Sozialgericht Kassel – Urteil vom 12.05.2022 – Az.: S 4 AS 149/20

URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Jobcenter Stadt Kassel,
vertreten durch den Geschäftsführer Christian Nübling,
Lewinskistraße 4, 34127 Kassel

Beklagter,

hat die 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2022 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, sowie die ehren-amtliche Richterin Frau xxx und der ehrenamtliche Richter Herr xxx für Recht erkannt:

Der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 05.02.2020 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auf-wendungen des Vorverfahrens gegen den Bescheid vom 01.10.2019 zu erstatten und die Hinzuziehung des Bevollmächtigten des Klägers für das Vorverfahren gegen den Bescheid vom 01.10.2019 für notwendig zu er-klären.

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

TATBESTAND

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Aufwendungen für ein Widerspruchsverfahren, in dem der Kläger anwaltlich vertreten war.

Der Kläger stand im laufenden Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) bei dem Beklagten. Mit Bescheid vom 1.10.2019 gewährte ihm der Beklagte für die Zeit vom 1.10.2019 bis 31.3.2020 vorläufig SGB II-Leistungen.

Dagegen legte der anwaltlich vertretene Kläger unter dem 6.10.2019 Widerspruch ein, womit er die Gewährung von Kosten der Unterkunft (KdU) in Höhe der dem Kläger tat-sächlich entstehenden Kosten begehrte. Unter dem 10.10.2019 bestätigte der Beklagte den Eingang des Widerspruchs. Gleichzeitig forderte er darin den Bevollmächtigten des Klägers auf, bis zum 31.10.2019 eine Vertretungsvollmacht zu übersenden und wies da-rauf hin, dass der Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen werde, falls die Vollmacht nicht fristgerecht eingereicht werde.

Daraufhin reichte der Bevollmächtigte des Klägers unter dem 5.11.2019 betreffend den Widerspruch vom 14.10.2019 – bezogen auf einen anderen Leistungszeitraum (Zeitraum vom 1.4 bis 31.7.2019) – eine Vollmacht, datierend vom 2.8.2019, ein, mit dem Hinweis, diese auch den weiteren Vorverfahren zuzuführen.

Mit Änderungsbescheid vom 26.11.2019 wurden die KdU an die aktuell gültigen Grenzwerte angepasst und dem Kläger vorläufig höhere Leistungen gewährt. Es wurde nun für den gesamten Leistungszeitraum statt 393 € ein Betrag von 416,50 € bruttokalt monatlich berücksichtigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5.2.2020 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig. Hierzu führte er aus, dass der Widerspruch nicht wirksam erhoben worden sei. Die vom Bevollmächtigten des Klägers eingereichte Vollmacht sei anlässlich eines Widerspruchsverfahrens gegen einen vorläufigen Änderungsbescheid vom 25.7.2019 für den Zeitraum 1.8. bis 30.9.2019 eingereicht worden. Diese Vollmacht weise die Bevollmächtigung im Verfahren gegen den Bescheid vom 1.10.2019 nicht hinreichend nach; es sei vielmehr daraus ersichtlich, dass entsprechend den genutzten Formulierungen nur eine Vertretung im konkreten Einzelfall gewollt war. Außerdem datiere die Vollmacht zu einem Zeitpunkt, der vor Erlass des angefochtenen Bescheides liege. Ferner entschied der Beklagte, dass im Widerspruchsverfahren gegebenenfalls entstandene notwendige Aufwendungen nicht erstattet werden.

Am 3.3.2020 hat der Kläger beim Sozialgericht Kassel Klage gegen den Widerspruchsbescheid erhoben. Er begehrt damit unter Aufhebung der dortigen Kostenentscheidung die Erstattung der Kosten des Vorverfahrens durch den Beklagten. Zur Begründung führte er aus, dass der Widerspruch inhaltlich erfolgreich gewesen sei, denn mit Änderungsbescheid vom 26.11.2020 seien ihm höhere KdU gewährt worden.

Im Laufe des Gerichtsverfahrens hat der Beklagte unter dem 14.4.2020 einen endgültigen Bescheid für den Leistungszeitraum 1.10.2019 bis 31.3.2020 erteilt, wobei sich an der Höhe der Leistungen für KdU nichts geändert hat.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Widerspruchsbescheid vom 05.02.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Vorverfahrens gegen den Bescheid des Beklagten vom 01.10.2019 zu erstatten und die Hinzuziehung des Bevollmächtigten des Klägers im Vorverfahren gegen den Bescheid des Beklagten vom 01.10.2019 für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid. Ergänzend rügt er eine wirksame Bevollmächtigung im Klageverfahren gemäß § 73 Abs.6 S. 4 SGG.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Die Klage ist gemäß § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs.1 Abs. 4 SGG) zulässig. Gegenstand ist die bloße Anfechtung des Widerspruchsbescheides, der – in der Sache fehlerhaft – den vor Erteilung des Widerspruchsbescheides ergangenen Änderungsbescheid vom 26.11.2019 mit dem, dem inhaltlichen Begehren des Klägers entsprochen wurde, nicht berücksichtigt. Insoweit ist die isolierte Anfechtung eines Widerspruchsbescheides auch zulässig. Dieser enthält mit der Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig und unter Außerachtlassung des Änderungsbescheides, der faktischen Abhilfe, eine „neue“ Beschwer. Daneben ist die Entscheidung über die Tragung der notwendigen Aufwendung des Vorverfahrens angefochten und mit einer Verpflichtung des Beklagten zur Kostenübernahme entschieden worden.

Die vom Beklagten erhobene Rüge des Mangels der Vollmacht für das Klageverfahren (§ 73 Abs. 6 S. 4 SGG) ist gegenstandslos geworden, da der Kläger im Termin der mündlichen Verhandlung am 12.5.2022 persönlich anwesend war und damit auch konkludent die bisherigen Verfahrenshandlungen seines anwaltlich Bevollmächtigten genehmigt hat.

II. Die Klage ist auch begründet.

Der Widerspruchsbescheid ist rechtswidrig, weil er den Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen hat (1.). Ferner ist er auch deshalb rechtswidrig, weil die darin getroffene Kostenentscheidung fehlerhaft und der Beklagte zur Kostenerstattung verpflichtet ist; auch die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten war notwendig (2.).

1. Der Widerspruchsbescheid ist rechtswidrig, weil er den Widerspruch als unzulässig zurückgewiesen hat.

a) Entgegen der Auffassung des Beklagten war die Einlegung des Widerspruchs in zu-lässiger Weise erfolgt. Die Einlegung durch den Bevollmächtigten des Klägers war rechtswirksam.

Die vom Kläger dem Bevollmächtigten erteilte Vollmacht gilt auch für das hier streitige Widerspruchsverfahren. Gemäß § 13 Abs. 1 S. 2 SGB X ermächtigt die Vollmacht zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt.

Soweit sich der Beklagte auf den Wortlaut der vom Bevollmächtigten eingereichten Vollmacht vom 2.8.2019 bezieht und meint, die anwaltliche Vertretung im hier streitbefangene Widerspruchsverfahren sei von der Vollmacht des Klägers nicht mitumfasst, folgt ihm die Kammer nicht. Zwar enthält die Vollmacht die Formulierung, dass sie sich auf „die Vertretung im Verwaltungsverfahren (§ 13 SGB X) auch im Vor- und Widerspruchsverfahren… < erstreckt>“ und es ist durchaus naheliegend, hierbei davon auszugehen, dass es sich um ein bestimmtes Verfahren handele; dies ist allerdings nicht die einzig mögliche Auslegung. Auch die Bezeichnung „in meiner Sozialrechtssache…“ auf der Vollmacht deutet zunächst auf ein bestimmtes Verfahren hin. Allerdings ist die Umschreibung der „Sozialrechtssache“ mit „gegen Jobcenter Kassel wegen Leistungen nach dem SGB II“ durchaus auch umfassender zu verstehen. Ein konkreter Bescheid oder ein konkreter Leistungszeitraum wird dabei nämlich gerade nicht benannt. Es ist auch nicht unüblich, dass eine Vollmacht auch mehrere Verwaltungsverfahren umfasst, insbesondere dann, wenn zeitnah mehrere Bescheide ergehen, die zwar verschiedene Leistungszeiträume, aber dieselbe rechtliche Problematik umfassen. Mithin schließt der Wortlaut der Vollmacht vom 2.8.2019 die Erstreckung dieser Vollmacht auf das hier streitige Widerspruchsverfahren nicht aus. Dazu kommt, dass der anwaltliche Bevollmächtigte des Klägers ausdrücklich mitteilte, dass diese Vollmacht auch den anderen Widerspruchsverfahren zugeführt werden solle. Damit tat er deutlich kund, dass diese Vollmacht auch für das vorliegende Widerspruchsverfahren Verwendung finden solle.

Der Bevollmächtigte hat vorliegend auch gemäß § 13 Abs. 1 S. 3 SGB X auf Verlangen der Beklagten seine Vollmacht schriftlich nachgewiesen. Auf die Aufforderung des Beklagten, bis zum 31.10.2019 die Vertretungsvollmacht zu übersenden, kam der Bevollmächtigte – verspätet – am 5.11.2019 nach und reichte die Vollmacht vom 2.8.2019 ein, und zwar mit dem Zusatz, diese auch dem weiteren Vorverfahren zuzuführen. Damit entsprach der Bevollmächtigte der Sache nach der Aufforderung des Beklagten.

Weiterer Schriftverkehr zur Vollmachtsproblematik erfolgte nicht. Insbesondere wies der Beklagte den Bevollmächtigten des Klägers nicht darauf hin, dass die eingereichte Vollmacht für unzureichend gehalten werde. Vielmehr kommunizierte der Beklagte (auch ohne vermeintlich nicht vorliegende Vollmacht) weiterhin mit dem Bevollmächtigten des Klägers und stellte diesem auch den Widerspruchsbescheid vom 5.2.2020 zu.

Mithin geht die Kammer von einer zulässigen Widerspruchseinlegung aus.

b) Der Widerspruch war auch in der Sache erfolgreich. Denn mit Erteilung des Änderungsbescheides vom 26.11.2019 wurde dem Begehren des Klägers auf Übernahme der ihm tatsächlich entstandenen KdU entsprochen, was einer Abhilfe im Widerspruchsverfahren entspricht. Dieser Abhilfeentscheidung in der Sache steht die Zurückweisung des Widerspruchs im angefochtenen Widerspruchsbescheid entgegen. Sie war inhaltlich unrichtig und ist deshalb aufzuheben.

2. Auch die im Widerspruchsbescheid getroffene Kostenentscheidung ist fehlerhaft und der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der notwendigen Aufwendungen für das Vorverfahren und der Feststellung, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.

Vorliegend ist die Kammer bei ihrer Entscheidung davon ausgegangen, dass die Kostenentscheidung isoliert angefochten wird. Eine solche isolierte Anfechtung der Kostenentscheidung ist grundsätzlich möglich, denn die Kostenentscheidung ist nicht Teil der Sachentscheidung, sondern ein zusätzlich zu treffender selbständiger Verwaltungsakt (s. dazu BSG, Urteil vom 17.10.2006 – B 5 RJ 66/04 R – Rn 13, juris). Wird die Kostenentscheidung als erstmalige Beschwer im Widerspruchsbescheid isoliert angefochten, führt dies unmittelbar zur Zulässigkeit der Klage, ohne dass eines gesonderten Vorverfahrens hinsichtlich der Kostengrundentscheidung bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 19.6.2012 – B 4 AS 142/11 R – Rn 10, juris).

Rechtsgrundlage für die Erstattung der Vorverfahrenskosten ist § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X. Danach hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, „soweit der Widerspruch erfolgreich ist“. Das ist wie zuvor aufgezeigt der Fall. Mit der Anwendung der aufgrund des (neuen) einschlägigen KdU-Konzepts der Stadt Kassel erhöhten Grenzwerte erhielt der Kläger Leistungen in Höhe der von ihm begehrten und tatsächlich gezahlten KdU im streitbefangenen Leistungszeitraum vom 1.10.2019 bis 31.3.2020. Zwar liegt die Ursache der für den Kläger günstigen Änderung in den vom neuen KdU-Konzept ermittelten (höheren) Grenzwerten, was jedoch dem Begriff des „erfolgreichen“ Widerspruchs nicht entgegensteht. Denn ändern sich die rechtlichen Umstände während des Widerspruchsverfahrens und führt dies zu einem für den Widerspruchsführer günstigen Verfahrensausgang, so liegt in der Regel dennoch ein „erfolgreicher“ Widerspruch vor (Roos/Blüggel in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 13 Rn 21)

Ein erfolgreicher Widerspruch hat nach § 63 Abs.1 Satz 1 SGB X die Konsequenz, dass der Beklagte dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechts-verteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat. Die Kosten eines Rechtsanwaltes im Vorverfahren sind erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war (§ 63 Abs. 2 SGB X).

So liegt der Fall hier. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten war auch notwendig. Es besteht in der Regel die Notwendigkeit zur Hinzuziehung einer Bevollmächtigten, weil der Bürger selbst nur in Ausnahmefällen in der Lage sein wird, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren (Fichte in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl., 2021, § 63 SGB X Rn 11 m.w.N.).

Wollte man der Auffassung folgen, dass vorliegend die Kostenentscheidung für das Widerspruchsverfahren nicht über § 63 SGB X, sondern, weil auch der Widerspruchsbescheid in der Sache angefochten war, gemäß § 193 SGG hätte erfolgen müssen, würde dies im Ergebnis ebenfalls zur Kostentragungspflicht des Beklagten führen.

Der Klage war mithin in vollem Umfang stattzugeben.

III. Die Kostenentscheidung für das Klageverfahren folgt aus § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.