Tacheles Rechtsprechungsticker KW 06/2024

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung/Bürgergeld (SGB II)

1.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 23.11.2023 – L 4 AS 1149/19 – Revision zugelassen

Zur Frage, ob es sich bei der Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit um einen bindenden feststellenden Verwaltungsakt handelt, dies hier bejahend (Tacheles e. V.)

Leitsätze
1. Wenn sich arbeitslose Personen, die als Grenzgänger beschäftigt waren, also ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, nicht der deutschen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen, entsteht keine aus der beendeten Beschäftigung bei einem inländischen Arbeitgeber abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung i.S.d. § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU.

2. Liegt eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit vor, dass die Arbeitslosigkeit nicht unverschuldet eingetreten ist, handelt es sich um einen feststellenden Verwaltungsakt, der Tatbestandswirkung entfaltet und zu beachten ist, solange er wirksam ist. Eine materiell-rechtliche Überprüfung der Richtigkeit findet nicht statt.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Sächsisches LSG, Urt. v. 12.10.2023 – L 3 AS 1050/19

Leitsätze
1. Der Zugang einer E-Mail setzt voraus, dass sie auf dem E-Mail-Server des Empfängers oder des Providers eingegangen, das heißt abrufbar gespeichert ist.

2. Der Nachweis des Absendens einer E-Mail begründet keinen Anscheinsbeweis für deren Zugang.

3. Der Ausdruck einer E-Mail kann allein Beweis dafür erbringen, dass die E-Mail mit den dort aufgeführten Anhängen versandt worden ist, nicht aber für den Inhalt ihrer Anhänge.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Sächsisches LSG, Urt. v. 19.12.2023 – L 4 AS 107/20

Leitsätze
1. Da es dem kommunalen Träger zur Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten iSd § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II im Rahmen der Methodenfreiheit überlassen ist, die örtlichen Verhältnisse nach seinem Konzept abzubilden, ist es auch seine Aufgabe, die konkreten Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes zu beobachten und ggf. die Angemessenheitswerte zeitnah zu aktualisieren.

2. Wird im gerichtlichen Verfahren bei festgestellten Mängeln ein Konzept bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch das Jobcenter nicht nachgebessert, kann das Gericht die Mängel selbst zu beseitigen, wenn dies ohne Eingriff in die dem kommunalen Träger obliegende Methodenauswahl, beispielsweise durch bloße rechnerische Korrektur möglich ist.

3. Die Vermutungswirkung, dass eine ausreichende Anzahl von Wohnungen zum Angemessenheitswert eines kommunalen Konzeptes vorhanden sind, entfaltet sich bereits dann, wenn zwar nicht der Mietspiegel als solcher zugrunde gelegt wird, aber die verwendeten Mietspiegeldaten selbst nach einer anerkannten wissenschaftlichen Methode erstellt und ausgewertet worden sind und daraus Aussagen zur Häufigkeit von Wohnungen mit dem angemessenen Quadratmeterpreis ableitbar sind.

4. Es widerspricht dem Konzept des SGB II, die Bedarfe zur Deckung der Unterkunftskosten durch Zurverfügungstellung von Geldleistungen seitens des Leistungsträgers zu decken, wenn sicher ist, dass der Leistungsempfänger diese nicht zweckentsprechend einsetzt, weil er Einwendungen gegen die Forderungen erhebt. Daher besteht trotz Fälligkeit eine Betriebskostennachforderung kein aktuell zu deckender Unterkunftsbedarf, wenn der Leistungsbezieher der Nachforderung des Vermieters widerspricht und er damit zum Ausdruck bringt, die Forderung aktuell nicht zu erfüllen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – LSG Hessen, Beschluss v. 08.01.2024 – L 6 AS 397/23 B ER

Bürgergeld (Orientierungssatz Tacheles e. V.):
1. Mutterschaftsgeld ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen (seit Juli 2023 – § 11a Abs. 1 Nr. 6 SGB II).

2. Der Zuschuss zum Mutterschaftsgeld vom Arbeitgeber stellt – Erwerbseinkommen – dar, weshalb er nach § 11 SGB II als Einkommen zu berücksichtigen ist und auch die Absetzbeträge nach § 11b SGB II zu berücksichtigen sind.

Leitsätze
1. Ein Anordnungsgrund für weitere Bedarfe für Unterkunft und Heizung besteht nicht, solange die geltend gemachte Differenz durch Freibeträge aus Erwerbstätigkeit (§ 11b SGB II) sowie anrechnungsfreies Einkommen (§ 11a SGB II, hier Mutterschaftsgeld) gedeckt werden kann.

2. Ein Anordnungsanspruch auf Übernahme einer Mietkaution als Darlehen besteht nicht, wenn sich der Leistungsberechtigte bereits vor Antragstellung rechtlich zur Übernahme der Kaution verpflichtet hat (vgl. § 22 Abs. 6 SGB II).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – SG Osnabrück, Urt. v. 17.10.2023 – S 16 AS 47/21

Hilfebedürftigkeit – Ersatzanspruch nach § 34 SGB II – keine Folgebescheinigung bei Krankengeld

Bürgergeld: Kein sozialwidriges Verhalten bei Hilfebedürftigkeit aufgrund fehlender lückenloser AU-Bescheinigung

1. Fällt ein Anspruch auf Krankengeld weg, weil der Leistungsempfänger sich zu spät um einen (weiteren) Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit kümmert, führt dies nicht dazu, dass daraufhin bezogene „Hartz IV“-Leistungen (jetzt Bürgergeld) nach Beendigung des Bezugs zurückgezahlt werden müssen.

2. Eine Zurechnung des Verhaltens zu anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft sieht § 34 SGB II nicht vor.

Quelle: SG Osnabrück

2.2 – SG Nordhausen, Urt. v. 09.01.2024 – S 13 AS 1018/22

Zur Frage der Aufrechnungshöhe bei einem Erstattungsanspruch (Tacheles e. V.)

Bürgergeld:
In atypischen Fällen dürfen die JobCenter auch einen geringeren Aufrechnungsbetrag ansetzen, dabei muss der Grundsicherungsträger von seinem ERMESSEN Gebrauch machen, meint der Verein Tacheles.

Leitsatz
Die nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SGB II vorgesehene Aufrechnungsmöglichkeit in Höhe von 30 % kann durch das Jobcenter unterschritten werden.

Quelle: SG Nordhausen

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 09.08.2023 – L 2 AL 49/18

Berufliche Weiterbildung – Anspruch auf Weiterbildungsprämie – Bestehen einer Zwischenprüfung – Ausbildungsberuf Maler und Lackierer – Vorbereitungslehrgang für Ausbildungsabbrecher zur Vorbereitung auf die berufliche Abschlussprüfung als externer Prüfling

Orientierungssatz
Das Bestehen einer Externenprüfung nach Besuch eines Vorbereitungslehrgang für Ausbildungsabbrecher zur Vorbereitung auf die berufliche Abschlussprüfung begründet einen Anspruch auf eine Weiterbildungsprämie für das Bestehen einer Zwischenprüfung, wenn eine nach § 81 SGB 3 geförderte berufliche Weiterbildung, die zu einem Abschluss in einem Ausbildungsberuf (hier: Maler und Lackierer) führt, vorliegt. (Rn.55)

Quelle: www.landesrecht-mv.de

Rechtstipp Tacheles e. V. :
vgl. dazu LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 09.08.2023 – L 2 AL 47/18

3.2 – LSG NRW, Urteil vom 30. Oktober 2023 – L 20 AL 174/22

Kurzarbeitergeld – für die in Coronazeiten eröffnete Pizzeria

Bei der Eröffnung einer Pizzeria Mitte August 2020 war noch nicht mit einer vollständigen behördlichen Untersagung des Betriebes ab November zu rechnen, sodass aus diesem Grund die Gewährung von Kurzarbeitergeld nicht versagt werden darf.

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Hinweis Tacheles e. V. :
Volltext und Leitsatz

Leitsätze
1. Zur zweistufigen Ausgestaltung des Bewilligungsverfahrens für Kurzarbeitergeld (Kug).

2. Ist lediglich der Anerkennungsbescheid auf der ersten Stufe des Kug-Bewilligungsverfahrens angefochten, kann eine Verurteilung zur Leistung nicht erfolgen. Möglich ist dann allein eine Verurteilung zur Feststellung eines erheblichen Arbeitsausfalls sowie der betrieblichen Voraussetzungen für Kug.

3. Zum Vorliegen eines „erheblichen Arbeitsausfalls“ für die Mitarbeiter eines Restaurants (§ 95 Satz 1 Nr. 1 SGB III) ab dem 02.11.2020 (Beginn des zweiten Lockdowns während der Covid-19-Pandemie; sog. Wellenbrecher-Lockdown) bei Eröffnung des Restaurants am 25.10.2020.

4. Bei rechtlich bindenden Vorbereitung zur Eröffnung eines Restaurants im August 2020 (u.a. Einstellung von Mitarbeitern für die Zeit ab dem 25.10.2025) und Eröffnung des Restaurants am 25.10.2020 musste der Betreiber nicht mit einer vollständigen behördlichen Untersagung des Betriebs von Restaurants ab dem 02.11.2020 rechnen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

4.1 – Sozialgericht Heilbronn – Beschluss vom 18.01.2024 – Az.: S 3 AY 2191/23 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 2 AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Kostenentscheidung, Sozialgericht Heilbronn

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5. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Mangel an Wohnraum – Eigenbedarfskündigung wirksam: Mieter können trotzdem bleiben

Flattert die Eigenbedarfskündigung des Vermieters ins Haus, ist für Mieter meist Schluss mit lustig. Zumindest, wenn der Rauswurf gut begründet ist. Doch manchmal schützt auch eine Sozialklausel. Und die kann auch bei einem Mangel an Wohnraum greifen, wie ein Urteil zeigt.

Grundsätzlich gilt: Wollen Eigentümer Mieter an die Luft setzen, um die vermietete Immobilie selbst zu nutzen, brauchen sie einen triftigen Grund für die Kündigung. Denn eine Eigenbedarfskündigung setzt ein Nutzungsinteresse von hinreichendem Gewicht voraus. So ist sie gesetzlich geregelt. Im Kündigungsschreiben muss etwa stehen, wer an seiner Stelle einziehen soll und warum. Ist dies gegeben, sind Mieter meist chancenlos.

Urteil des Landgerichts Berlin II (Az.: 117 C 257/21)

weiter: www.n-tv.de

5.2 – Zusammensetzung der SGB-II-Leistungsberechtigten und der Sanktionspraxis

Zurück nach Hartz IV – 100 Prozent Sanktionen

Erklärung des Bundeserwerbslosenausschusses

Zur Beurteilung der Quote von Leistungsminderungen (Sanktionspraxis) im SGB-II-System muss man den Bestand der Leistungsberechtigten Personen kennen. In der SGB-II-Statistik werden nach dem Bestandskonzept leistungsberechtigte Personen mit Leistungsminderungen am Bestand gemessen.

Wenn man das macht, dann bekommt man die „Leistungsminderungsquote“ in Prozent.

Über viele Jahre, bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) im Jahr 2019 und der nachfolgenden Corona-Pandemie, wurden zehntausende Leistungsberechtigte teilweise über Monate und einige auch zu 100 Prozent sanktioniert. 

Trotz dieser „harten“ Sanktionspraxis lag die Sanktionsquote aber immer nur zwischen 4 und 5 Prozent bezogen auf den Bestand.

weiter: arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker