Verwaltungsgericht Halle – Beschluss vom 02.10.2023 – Az.: 5 B 450/23 HAL

BESCHLUSS

In der Verwaltungsrechtssache

des minderjährigen xxx, gesetzlich vertreten durch seine in der Ukraine lebenden Eltern Herrn xxx und Frau xxx,

Antragstellers,

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

das Landesverwaltungsamt, vertreten durch den Präsidenten, Ernst-Kamieth-Straße 2, 06112 Halle (Saale),

Antragsgegner,

Beigeladen:

1. Stadt Kassel, vertreten durch den Magistrat, Obere Königstraße 8, 34117 Kassel,
2. Burgenlandkreis vertreten durch den Landrat, Schönburger Straße 41, 06618 Naumburg,

wegen

Kinder- und Jugendhilferechts
(hier: Verteilung ausländischer Jugendlicher nach SGB VIII)

hat das Verwaltungsgericht Halle – 5. Kammer – am 2. Oktober 2023 beschlossen:

Dem Antragsteller wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt.

Ihm wird Herr Rechtsanwalt Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.

Gerichtskosten werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

GRÜNDE:

Der zulässige Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet. Dem – wirtschaftlich bedürftigen – Antragsteller ist die beantragte Prozesskostenhilfe nach § 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO zu gewähren, da seine Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

Die Prüfung der Erfolgsaussichten des Antrags darf nicht dazu führen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 1991 – 1 BvR 1386/91 –, NJW 1992, 889). Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Schutz nicht selbst bieten, sondern nur zugänglich machen. Deshalb lässt das Gericht für eine hinreichende Erfolgsaussicht genügen, dass der Rechtsstandpunkt des Antragstellers zumindest vertretbar ist und die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint.

Der vom Antragsteller im Rahmen seines nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 42b Abs. 7 Satz 2 SGB VIII statthaften Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eingenommene Rechtsstandpunkt, er könne das Verfahren trotz seiner Minderjährigkeit ohne das Jugendamt führen und dem Prozessbevollmächtigten die entsprechende Vollmacht erteilten, zumindest könnten dies seine in der Ukraine lebenden Eltern, und für den Antrag wie sein Klageverfahren (Az.: 5 A 451/23 HAL) bestehe das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis und die Klage sei aller Voraussicht nach nicht nur zulässig, sondern wegen Verstoßes gegen § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII auch begründet, erscheint zumindest vertretbar.

Der Antragsgegner wendet zwar diesbezüglich zum einen ein, eine Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten habe nicht wirksam erfolgen können. Soweit man keine Prozessfähigkeit des Antragstellers nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO annehmen wollte, lässt sich den in das vorliegende Verfahren eingeführten Unterlagen allerdings zumindest nicht entnehmen, dass die Eltern des Antragstellers nicht mehr dessen Personensorge- oder Erziehungsberechtigte und deshalb nicht berechtigt sind, einen Rechtsanwalt zur Vertretung der Interessen ihres Sohnes zu mandatieren.

Soweit der Antragsgegner unter Verweis auf das Urteil des VG Leipzig vom 20. Juni 2017 – 6 L 403/17.A – überdies geltend macht, der Antrag sei nicht zulässig, da sich der streitgegenständliche Zuweisungsbescheid an das Jugendamt des Beigeladenen zu 2. richte und – selbst wenn man den Antragsteller ebenfalls als Regelungsadressaten betrachte – jedenfalls kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe, erscheint dem Gericht die Richtigkeit dieser – weder in der Rechtsprechung noch Literatur überwiegend vertretenen (vgl. etwa: VG Hannover, Beschlüsse vom 28. Juli 2023 – 3 B 3714/23 – juris Rn. 21 ff., und vom 14. Oktober 2019 – 3 B 4442/19 – ZKJ 2020, S. 71 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 3 A 719/18 – juris; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 9. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 12 f.; Möller, in: Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage, Köln 2017, § 42b SGB VIII Rn. 27; Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 42b SGB VIII Rn. 25; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar [Hrsg.] Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 8. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 14) – Rechtsauffassung äußerst zweifelhaft.

Die Klärung dieser zwischen den Beteiligten streitigen Fragestellungen muss – ebenso wie die Prüfung der Begründetheit des Antrags unter Berücksichtigung der Verwaltungsvorgänge sowie der übrigen von den Beteiligten beigebrachten Unterlagen – dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Das Prozesskostenhilfeverfahren dient nicht der Klärung schwieriger Tatsachen- oder Rechtsfragen, sondern lediglich dem Zugang zum Hauptsacheverfahren; es soll dieses nicht ersetzen. Es verstieße gegen das Gebot der Rechtschutzgleichheit, dem Antragsteller hier Prozesskostenhilfe nicht zu gewähren, zumal ihm damit auch – gegebenenfalls – die Gelegenheit geboten wird, eine für ihn negative Entscheidung durch ein Gericht höherer Instanz ändern zu lassen (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. März 1990 – 2 BvR 1247/88 – juris).

Unbeschadet dessen hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung auch deshalb hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil gemäß § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII die Durchführung eines Verteilungsverfahrens bei einem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen ausgeschlossen ist, wenn die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der – ausweislich der Verfügung des Jugendamtes der Beigeladenen zu 1. vom 30. August 2023 hier am 28. August 2023 erfolgten – vorläufigen Inobhutnahme erfolgt. Bei dieser Ausschlussfrist handelt es sich um eine nicht verlängerbare Frist, innerhalb derer die Übergabe an das aufnehmende Jugendamt durchgeführt sein muss (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, a. a. O., § 42b Rn. 9). Der Gesetzeszweck, der darauf gerichtet ist, das Kind oder den Jugendlichen spätestens nach einem Monat nicht mehr aus den zwischenzeitlich entstandenen Bindungen herauszureißen, gebietet es, erst dann eine „Durchführung des Verteilungsverfahrens“ anzunehmen, wenn diese durch Übergabe an das für die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zuständig gewordene Jugendamt abgeschlossen ist, und nicht etwa bereits die Entscheidung, den Minderjährigen zur Verteilung anzumelden, als erfolgte Durchführung zu betrachten (vgl. Möller, in: Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, a. a. O., § 42b SGB VIII Rn. 15). Wie sich die durch das hier betriebene einstweilige Rechtsschutzverfahren bewirkte Verzögerung auswirkt, ist nicht im Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden.

Auf den Antrag des Antragstellers ist ihm Herr Rechtsanwalt Adam aus Göttingen beizuordnen. Die Vertretung des Antragstellers durch einen Rechtsanwalt erscheint erforderlich im Sinne des § 121 Abs. 2 ZPO, weil das Rechtsgebiet für den rechtsunkundigen minderjährigen Antragsteller nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Das gibt Anlass zu der Befürchtung, dass er nach seinen persönlichen Fähigkeiten seine Rechte sachgemäß nicht selbst wahrnehmen und die erforderlichen Maßnahmen in mündlicher und schriftlicher Form nicht selbst veranlassen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juli 2003 – IXa ZB 124/03 – juris) und der Antragsgegner selbst durch Volljuristen vertreten ist. Auf seinen Antrag ist die Beiordnung seines Rechtsanwalts auszusprechen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 1 Nr. 2 GKG und § 166 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:
Dieser Beschluss ist für die Beteiligten dieses Verfahrens unanfechtbar (§ 166 VwGO, § 127 Abs. 2 Satz 1 ZPO).