4. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

4.1 – Behinderungsbedingte Mehrkosten einer Urlaubsreise, Reisekosten des Assistenten kostenübernahmefähig – Teilhabe – Ein Beitrag von: Rechtsanwältin Stephanie Bröring

Nehmen behinderte Menschen einen Assistenten mit auf Reisen, dann können sie dessen Reisekosten vom Sozialhilfeträger erstattet bekommen. Dies entschied das Bundessozialgericht mit Urteil vom 19.05.2022 – B 8 SO 13/20. Es machte aber auch deutlich, dass diese Kosten so gering wie möglich gehalten werden müssen.

Der Fall

Quelle: www.anwalt.de

5. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem SGB II

5.1 – SG Berlin, Urt. vom 2. Mai 2022- S 206 AS 3931/17

Hopp oder Topp- die Ortsabwesenheit – veröffentlicht von RA Kay Füßlein

§ 7 SGB II enthält ein Zustimmungserfordernis für die Ortsabwesenheit (dies dürfte meist ein Urlaub oä. sein), die ZUVOR eingeholt werden muss; sonst gibt es keine Leistungen. Es muss also zuvor ein Antrag gestellt werden.

Im vorliegenden Fall war es so, dass in der Vergangenheit vereinbart gewesen war, dass dieser „Antrag“ durch eine schlichte E-Mail erfolgen kann.

Nun verhielt es sich so, dass der Träger der Grundsicherung die Abmeldung nicht mehr gelten ließ und die Leistungen einstellte und zurückgezahlt haben wollte: denn wer nicht erreichbar ist, hat keinen Leistungsanspruch.

Das SG Berlin hat (unter Anwendung von § 7 SGB II alte Fassung und der bis heute geltenden Erreichbarkeitsanordnung) die Bescheide teilweise aufgehoben: der Kläger hat rechtzeitig einen Antrag gestellt und hatte demnach Recht auf eine Abwesenheit. Diese ist jedoch begrenzt auf drei Wochen.

Kurzum: im Bereich des SGB II ist es häufig notwendig, Anträge vorab zu stellen, nicht nur bei der Ortsabwesenheit, sondern auch z.B. bei Umzügen oder Anträgen auf Kaution.

Diese Ortsabwesenheit ist (bis auf die im Gesetz benannten Ausnahmen) idR begrenzt auf drei Wochen (wobei auch das Wochenende und Feiertage mitzählen). Nur in absoluten Ausnahmefällen (zB. Unfälle oder höhere Gewalt) kann hiervon abgewichen werden.

weiter bei RA Kay Füßlein

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – LSG Nds.-Bremen vom 19.5.2022 – L 8 AY 38/19 (PKH)

Orientierungssatz RA Volker Gerloff
Bis auf einige wenige SG setzt sich die Erkenntnis durch: Klagen gegen § 1a AsylbLG haben wegen der erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifel stets Erfolgsaussichten

weiter bei RA V. Gerloff auf Twitter

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker