Tacheles Rechtsprechungsticker KW 37/2023

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 04.07.2023 – L 4 AS 122/23 B ER

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht – Unionsbürger – Anforderungen an die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit – Erwerbstätigkeit – Inanspruchnahme aufstockender Sozialleistungen – Bedarfsgemeinschaft – vollständige Deckung des eigenen Bedarfs – einstweiliges Rechtsschutzverfahren

Leitsatz
1. Der Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist grundsätzlich eng auszulegen. Die Inanspruchnahme von Bürgergeld bzw Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, begründet nicht per se einen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts.

2. Für die Annahme der rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bleibt daher jedenfalls dann kein Raum, wenn der Betroffene durch seine Tätigkeit seinen eigenen Bedarf vollständig decken kann (LSG Hessen, Beschluss vom 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris RN 43).

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

1.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.06.2023 – L 4 AS 334/21

Sozialgerichtliches Verfahren – Erstattung von Kosten im Vorverfahren – erfolgreicher Widerspruch – Unterkunft und Heizung – SGB II-Leistungen

Leitsatz
1. § 63 Abs 1 SGB X stellt eine in sich geschlossene Regelung der Kostenerstattung für sog isolierte Widerspruchsverfahren dar. Es handelt sich um ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, bei dem im Grundsatz rein formal auf das erfolgreiche Ergebnis abgestellt wird (Satz 1). Die zu bildende Kostenquote richtet sich nach dem Verhältnis des Erfolgs zum Misserfolg. Ein Widerspruch ist nur in dem Umfang erfolgreich, in dem ihm (abgeholfen oder) stattgegeben worden ist.

2. Geht es im Vorverfahren um die Bewilligung höherer SGB II-Leistungen, hat der Widerspruch nur in dem Umfang Erfolg, in dem weitere Leistungen bewilligt worden sind. Führt ein vom Widerspruchsführer geltend gemachter Berechnungsposten (hier: höhere Heizkosten) wegen einer zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der Sachlage (hier: Einkommenszufluss) nicht zu einem höheren Leistungsanspruch, hat der Widerspruch insoweit keinen Erfolg.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

1.3 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 23.05.2023 – L 2 AS 128/23 B ER

Leitsatz
1. Eine zeitlich unbegrenzte Versagungsentscheidung erledigt sich noch nicht durch die Stellung eines neuen Leistungsantrages, sondern erst durch eine Entscheidung in der Sache über diesen Antrag.

2. Der nicht ausgeschüttete Gewinn einer GmbH kann dem Alleingesellschafter und Geschäftsführer nicht gem § 11 SGB II als Einkommen zugerechnet werden, wenn das Stammkapital nicht gesichert ist. Es fehlt die Verfügungsbefugnis des selbständig Tätigen über den Gewinn, weil gem § 30 GmbHG das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden darf.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

1.4 – LSG NRW, Urt. v. 15.12.2022 – L 7 AS 378/22 – Revision zugelassen

Sterbequartalsvorschuss ist eine einmalige Einnahme – Anrechnung

Aufhebungs- und Erstattungsbescheid rechtswidrig, denn bei dem Sterbequartalsvorschuss handelt es sich – nicht um eine laufende Einnahme im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.).

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Es kann dahinstehen, ob es sich bei dem Sterbequartalsbonus um nach § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II privilegiertes Einkommen handelt (verneinend etwa Bayerisches LSG, Urteil vom 29.11.2017 – L 11 AS 322/17 –, Rn. 18 – 26, juris, wonach der Sterbequartalsbonus ebenso wie die restliche Witwenrente letztlich der Sicherstellung des Lebensunterhaltes dient; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 13.12.2021 – L 7 R 122/19 –, Rn. 34, juris, Revision anhängig B 5 R 1/22 R; SG Düsseldorf, Urteil vom 20.02.2019 – S 5 R 2625/14 –, Rn. 25 – 27, juris; SG Darmstadt, Urteil vom 23.01.2020 – S 19 AS 190/19; Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 11a <Stand: 07.12.2022>, Rn. 60_1; bejahend SG Nürnberg, Urteil vom 23.11.2016 – S 13 AS 665/16 –, Rn. 13, juris; Fachliche Weisung der BA 11.84 zu §§ 11 – 11b SGB II, Stand 07.02.2020; eingehend zum Streitstand Hengelhaupt in: Hauck/Noftz SGB II, Werkstand: 9. Ergänzungslieferung 2022; § 11a Rn. 232, m.w.N.; vgl. zum ausgelaufenen Recht der Arbeitslosenhilfe BSG, Urteil vom 11.01.1990 – 7 RAr 128/88 –, BSGE 66, 134-139, SozR 3-4100 § 138 Nr. 1, Rn. 29).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.5 – LSG Celle-Bremen, Beschluss vom 04.05.2023 – L 15 AS 360/21

Auswirkungen von Mietobergrenzen des Konzepts oberhalb der Tabellenwerte nach § 12 WoGG zuzüglich Sicherheitszuschlag (jurisPR-MietR 17/2023 Anm. 1)

Orientierungssatz zur Anmerkung
Liegen die nach dem Konzept des Leistungsträgers bestimmten Mietobergrenzen bereits oberhalb der Tabellenwerte nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10%, führt dies bei Unschlüssigkeit des Konzepts nicht grundsätzlich zur Übernahme höherer oder sogar der tatsächlichen Kosten der Unterkunft.

Quelle: Juris

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – SG Karlsruhe, Urt. v. 06.06.2023 – S 12 AS 2208/22; S 12 AS 1358/23; S 12 AS 1359/23

1. Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 70 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10.03.2021 mit Wirkung vom 01.04.2021 mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist.

2. Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 73 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23.05.2022 mit Wirkung vom 01.06.2022 mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 20.04.2023 – L 8 SO 27/21

Zur Berücksichtigung von freiwilligen Zahlungen der Mutter einer volljährigen Hilfebedürftigen als Unterhalt im Rahmen der Hilfe zur Pflege.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 08.02.2023 – L 8 SO 69/22 B ER

Ausschluss einer Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers für Bereitstellung medizinischen Fachpersonals während des Aufenthalts eines behandlungsbedürftigen Kindes in einer Kindertagesstätte

Orientierungssatz
1. Leistungen der medizinischen Rehabilitation müssen nach § 11 Abs. 2 S. 1 SGB 5 notwendig sein, um u. a. eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden oder zu beseitigen. Dem entspricht die Ausgestaltung in § 42 SGB 9.(Rn.38)

2. Die zum Schutz der Kinder in einer Kindertagesstätte erforderliche Beaufsichtigung ist nicht einer regelmäßigen Betreuung durch medizinisches Fachpersonal zuzuordnen. Sie ist auch nicht Gegenstand einer ärztlichen Verordnung für häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungspflege bzw. Intensivpflege. (Rn.39)

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3.3 – LSG NRW, Urt. v. 16.02.2023 – L 9 SO 387/21 – Revision anhängig beim BSG – B 8 SO 4/23 R

Erstattung von Aufwendungen für die Beiträge zu einer angemessenen Alterssicherung einer Pflegeperson

Altersvorsorgebeiträge für die Pflegeperson der Sozialhilfeempfängerin sind vom Sozialamt zu bezahlen (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.)

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Nicht in der sozialen Pflegeversicherung versicherte Personen, die vom Sozialhilfeträger Pflegegeld beziehen, haben zusätzlich Anspruch auf Übernahme der Aufwendungen für die Beiträge ihrer Pflegeperson für deren angemessene Alterssicherung.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

4.1 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 14.08.2023 – L 2 SF 6/23 B (R)

Unentschuldigtes Ausbleiben ordnungsgemäß geladenen Zeugen – Ordnungsgeld und Ordnungshaft als Reaktion

weiter bei RA Kotz 

4.2 – BSG: Dachreparatur für selbstbewohntes Wohneigentum als Unterkunftsleistung?

Redaktion eGovPraxis Jobcenter
Sind Ausgaben für eine Dachreparatur für selbstbewohntes Wohneigentum Unterkunftskosten gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB II? Mit dieser Frage hatte sich das BSG zu beschäftigen.

Fazit
Eine unangemessene Wohnfläche in selbstbewohntem Wohneigentum ist kein Hinderungsgrund für die Übernahme von Kosten zur Erhaltung der Immobilie.

weiter: www.wolterskluwer.com

4.3 – Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. DSGT hat eine Stellungnahme zur geplanten Kindergrundsicherung abgegeben:

weiter: www.sozialgerichtstag.de

4.4 – Stellungnahme von Tacheles zur Kindergrundsicherung

Tacheles hat eine umfangreiche Stellungnahme im Gesetzgebungsverfahren zur Kindergrundsicherung abgegeben.

Das Resümee: www.tacheles-sozialhilfe.de

4.5 – Anspruch auf barrierefreies Verwaltungsverfahren – ein Beitrag von Prof. Dr. Hermann Plagemann

Blinde und sehbehinderte Menschen haben – so das SG Hamburg – gegenüber dem Jobcenter Anspruch auf elektronische Übersendung der maßgeblichen Dokumente, d.h. Anträge, Hinweisblätter, Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide, und zwar nach entsprechender Einwilligung des Betroffenen auch durch unverschlüsselte E-Mail.

rsw.beck.de

Hinweis: veröffentlicht Tacheles Rechtsprechungsticker KW 34/2023

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss. v. 28.08.2023 – L 8 AY 6/22

Leitsätze
Die vom Bundesrat abgelehnte Anpassung der Leistungen nach dem AsylbLG zum 1. Januar 2017 ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Garantien für die föderale Ordnung von den Fachgerichten zu respektieren. Auch ein Unterschreiten des Existenzminimums ist mit den über den 1. Januar 2017 hinaus fortgeltenden Beträgen bis zur Neuregelung mit Wirkung ab dem 1. September 2019 insoweit nicht anzunehmen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker