Verwaltungsgericht Halle – Beschluss vom 13.10.2023 – 5 B 446/23 HAL

BESCHLUSS

In der Verwaltungsrechtsache

des minderjährigen xxx gesetzlich vertreten durch seine in der Ukraine lebenden Eltern Herrn xxx und Frau xxx,

Antragstellers,

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

g e g e n

das Landesverwaltungsamt, vertreten durch den Präsidenten, Ernst-Kamieth-Straße 2,
06112 Halle (Saale),

Antragsgegner,

Beigeladen:
1. Stadt Kassel, vertreten durch den Magistrat, Obere Königstraße 8, 34117 Kassel,
2. Burgenlandkreis, vertreten durch den Landrat, Schönburger Straße 41, 06618 Naumburg,

w e g e n

Kinder- und Jugendhilferechts
(hier: Verteilung ausländischer Jugendlicher nach SGV VIII)

hat das Verwaltungsgericht Halle – 5. Kammer – am 13. Oktober 2023 beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az.: 5 A 447/23 HAL) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. September 2023 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. und 2. sind nicht erstattungsfähig. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

GRÜNDE

Der Antrag hat Erfolg.

Er ist zulässig.

Statthaft ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO, da die Klage des Antragstellers gegen den Zuweisungsbescheid des Antragsgegners gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 42b Abs. 7 Satz 2 SGB VIII keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Die Formulierung „Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage“ versteht das Gericht nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers dahingehend.

Der 16-jährige Antragsteller ist darüber hinaus gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO prozessfähig; insoweit ist er als nach bürgerlichem Recht in der Geschäftsfähigkeit Beschränkter durch Vorschriften des öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt. Denn aus § 42b Abs. 7 SGB VIII ergibt sich im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber die Verteilungsentscheidung nach § 42b SGB VIII als einen mit der Anfechtungsklage angreifbaren Verwaltungsakt erachtet. Da dafür gemäß § 42 Abs. 2 VwGO zumindest die Möglichkeit der Verletzung in eigenen Rechten gegeben sein muss, gilt dies jedenfalls auch für den von einer solchen Verteilungsentscheidung betroffenen Minderjährigen selbst. Dieser muss diese vom Gesetz für ihn vorausgesetzte wehrfähige Rechtsposition zur Wahrung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) grundsätzlich eigenständig wahrnehmen können. Ihn auf eine Wahrnehmung dieser Rechtsposition gemäß § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch das Jugendamt, von dem er vorläufig in Obhut genommen wurde, zu verweisen, begründete angesichts der gerade streitbefangenen Entscheidung des Jugendamtes, ihn zur länderübergreifenden Verteilung anzumelden, einen unauflösbaren Interessenkonflikt.

Selbst wenn man eine Prozessfähigkeit des Antragstellers nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht als gegeben erachten wollte, beständen unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten Unterlagen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Eltern des Antragstellers nicht (mehr) dessen Personensorge- oder Erziehungsberechtigte und deshalb nicht (mehr) berechtigt sind, einen Rechtsanwalt zur Vertretung der Interessen ihres Sohnes zu mandatieren.

Der Antragsteller ist ebenfalls analog § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Ohne Erfolg wendet der Antragsgegner diesbezüglich ein, der streitgegenständliche Bescheid richte sich lediglich an das Jugendamt des Beigeladenen zu 2. Denn obgleich der Antragsteller – im Unterschied zum Beigeladenen zu 1. und 2. – nicht Adressat des angefochtenen Zuweisungsbescheides ist, erscheint zumindest angesichts der den Antragsteller belastenden Drittwirkung des streitgegenständlichen Zuweisungsbescheides eine Verletzung in dessen eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten möglich. Insoweit hat § 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII drittschützenden Charakter; die Norm ist nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht nur den Interessen der Allgemeinheit, sondern zugleich den individuellen Interessen eines abgegrenzten Personenkreises (hier: der unbegleiteten minderjährigen Ausländer) zu dienen bestimmt, dem der Antragsteller angehört.

Weiterhin steht dem Antragsteller das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis beiseite. Zwar argumentiert der Antragsgegner diesbezüglich unter Verweis auf das Urteil des VG Leipzig vom 20. Juni 2017 – 6 L 403/17.A –, selbst wenn man den Antragsteller ebenfalls als Regelungsadressaten betrachte, würde eine auf Aufhebung des Zuweisungsbescheides gerichtete Klage dessen Rechtsstellung nicht verbessern, weil die landesrechtlich zuständige Behörde an die Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamtes gebunden sei und den Minderjährigen ihrerseits im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens landesintern einem in ihrem Bereich gelegenen Jugendamt zur Inobhutnahme zuzuweisen habe. Dies überzeugt indes nicht (vgl. VG Hannover, Beschlüsse vom 28. Juli 2023 – 3 B 3714/23 – juris Rn. 21 ff., und vom 14. Oktober 2019 – 3 B 4442/19 – ZKJ 2020, S. 71 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 3 A 719/18 – juris; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 9. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 12 f.; Möller, in: Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage, Köln 2017, § 42b SGB VIII Rn. 27; Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 42b SGB VIII Rn. 25; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar [Hrsg.] Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 8. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 14). Denn bei den „Zwischenentscheidungen“ des zur Verteilung anmeldenden Jugendamtes und des Bundesverwaltungsamtes handelt es sich verfahrensrechtlich lediglich um vorbereitende, nicht eigenständig mit einem Rechtsbehelf angreifbare Maßnahmen im Sinne von § 44a VwGO. Bei einer Aufhebung der im Außenverhältnis zum betroffenen Minderjährigen ergangenen Verteilungsentscheidung durch das Gericht entfallen, aber auch etwaige (interne) Rechtswirkungen zwischen den beteiligten öffentlichen Rechtsträgern aus den vorhergehenden „Zwischenentscheidungen“ mit der Folge, dass der betroffene Jugendhilfefall in den status quo ante zurückfällt und das erstaufnehmende Jugendamt wieder für jedwede jugendhilferechtliche Maßnahme rechtlich verantwortlich ist (vgl. VG Hannover, Beschlüsse vom 28. Juli 2023 – 3 B 3714/23 – a. a. O. Rn. 25 ff. und vom 14. Oktober 2019 – 3 B 4442/19 – juris Rn. 11 ff.).

Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Eine Anordnung kommt unter anderem dann in Betracht, wenn die – gegen die Vollziehung des Zuweisungsbescheides noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens sprechenden Interessen des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegen.

Ob nämlich eine beabsichtigte hoheitliche Maßnahme unaufschiebbar und die Verwaltung deshalb ermächtigt ist, sie vor einer endgültigen Überprüfung durch die Gerichte zu vollziehen, bestimmt sich nach dem Zweck der Rechtsschutzgarantie und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen ist umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je gewichtiger die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Juli 1973 – 1 BvR 23, 155/73 –, vom 21. März 1985 – 2 BvR 1642/83 – und 14. Mai 1985 – 1 BvR 233, 341/81 –, jeweils juris). Zum einen kommt dabei den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache maßgebliches Gewicht zu: Je größer sie sind, umso eher überwiegt das Interesse des Betroffenen, von Vollzugsmaßnahmen vor Bestandskraft verschont zu bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1982 – 2 BvR 77/82 – juris). Zudem sind die Folgen für den Antragsteller, die zwangsläufig eintreten, wenn die begehrte Aussetzung einer Vollziehung nicht angeordnet wird, sich in der Hauptsache sein Rechtsschutzbegehren aber als erfolgreich darstellt, gegen die Folgen abzuwägen, die entstünden, wenn die Aussetzung der Vollziehung angeordnet würde, sich seine Zuweisung in der Hauptsache aber als rechtmäßig erweisen würde.

In Anwendung dieser Grundsätze ist die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Zuweisungsbescheid des Antragsgegners anzuordnen. Denn insoweit erweist sich die streitige Zuweisungsentscheidung im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung aller Voraussicht nach als rechtswidrig.

Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die streitgegenständliche Zuweisungsverfügung ist § 42b Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) in der Fassung vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1802) – SGB VIII –. Nach dieser Regelung weist die nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen zuständige Stelle (hier: der Antragsgegner) des nach Absatz 1 benannten Landes (hier: Sachsen-Anhalt) das Kind oder den Jugendlichen (hier: den Antragsteller) innerhalb von zwei Werktagen einem in seinem Bereich gelegenen Jugendamt (hier: des Beigeladenen zu 2.) zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 zu und teilt dies demjenigen Jugendamt mit, welches das Kind oder den Jugendlichen nach § 42a vorläufig in Obhut genommen hat (hier: das der Beigeladenen zu 1.).

Maßgeblich für die Zuweisung sind nach Satz 2 der Vorschrift die spezifischen Schutzbedürfnisse und Bedarfe unbegleiteter ausländischer Minderjähriger. Nach der Gesetzesbegründung enthält § 42b Abs. 3 Satz 2 SGB VIII eine „ermessensleitende Vorgabe des Kindeswohls“ (vgl. BT-Drs. 18/6392, S. 19). Dabei ist die Durchführung eines Verteilungsverfahrens bei einem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen gemäß § 42b Abs. 4 SGB VIII ausgeschlossen, wenn 1. dadurch dessen Wohl gefährdet würde, 2. dessen Gesundheitszustand die Durchführung eines Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a nicht zulässt, 3. dessen Zusammenführung mit einer verwandten Person kurzfristig erfolgen kann, zum Beispiel aufgrund der Dublin-III-Verordnung, und dies dem Wohl des Kindes entspricht oder 4. die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt.

Nach der im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen aber auch gebotenen summarischen Prüfung verstößt die streitbefangene Verteilung des Antragstellers bereits gegen § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII, wonach eine Verteilung eines unbegleiteten minderjährigen Kindes oder Jugendlichen ausgeschlossen ist, wenn dadurch das Wohl des Minderjährigen gefährdet würde. Diese dem Wortlaut nach verkürzte Perspektive auf eine Kindeswohlgefährdung anstelle der auch in der Begründung des Gesetzgebers hervorgehobenen vorrangigen Orientierung am Kindeswohl erscheint in Anbetracht internationaler Vorgaben durchaus problematisch (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 9. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 6). Indes ist unbeschadet dessen ausweislich der Gesetzesbegründung im Rahmen des Kindeswohls jedenfalls insbesondere zu berücksichtigen, dass bereits aufgebaute soziale Bindungen des Minderjährigen am Ort der vorläufigen Inobhutnahme durch eine Verteilung nicht wieder zerstört werden sollen; hierzu zählt auch eine Fluchtgemeinschaft mit anderen jungen Menschen (vgl. BT-Drs. 18/5921, S. 17).

Bei Würdigung des bisherigen Sach- und Streitstandes ist eine solche Situation in Bezug auf den Antragsteller aller Voraussicht nach anzunehmen. Ausweislich des Aktenvermerks vom 31. August 2023 hat der Antragsteller des Verfahrens 5 B 448/23 HAL, den die zuständige Sachbearbeiterin offensichtlich mit dem Antragsteller des Verfahrens 5 B 450/23 HAL namentlich verwechselte, bereits im Erstgespräch am 30. August 2023 beim Jugendamt der Beigeladenen zu 1. auf seine im Stadtgebiet wohnende, ihn unterstützende Tante sowie – wie auch der Antragsteller selbst – im sportlichen Bereich bereits gefundenen Anschluss hingewiesen und geäußert, dass er mit den Antragstellern der Verfahren 5 B 448/23 HAL und 5 B 450/23 HAL zusammenbleiben wolle. Frau Ovchynnikova erklärte sich mit Schreiben vom 23. September 2023 nicht nur zur Unterstützung ihres Neffen, des Antragstellers im Verfahren 5 B 448/23 HAL, sondern auch seiner beiden Freunde, also ebenfalls des Antragstellers, vor Ort bereit und unterstützte diese bereits in der Vergangenheit, beispielsweise bei Behördengängen (vgl. etwa Aktenvermerk vom 21. September 2023 und gemeinsame Stellungnahme des Antragstellers und seiner beiden Freunde vom 26. September 2023). Damit hat der Antragsteller sinngemäß einen gewichtigen sozialen Grund geltend gemacht, der aus seiner Sicht gegen eine länderübergreifende Verteilung spricht. Eine Vollziehung des angefochtenen Zuweisungsbescheides würde diesen nämlich räumlich so weit von der in der Beigeladenen zu 1. wohnenden Tante des Antragstellers im Verfahren 5 B 448/23 HAL und diesem sowie dem nur circa 12 Kilometer von der Beigeladenen zu 1. gelegenen Sportverein trennen, dass er den für ihn aus Kindeswohlgesichtspunkten notwendigen engen Kontakt zu seinem bereits bestehenden sozialen Umfeld nicht in ausreichendem Maße aufrechterhalten könnte.

Zwar geht die Gesetzesbegründung in erster Linie von Bindungen zu anderen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aus, während der Antragsteller mit der Tante des Antragstellers des Verfahrens 5 B 448/23 HAL eine volljährige Bezugsperson hat. Dies ändert jedoch nichts an der dahinterstehenden Intention des Schutzes der zwischen dem Antragsteller und der Tante bestehenden sozialen Bindungen und der von ihm durch sie widerfahrenen Unterstützung. Unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten Unterlagen ist danach für die Kammer das von der Beigeladenen zu 1. Angenommene Einverständnis des Antragstellers zu einer länderübergreifenden Verteilung nicht ansatzweise nachvollziehbar und erweist sich im Rahmen der im Eilverfahren vorzunehmenden Würdigung schon die Anmeldung des Antragstellers zum länderübergreifenden Verteilungsverfahren durch die Beigeladene zu 1. als rechtswidrig; die dieser Entscheidung zugrundeliegende Einschätzung gemäß § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB VIII erscheint im Ergebnis offensichtlich fehlerhaft, weil die Beigeladene zu 1. gewichtige, gegen eine länderübergreifende Verteilung des Antragstellers sprechende Gesichtspunkte seines Wohls zu gering gewichtet und im Ergebnis unberücksichtigt gelassen hat.

Die Beigeladene zu 1. hätte sich vor einer Anmeldung des Antragstellers zur länderübergreifenden Verteilung davon zu überzeugen müssen, dass eine das Wohl des Antragstellers wahrende Verteilung erreichbar ist. Erst und nur wenn diese Frage im Rahmen der von ihr nach § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII zu treffenden Einschätzung positiv geklärt gewesen wäre, hätte sie ihn zur Umverteilung anmelden dürfen. Zumindest hätte sie etwaige für eine Umverteilung des Antragstellers sprechende Umstände mit den gegen eine Umverteilung sprechenden abwägen und nachvollziehbar begründen müssen, warum sie aus Kindeswohlgesichtspunkten stärker zu gewichten sein sollen als insbesondere die vom Antragsteller dargelegten psychosozialen Bedürfnisse, was sie ebenfalls nicht getan hat.

Das in der Regelungssystematik der §§ 42a f. SGB VIII berücksichtigte Interesse der Jugendämter an einer lastengerechten Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer tritt im Einzelfall, wie sich aus § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII unmittelbar ergibt, hinter den Kindeswohlbelangen der betroffenen Minderjährigen zurück (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 28. Juli 2023 – 3 B 3714/23 – juris Rn. 32). Die Ausführungen des Antragsgegners in dem angefochtenen Bescheid, die konkrete Zuweisung trage dem spezifischen Schutzbedürfnis und Bedarf des Antragstellers Rechnung, da dieser Bedarf am ehesten in angemessener Weise durch das Jugendamt des Burgenlandkreises sichergestellt werden könne, weil es durch eine derzeit geringere Auslastung mit unbegleiteten minderjährigen Ausländern eher geeignet scheine, dem Kindeswohl im konkreten Fall gerecht zu werden, vermag schon deshalb keine anderweitige rechtliche Würdigung zu rechtfertigen. Zudem ist diese Aussage durch keine Gesichtspunkte des Kindeswohls untersetzt.

Abgesehen davon muss sich der Antragsgegner im Übrigen nach der Systematik der §§ 42a ff. SGB VIII, die eine eigenständige verwaltungsgerichtliche Kontrolle der von der Beigeladenen zu 1. gemäß § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII getroffenen Entscheidung, den Antragsteller zum Verteilverfahren anzumelden, nicht vorsieht, deren Fehlerhaftigkeit im Außenverhältnis zum Antragsteller zurechnen lassen. Das heißt, die rechtsfehlerhafte Entscheidung der Beigeladenen zu 1. „infiziert“ auch seine Zuweisungsentscheidung vom 18. September 2023 und diese ist dadurch ebenfalls gegenüber dem Antragsteller im rechtlichen Außenverhältnis rechtswidrig.

Die Entscheidung selbständig tragend kommt hinzu, dass sich der streitgegenständliche Zuweisungsbescheid nach der vorzunehmenden summarischen Prüfung voraussichtlich auch deshalb als rechtswidrig erweist, weil er dem Antragsteller bislang nicht wirksam bekanntgegeben wurde und dies auch nicht mehr innerhalb der Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII möglich ist. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der – wie der Antragsteller – von ihm betroffen wird. Bekanntgabe lässt sich zusammenfassend definieren als die Eröffnung des Verwaltungsaktes mit Wissen und Willen der erlassenden Behörde (vgl. Pattar, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, § 37 SGB X [Stand: 21. Dezember 2020] Rn. 67). Dies ist ausweislich des vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsvorganges bislang nicht geschehen; dieser enthält lediglich ein am 20. September 2023 unterzeichnetes Empfangsbekenntnis des Beigeladenen zu 2. Nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ist die Durchführung eines Verteilungsverfahrens bei einem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen allerdings ausgeschlossen, wenn die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der – ausweislich der Verfügung des Jugendamtes der Beigeladenen zu 1. vom 30. August 2023 hier am 28. August 2023 erfolgten – vorläufigen Inobhutnahme erfolgt. Die Monatsfrist beginnt erst mit der Feststellung der Minderjährigkeit und nicht bereits mit Beginn der vorläufigen Inobhutnahme zum Zweck der Altersbestimmung zu laufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 2018 – 5 C 11.17 – juris Rn. 26). Bei dieser Ausschlussfrist handelt es sich allerdings um eine nicht verlängerbare Frist, innerhalb derer die Übergabe an das aufnehmende Jugendamt durchgeführt sein muss (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, a. a. O., § 42b Rn. 9). Der Gesetzeszweck, der darauf gerichtet ist, das Kind oder den Jugendlichen spätestens nach einem Monat nicht mehr aus den zwischenzeitlich entstandenen Bindungen herauszureißen, gebietet es, erst dann eine „Durchführung des Verteilungsverfahrens“ anzunehmen, wenn diese durch Übergabe an das für die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zuständig gewordene Jugendamt abgeschlossen ist, und nicht etwa bereits die Entscheidung, den Minderjährigen zur Verteilung anzumelden, als erfolgte Durchführung zu betrachten (vgl. Möller, in: Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, a. a. O., § 42b SGB VIII Rn. 15). Nach dem Ablauf der nicht verlängerbaren Frist, innerhalb deren die Übergabe an das aufnehmende Jugendamt durchgeführt sein muss, kommt nur noch eine einvernehmliche Zuständigkeitsübernahme aus Gründen des Kindeswohls oder sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht nach § 88a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII mit dem Einverständnis des unbegleiteten minderjährigen Ausländers in Betracht (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], Frankfurter Kommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 9. Auflage, Baden-Baden 2022, § 42b Rn. 9). Nach dem Vorstehenden kann offen bleiben, ob die Zeit einer gerichtlichen Prüfung Einfluss auf die Frist hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO. Danach trägt der unterliegende Teil die Kosten des – gerichtskostenfreien – Verfahrens. Es besteht keine Veranlassung, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, da diese keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.