Tacheles Rechtsprechungsticker KW 20/2023

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.03.2023 – L 32 AS 1888/17 – Revision zum BSG zugelassen

Berliner Jobcenter muss volle Mietkosten anerkennen – Vergleich mit Sozialmieten erforderlich

Leitsätze
Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit sind wegen dessen normativer Vorprägung die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Sicherung angemessenen Wohnraums für Hilfebedürftige zu beachten, um sicherzustellen, dass der Vergleich mit der Referenzgruppe gelingt. Dazu gehört in angespannten Wohnungsmärkten der Vergleich mit den Mieten im sozialen Wohnungsbau.

Wohnraum der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein.

Auch wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, eine Angemessenheitsgrenze zu bestimmen, ist bei einem Vergleich mit Sozialmieten die Feststellung zulässig, dass die konkrete Bruttokaltmiete im Einzelfall angemessen war.

Das Sozialrechtsoptimierungsgebot des § 2 Abs. 2 SGB I schließt in seiner verfahrensrechtlichen Wirkung bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit die Verortung der Darlegungs- und Beweislast auf Seiten des Leistungsberechtigten aus.

Ein Rückgriff auf die um den Faktor 1,1 erhöhten Werte der Wohngeldtabelle im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Realitätsgebot erscheint für 2015/2016 im Land Berlin nicht sachgerecht.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 23.03.2023 – L 32 AS 505/22

Leitsätze
Voraussetzung für eine statthafte Nichtzulassungsbeschwerde ist allein, dass das SG von einer nicht statthaften Berufung ausgegangen ist und dieses Rechtsmittel nicht zugelassen hat.

Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde kann eine rechtlich unzutreffende (Entscheidung über die) Nichtzulassung der Berufung isoliert aufgehoben werden. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wird in diesem Fall nicht automatisch als Berufungsverfahren fortgeführt.

Für einen Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Kosten wegen unrichtiger Sachbehandlung durch ein Gericht gibt es keine Rechtsgrundlage.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Sächsisches LSG, Urt. v. 06.04.2023 – L 7 AS 629/20 – Revision zugelassen

Keine Absetzbarkeit einer Einkommensteuernachzahlung (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.).

Leitsätze
1. Die Zahlung von Einkommensteuer für einen zurückliegenden Zeitraum ist nicht als betriebsbedingte Ausgabe im Sinne von § 3 Abs. 2 Alg II-VO mindernd zu berücksichtigen. Vielmehr handelt es sich bei Einkommensteuernachzahlungen im Ergebnis um von § 11b SGB II nicht erfasste Steuerschulden, die nicht vom Einkommen im Bewilligungszeitraum mindernd abzusetzen sind.

2. Beiträge für eine private Altersvorsorge in Form von Prämien für eine private Rentenversicherung sind als Absetzbeträge vom Einkommen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 SGB II auch bei selbständig Erwerbstätigen mindernd zu berücksichtigen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung bereits dem Grunde nach nicht versicherungspflichtig sind.

Bemerkung
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung und -berechnung – selbständige Arbeit – Gewinnermittlung – Nachzahlung von Einkommensteuer – keine Betriebsausgabe im aktuellen Bewilligungszeitraum – Steuerschulden – private Rentenversicherung als Absetzbetrag auch bei in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht versicherungspflichtigen Selbständigen

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Einkommensteuernachzahlung ist Betriebsausgabe, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt – SG Kiel, Vergleich vom 14.11.2016, S 40 AS 100/15

SG Chemnitz, Urt. v. 25.05.2016 – S 35 AS 3984/14 – Die Zahlung von Einkommensteuer ist als betriebsbedingte Ausgabe i.S.v. § 3 Abs. 2 ALG-II-V anzusehen, soweit sich die Einkünfte aus derselben Erwerbstätigkeit, aus der das Einkommen im Bewilligungszeitraum angerechnet wird, als Besteuerungsgrundlage zuordnen lassen.

sozialberatung-kiel.de

1.4 – Sächsisches LSG, Beschluss v. 17.04.2023 – L 10 AS 1044/20 B

Leitsätze
§ 67 Abs. 4 Satz 2 SGG ist keine generelle Befugnis zu entnehmen, vorab über einen Wiedereinsetzungsantrag im Wege des Beschlusses zu entscheiden.

Bemerkung
Entscheidungsform bei Wiedereinsetzungsantrag nach § 67 SGG

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – SG Kiel, Beschluss vom 24.03.2023 – S 39 AS 9/23 ER

Bürgergeld: Der Abschluss eines Mietvertrages über die bereits bewohnte Wohnung ist kein Umzug

Schließt eine Bürgergeldbezieherin einen Mietvertrag über eine Wohnung, die sie schon zuvor als Mitbewohnerin einer Wohngemeinschaft (WG) bewohnt hat, benötigt sie vor Abschluss dieses Mietvertrags weder die Zusicherung der Kostenübernahme durch das Jobcenter noch kann das Jobcenter die Leistungen auf die Kosten ihres bisherigen WG-Zimmers deckeln. Das Jobcenter muss vielmehr auch zu hohe Mietkosten jedenfalls für einen gewissen Zeitraum übernehmen.

weiter bei RA Helge Hildebrandt

Hinweis:
zum SGB XII: LSG Hessen, Urt. v. 01.06.2022 – L 4 SO 124/21 – § 35 Abs. 2 Satz 3 und 4 SGB XII ist auf eine Konstellation, in der erstmalig für eine bereits bewohnte Wohnung ein Mietvertrag abgeschlossen wird, nicht anwendbar. Die Obliegenheit hilfebedürftiger Personen zur Einholung einer Zustimmung des Sozialhilfeträger vor Abschluss eines Mietvertrags setzt einen Umzug voraus.

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 30.03.2023 – L 3 AL 11/20

Leitsätze
1. Das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 4. März 2021 (Az.: B 11 AL 5/20 R) kann auf den Fall einer Erstattungsforderung, die auf einer endgültigen Bewilligungsentscheidung nach einer vorangegangenen vorläufigen Leistungsbewilligung beruht, übertragen werden.

2. Ein endgültiger Bescheid im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II a. F. in Verbindung mit § 328 Abs. 2 SGB III a. F. – oder seit dem 1. August 2016 ein abschließender Bescheid im Sinne von § 41a Abs. 3 SGB III – ist kein „Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird“ im Sinne von § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

3. Eine Erstattungsforderung nach § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III ist durch Verwaltungsakt geltend zu machen. Sie entsteht nicht kraft Gesetzes.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.2 – Sächsisches LSG, Urt. v. 16.03.2023 – L 3 AL 21/21

Leitsätze
1. Soweit ein Empfänger von Arbeitslosengeld Überlegungen anstellt und rechtsirrig davon ausgeht, dass er keiner Mitteilungspflicht unterliegt, geht ein solcher Rechtsirrtum zu seinen Lasten und lässt den Verschuldensvorwurf nicht entfallen. Etwas anderes gilt nur, wenn der Rechtsirrtum unvermeidbar war.

2. Eine Rechtsgrundlage für die Reduzierung der Erstattungsforderung im Hinblick darauf, dass das von einem Kläger bezogene Arbeitslosengeld als Einkommen bei der Bemessung des Anspruches auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II berücksichtigt worden ist, besteht nicht.

3. Die Erstattungspflicht gegenüber der Bundesagentur für Arbeit hat im Verhältnis zum Träger der Grundsicherung lediglich die Bedeutung, dass der Hilfebedürftige (erst) von diesem Zeitpunkt an mit Schulden (gegenüber der Bundesagentur für Arbeit) belastet ist. Solche Verpflichtungen sind grundsätzlich bei der Bestimmung der Hilfebedürftigkeit unbeachtlich.

4. Es bedarf, um eine Verringerung der Erstattungsforderung im Einzelfall zu erreichen, keiner analogen Anwendung von § 107 SGB X. Denn es gibt den Weg über den (Teil)Erlass der Erstattungsforderung.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Hamburg, Beschluss v. 22.03.2023 – L 4 SO 13/23 B ER D

Bewilligung von Leistungen zur sozialen Therapie im Wege des einstweiligen Rechtschutzes durch den Sozialhilfeträger – 24-stündige 1:1-Betreuung für einen an paranoiden Wahnvorstellungen Wahnvorstellungen Erkrankten

Orientierungssatz
1. Zur Bewilligung von einstweiligem Rechtschutz ist gemäß § 86b Abs. 2 die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes erforderlich. (Rn.2)

2. Ist bei einem an paranoiden Wahnvorstellungen Leidenden sehr wahrscheinlich, dass er nach seiner Entlassung aus stationärer Krankenhausbehandlung ohne eine 24-stündige 1:1 ambulante Betreuung sowohl sich selbst als auch andere gefährdet, so ist ihm gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, § 61 SGB 12 die beantragte Maßnahme im Wege der Folgenabwägung durch den Sozialhilfeträger zu bewilligen. (Rn.4)

3. Dies gilt nur so lange, als keine geschlossene therapeutische Unterbringung des Antragstellers erfolgen kann, weil allein diese die geeignete Maßnahme darstellt. (Rn.5)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

4.2 – SG Detmold, Urt. v. 24.03.2023 – S 35 SO 265/21

Leitsätze
Eine Übernahme der an eine private Ersatzschule gezahlten Fördervereinsbeiträge aus Mitteln der Eingliederungshilfe, die als „(Quasi)-Schulgeld“ den allgemeinen Unterricht finanzieren sollen, scheidet aus. Die gewünschte Übernahme ist – als eine vom Kernbereich der pädagogischen Arbeit umfasste Leistung – keine im Rahmen der individuellen Eingliederungshilfe vom Sozialhilfeträger zu erbringende Hilfe für eine angemessene Schulbildung.

Eine rechtliche Verpflichtung zur Zahlung von („Quasi-Schulgeld“) an eine in private Trägerschaft stehende Ersatzschule besteht insbesondere dann nicht, wenn der Schulträger sich zur Abwicklung eines Fördervereins bedient und es sich nach dem Willen des Schulträgers gerade um freiwillige Fördervereinsleistungen handelt.

Überschrift:
Urteil | Sozialhilfe – Eingliederungshilfe – Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung – keine Übernahme freiwilliger Fördervereinsbeiträge für den Besuch einer privaten Ersatzschule, Schulgeld, Kernbereich der pädagogischen Arbeit – notwendige Sozialleistungen – Fehlen einer rechtlichen Verpflichtung | § 112 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 05.04.2023 – L 9 AY 19/23 B ER

Rechtskreiswechsel bei Erteilung eines Aufenthaltstitels

Leitsätze
1. Ein Aufenthaltstitel wird erst mit seiner Bekanntgabe gegenüber dem Ausländer wirksam.

2. Ein Ausländer ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel ist vollziehbar ausreisepflichtig, auch wenn zu seinen Gunsten ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt ist, und hat damit lediglich Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG.

3. Die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wirkt lediglich deklaratorisch und vermag für sich genommen den Rechtskreiswechsel zum SGB II nicht zu bewirken.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – LSG Berlin-Brandenburg: Übernahme von Kosten der Schülerbeförderung mit dem Pkw?

Redaktion eGovPraxis Jobcenter
Muss die Schülerbeförderung mit öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgen oder können Fahrtkosten für Fahrten zur und von der Schule mit dem Pkw gewährt werden? Das LSG Berlin-Brandenburg hat die Frage für den Rechtskreis des SGB II entschieden.

weiter: www.wolterskluwer.com

Hinweis:
Entscheidung veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 09/2023

6.2 – Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2023

weiter: sozialberatung-kiel.de

6.3 – Niedrigere Renten für langjährige Erwerbsminderungsrentner rechtswidrig? EM-Rente vor dem Bundesverfassungsgericht

Der Sozialverband VdK und der Sozialverband Deutschland (SoVD) haben am 4. Mai 2023 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht. Ein Aktenzeichen zu dem Verfahren ist leider noch nicht bekannt.

weiter: www.steuertipps.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker