Tacheles Rechtsprechungsticker KW 46/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II) und zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 06.06.2023 – B 4 AS 4/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche – Unionsbürger – Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger – Unterhaltsgewährung durch Eltern vor dem Zeitpunkt der Einreise – wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis – Sozialhilfe für Ausländer – Überbrückungsleistungen – sozialgerichtliches Verfahren – Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers – unzulässige Klage – Fehlen einer vorherigen Verwaltungsentscheidung – neuer Leistungsantrag – Zäsurwirkung – Zeitraum

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Eine Unterhaltsgewährung im Sinne des § 3 Absatz 2 Nummer 2 Freizügigkeitsgesetz/EU alter Fassung setzt voraus, dass ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen wird. Eine solche Abhängigkeit liegt nur vor, wenn der Verwandte in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage unter Berücksichtigung der Situation im Herkunfts- oder Heimatland nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt und deshalb einen nicht unwesentlichen Unterhaltsbetrag erhält.

Daran fehlt es hier, denn die Mutter der Klägerin wendete dieser im Zeitraum von zwölf Monaten vor der Einreise in das Bundesgebiet lediglich Zahlungen in Höhe von monatlich weniger als 37 Euro zu.

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

1.2 – BSG, Urt. v. 17.05.2023 – B 8 SO 6/22 R

Eingliederungshilfe – Sozialdienstleister-Einsatzgesetz – Corona-Pandemie – Zuschuss – Berechnung

Hinweis: Siehe dazu: Iffland Wischnewski erstreitet deutlich ausgeweitete Corona-Hilfen für Sozialleistungserbringer – Erfolg vor dem Bundessozialgericht

www.iw-recht.de

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 21.09.2023 – L 4 AS 194/23 B

Leitsätze
Bei der Berechnung des Beschwerdewerts iSv § 172 Abs 3 Nr 2 iVm § 144 Abs 1 Satz 1 SGG ist – wenn um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gestritten wird – die Höhe der begehrten Geldleistung als Sozialleistung nach § 19a SGB I maßgeblich. Die im Fall einer Bewilligung von SGB II-Leistungen vom Grundsicherungsträger abzuführenden Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind nicht bei der Berechnung des Beschwerdewerts einzubeziehen. Die soziale Absicherung von Alg II-Empfängern ist eine Annex-Leistung zu der Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts und gehört nicht zu den (auszahlbaren) SGB II-Leistungen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG NRW, Urt. v. 14.06.2023 – L 12 AS 245/21

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss – Aufenthaltsrecht – Arbeitsuche – Unionsbürger – Meldung bei Meldebehörde

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet iS von § 7 Abs 1 S 4 SGB II setzt nicht zwingend eine durchgehende Meldung bei einer Meldebehörde während des gesamten Zeitraums voraus. Die Anmeldung ist gemäß § 7 Abs 1 S 5 SGB II lediglich Voraussetzung des Fristbeginns (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 08.12.2021, L 12 AS 1644/21 B ER).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Inzwischen hat das BSG sich zu dieser Rechtsfrage geäußert: BSG, Urt. v. 20.09.2023 – B 4 AS 8/22 R

Bedarf ein dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst b SGB 2 entgegen stehendes Daueraufenthaltsrecht gemäß § 7 Abs 1 S 4 SGB 2 nach erfolgter Erstanmeldung bei der Meldebehörde einer ununterbrochenen Meldung im Fünfjahreszeitraum?

BSG: Für Bürgergeld keine ununterbrochene Behördenmeldung nötig.

www.bsg.bund.de

Lesenswert:
BSG: Leistungsausschluss für Unionsbürger und Anforderungen an gewöhnlichen Aufenthalt

Redaktion eGovPraxis Jobcenter

Fazit
Für die Berechnung des Fünfjahreszeitraums nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II ist zu beachten:

Die Frist beginnt mit dem Tag der Erstanmeldung des Ausländers gem. § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II zu laufen.
Die Anmeldung bei der Meldebehörde hat für den Lauf der Fünfjahresfrist konstitutive Wirkung.
Nur unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts in der Bundesrepublik (z.B. kurzer Heimatbesuch) sind unbeachtlich.
Liegt keine unwesentliche Unterbrechung vor, beginnt die Frist erneut zu laufen.
Der Leistungsanspruch auf Bürgergeld erfordert keine ununterbrochene Meldung im Fünfjahreszeitraum; entscheidend ist der gewöhnliche Aufenthalt im Inland.

Quelle: www.wolterskluwer.com

2.3 – LSG NRW, Beschluss v. 03.05.2023 – L 19 AS 417/23 B ER

Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf Gewährung von Härtefallleistungen; Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit

weiter: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – LSG Hamburg, Urt. v. 20.07.2023 – L 4 AS 200/16

Ermittlung der Einkünfte eines grundsicherungsberechtigten Selbständigen

Orientierungssatz
1. Bei der Ermittlung der Einkünfte eines selbständigen Grundsicherungsberechtigten ist von dessen Betriebseinnahmen auszugehen. (Rn.37)

2. Zu den berücksichtigungsfähigen Betriebsausgaben zählen u. a. Personalkosten, betrieblich bedingte Reisekosten, Investitionskosten in angemessener Höhe, Zinsen und gezahlte Vorsteuern. (Rn.38)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

Hinweis Redakteur:
1. Mehrfachanrechnung des Grundfreibetrags bei Einmalzahlung (hier Elterngeld) rechtens, vgl. BSG, Urteil vom 17.7.2014 – B 14 AS 25/13 R

2. Mehrfachanrechnung der Versicherungspauschale auch rechtens (vgl. BSG, Urteil vom 17.7.2014 – B 14 AS 25/13 R, LSG Berlin-Bgb, Urteil vom 17.9.2015 – L 31 AS 1571/15; LSG BW, Urteil vom 29.1.2015 – L 7 AS 4641/12; Löcher, Anm. zu BSG vom 17.7.2014, in SGb 2015 S. 690 ff, 695; a.A. LSG Nds/Bremen, Urteil vom 8.9.2020 – L 7 AS 354/19)

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG Freiburg, Urt. v. 26.05.2023 – S 7 AS 1845/22

Leitsätze
Die Höhe der Regelbedarfe des Arbeitslosengeld II im Jahr 2022 (hier: Regelbedarfsstufe 2) genügt in der Zusammenschau mit weiteren finanziellen Entlastungsmaßnahmen des Gesetzgebers im Jahr 2022 – noch – den an die Bestimmung ihrer Höhe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen. Eine andere Beurteilung ist auch nicht deswegen angezeigt, weil im Jahr 2022 gegenüber den Vorjahren eine erhebliche Teuerung der Verbraucherpreise eingetreten ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
a. A. Vorlagebeschluss SG Karlsruhe vom 06.06.2023 im Verfahren S 12 AS 2208/22 zur Verfassungswidrigkeit der Existenzsicherung in 2021 + 2022 (Tacheles Rechtsprechungsticker KW 37/2023)

3.2 – SG Landshut, Urt. v. 27.10.2023 – S 11 AS 62/22

Die Ablehnung höherer Leistungen oder Begrenzung auf einen Monat hat zur Folge, dass alle weiteren Änderungs- oder Ablehnungsbescheide, die den aktuellen Bewilligungszeitraum betreffen, Gegenstand des Klageverfahrens nach § 96 Abs. 1 SGG werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de/

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 26.07.2023 – L 2 AL 12/22

Arbeitslosengeldanspruch – Beurteilung der Beschäftigungslosigkeit – „Einfühlungsverhältnis“ – längerfristiges Praktikum – Umsatzakquise

Orientierungssatz
Im Rahmen der Prüfung der Beschäftigungslosigkeit iS des § 138 Abs 1 Nr 1 SGB 3 kommt es nicht darauf an, ob ein rechtlich unverbindliches „Einfühlungsverhältnis“ vorgelegen hat, denn beschäftigungslos ist auch nicht, wer in einem faktischen Arbeitsverhältnis oder sogar ohne ein bestehendes Arbeitsverhältnis im Erwerbsleben geistige oder körperliche Kräfte einsetzt mit dem Ziel eine Dienstleistung oder einen Arbeitserfolg herbeizuführen. (Rn.19)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

5. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – SG Freiburg, Urt. v. 23.06.2023 – S 7 SO 4318/20

Grenzen der Mitwirkung nach § 65 SGB I für die Gewährung einer einmaligen Sozialhilfeleistung in Höhe von wenigen hundert Euro (hier: Bestattungskosten nach § 74 SGB XII)

Sozialhilfe: Die Grenze der Angemessenheit im Sinne der Mitwirkungspflicht des Antragstellers ist überschritten, wenn für die Gewährung einer einmaligen Sozialhilfeleistung in Höhe von wenigen hundert Euro (hier: Bestattungskosten nach § 74 SGB XII) eine Mitwirkungshandlung gefordert wird, die dem Betroffenen Kosten in Höhe eines Drittels der Sozialhilfeleistung verursachen würde (Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.)

Leitsätze
1. In analoger Anwendung von § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I nicht, wenn ihre Erfüllung dem Betroffenen faktisch oder rechtlich unmöglich ist (hier: Beauftragung eines Wertgutachtens über einen PKW, der sich nicht im Besitz des Betroffenen befindet und auf den der Betroffene auch kein Besitzrecht hat).

2. In analoger Anwendung von § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I nicht nur dann nicht, wenn der Leistungsträger sich durch geringeren Aufwand die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann, sondern – im Wege des Erst-Recht-Schlusses – auch dann nicht, wenn der Leistungsträger über die erforderlichen Kenntnisse bereits verfügt, weil alle ausschlaggebenden Tatsachen bereits aktenkundig sind.

3. Ob die Erfüllung der Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I im Sinne des § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I in angemessenem Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung steht, ist als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar.

4. Ob ein angemessenes Verhältnis zwischen der in Anspruch genommenen Sozialleistung und den durch die Erfüllung der Mitwirkungspflichten entstehenden Kosten vorliegt, lässt sich nicht durch allgemeingültige mathematische (etwa prozentuale) Grenzen oder Formeln bestimmen. Insbesondere kann bei Dauerleistungen oder Leistungen in erheblicher absoluter Höhe ein höherer finanzieller Eigenbeitrag des Betroffenen im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zu erwarten sein als bei geringen, einmaligen Leistungen. Die Grenze der Angemessenheit im Sinne des § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I ist jedenfalls dann überschritten, wenn für die Gewährung einer einmaligen Sozialhilfeleistung in Höhe von wenigen hundert Euro (hier: Bestattungskosten nach § 74 SGB XII) eine Mitwirkungshandlung gefordert wird, die dem Betroffenen Kosten in Höhe eines Drittels der Sozialhilfeleistung verursachen würde.

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Magdeburg – Beschluss vom 09.10.2023 – Az.: S 31 AY 62/23 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Magdeburg

weiter bei RA Sven Adam

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Gewährung von Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1.

7. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

7.1 – Paritätische Expertise zeigt: Nicht einmal jedes fünfte Kind im Bürgergeldbezug profitiert von Teilhabeleistungen

weiter: www.der-paritaetische.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker