Tacheles Rechtsprechungsticker KW 07/2024

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung/Bürgergeld (SGB II)

1.1 – Sächsisches LSG, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER

Bürgergeld/Grundsicherung:
Bürgergeldempfänger für ihr Verhalten zu bestrafen, ist nicht Sinn und Zweck des § 5 Abs. 3 SGB II, so der Verein Tacheles.

Denn eine Mitwirkungsaufforderung des JobCenters (hier bei der Familienkasse Antrag auf Kinderzuschlag zu stellen) muss auf die konkret geforderte Mitwirkungshandlung und die von der Behörde im Falle fehlender Mitwirkung konkret beabsichtigte Reaktion hinweisen.

1. Die Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bedarf einer Ermessensentscheidung, ansonsten ist der Bescheid rechtswidrig.

Bürgergeld:
Entziehungsbescheide des JobCenters wegen fehlender Mitwirkung sind oft rechtswidrig wegen fehlender Ermessensausübung.

Leitsätze
1. Die nach § 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II geforderte Rechtsfolgenbelehrung unterliegt den gleichen strengen Anforderungen wie der in § 66 Abs. 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis auf die Rechtsfolgen unterlassener Mitwirkung.

2. Jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II bedarf es einer Ermessensentscheidung des Antragsgegners (wie Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER – juris Rn. 31).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp Tacheles e. V.:
vgl. dazu Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER –

Die Entziehung von Bürgergeld nach Versagen von Leistungen eines anderen Trägers bedarf einer Ermessensentscheidung, bei der das Recht über Leistungsminderungen zu berücksichtigen ist.

Zu gerne weise ich auf folgende Aussage eines Richters eines Sozialgerichts hin:
Jedem steuerfinanzierten „Kundenberater“ jedes steuerfinanzierten „Jobcenters“ ist es zuzumuten, seinen königlichen „Kundenbei BedarfKundengespräche“ in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben.

1.2 – Sächsisches LSG, Urt. v. 17.08.2023 – L 3 AS 458/22

Leitsätze
1. Die Zuweisung einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person durch das Jobcenter ist Voraussetzung für die Zuschussgewährung nach § 16i Abs. 1 SGB II an den Arbeitgeber.

2. Der Zuweisungsbescheid nach § 16i Abs. 3 SGB II ist ein Verwaltungsakt.

3. Die Zuweisung führt zu keinem Rechtsverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Arbeitgeber. Es handelt sich um eine besondere Form der Arbeitsvermittlung, um ein konkretes Vermittlungsangebot des SGB II-Leistungsträgers.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG Hessen, Urt. v. 13.12.2023 – L 6 AS 305/23 – Revision zugelassen

Grundsicherung/Bürgergeld:
Zur Frage, ob es sich bei der Regelung des § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II um eine Fristenregelung handelt.

Während das BSG zu § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II a.F. die Ansicht vertrat, es handele nicht um eine Fristenregelung (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 4 AS 99/10 R), hat es diese Frage für die neugefasste Regelung § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II ausdrücklich offengelassen (BSG, Urteil vom 11. Juli 2019 – B 14 AS 51/18 R).

LSG Hessen:
Kann der per E-Mail gestellte Antrag auf Bürgergeld vom 01. August als Antrag auf Leistungen ab 01. Juli zurückwirken?

Nein, er wirkt nicht auf den 1. Juli 2021 zurück. Leistungsbeginn ist der 01. August.

1. Keine Rückwirkung beim Bürgergeld – Leistungen nach dem SGB II werden nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht (Tacheles e. V.)

Leitsätze
Gegen eine Rückwirkung eines Antrags auf Leistungen über den Monatsersten hinaus spricht neben dem Wortlaut des § 37 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB II die Systematik der Vorschrift.

Es kann dahinstehen, ob es sich bei § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II um eine gesetzliche Frist handelt. § 26 Abs. 3 SGB X jedenfalls dann nicht anzuwenden, sondern wird durch die spezifische Regelung von § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II verdrängt.

Quelle: www.rv.hessenrecht.hessen.de

1.4 – LSG BB, Urt. v. 18.10.2023 – L 4 AS 1273/20 – Revision zugelassen

Bürgergeld – Einkommensberücksichtigung und -bereinigung – Leistungen der Ausbildungsförderung – Schulgeld als Absetzbetrag

Das Schulgeld für den Besuch einer kostenpflichtigen privaten Schule oder Bildungseinrichtung ist keine mit der Erzielung von Einkommen verbundene Aufwendung, weil es nicht durch die Einkommenserzielung bedingt ist (Tacheles e. V.).

Bürgergeld:
Keine Berücksichtigung des Schulgeldes als Werbungskosten des Bafög Erhaltenden (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.)

Leitsätze
Das Schulgeld für den Besuch einer kostenpflichtigen privaten Bildungseinrichtung ist keine mit der Erzielung von BAföG-Leistungen verbundene Aufwendung, weil es nicht durch die Einkommenserzielung bedingt ist.

Quelle: www.gesetze.berlin.de

Rechtstipp Tacheles e. V.:
abweichend: LSG Hamburg, Beschluss vom 18. Juni 2019 -L 4 AS 155/19 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. März 2008 – L 28 AS 1276/07

1.5 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.07.2023 – L 9 AS 2972/20

Leitsätze
1. Ein Überprüfungsbescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X wird nicht nach § 96 SGG Gegenstand des den Ausgangsbescheid betreffenden Verfahrens.

2. Laktose- bzw. Fruktoseintoleranz begründen grundsätzlich keinen Mehrbedarf i.S. § 21 Abs. 5 SGB II.

3. Kosten für Gesundheitspflege für medizinisch notwendige, aber nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse abgedeckte Präparate begründen grundsätzlichen keinen unabweisbaren Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II. Der Anspruch auf Existenzsicherung wird auch insoweit in erster Linie durch die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp Tacheles e. V. :
Die Übernahme von Kosten für solche gesundheitsbedingte Mehrbedarfe im Rahmen des § 21 Abs. 6 SGB II kommt von vornherein nur dann in Betracht, wenn vor Beginn und während der betreffenden Behandlungsmaßnahme beziehungsweise Anschaffung diverser Pflegeprodukte ein hinreichender Anlass zu der betreffenden Intervention bestanden hat, also eine Indikation vorgelegen hat, die anhand medizinischer Unterlagen nachvollziehbar festgestellt werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.01.2019 – L 15 AS 262/16; Bayerisches LSG; Beschluss vom 09.03.2017 – L 7 AS 167/17 B ER; LSG Hamburg, Urteil vom 19.03.2015 – L 4 AS 390/10)

Anmerkung vom Verein Tacheles:
Hier war der Kläger völlig falsch vorbereitet. Um eine Klage auf gesundheitsbedingte Mehrbedarfe zu führen, muss man verdammt gut vorbereitet sein!

Es sollten vorliegen:
1. Medizinisches Attest bzw. Gutachten, welche die Krankheit bescheinigt und es muss daraus hervorgehen, dass die benötigten Pflegemittel dringend notwendig sind, um gesundheitl. Beeinträchtigungen zu vermeiden.

2. Es muss genau dokumentiert sein, was man gekauft hat (Quittungen, usw.).

3. Antrag bei der Krankenkasse sollte gestellt werden, Ablehnung kommt prompt. Brauch man aber für das Gericht.

4. Bei Unverträglichkeit mancher Pflegeprodukte (kommt oft vor) sollte das medizinisch untermauert sein.

5. Kostenaufstellung für Nachweis der Hilfebedürftigkeit ist sinnvoll (Anteil für Gesundheitspflege im RS gegenüberstellen (aktuell ca. 21,50 €) den Kosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente. Eine absolute Bagatellgrenze kennt § 21 Abs. 6 SGB II nicht. Es bestehen bei mediz. Notwendigkeit gute Aussichten auf Erfolg!

6. Für einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II ist auf den Einzelfall abzustellen und auf den Bedarf, der in dieser Lebenssituation objektiv unabweisbar ist. Weil mit der Dauer des zusätzlichen Bedarfs die Belastung zunimmt, ist außerdem zu berücksichtigen, ob dieser Bedarf voraussichtlich kurzfristig, mittelfristig oder dauerhaft anfällt.

1.6 – LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 14.12.2023 – L 6 AS 127/23 B ER

Zur Mietschuldenübernahme bei (auch) fristgemäßer Kündigung, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

01.02.2024
Haben Bezieher von Bürgergeld nach dem SGB II Mietschulden, können diese nach § 22 Abs. 8 SGB II vom Jobcenter übernommen werden. Voraussetzung ist, dass die Schuldenübernahme zur Sicherung der Wohnung “gerechtfertigt” ist. Sie müssen übernommen werden, wenn die Schuldenübernahme erforderlich ist, um den Wohnungsverlust abzuwenden. Wohnungsverlust droht spätestens dann, wenn der Vermieter die Wohnung wegen der Mietrückstände gekündigt hat oder schon eine Räumungsklage anhängig gemacht hat.

weiter: www.hempels-sh.de

Volltext hier

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

keine

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 22.11.2023 – L 2 AL 18/21

Anforderungen an den Nachweis der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes – Indizien – freie Beweiswürdigung

Orientierungssatz
1. Der Regelung in § 37 Abs. 2 SGB 10 liegt der Erfahrungssatz zugrunde, dass ein versandter Bescheid auch ankommt. Bei Bestreiten des Zugangs kann dessen Bekanntgabe auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. (Rn.28)

2. Hat der Adressat eines Bescheides auf keine Mahnung oder Vollstreckungsmaßnahme mitgeteilt, dass ihm die Forderung der Behörde unbekannt sei, sondern im Gegenteil Zahlungen auf die Forderung geleistet, so ist von einer Bekanntgabe des angefochtenen Bescheides auszugehen. (Rn.30)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG München, Beschluss v. 08.08.2023 – S 46 SO 266/23 ER

Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung:

1. Bewilligungszeitraum von weniger als sechs Monaten ist möglich (Tacheles e. V.)

2. Dass sich bei einer rechtmäßigen Beschränkung des Bewilligungszeitraum auf drei Monate durchgängige Kontoauszüge ergeben, ist nicht zu beanstanden (Tacheles e. V.)

Leitsätze
Im Rahmen einer einstweiligen Anordnung kann eine Behörde wegen des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache vom Gericht grundsätzlich nicht zum Erlass eines Verwaltungsaktes verpflichtet werden. Der Bewilligungszeitraum für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung kann bei einer entsprechenden sachlichen Begründung auch weniger als sechs Monate betragen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 05.10.2023 – L 4 AY 1/21

Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs des Krankenhauses gegen den Sozialhilfeträger nach § 6a AsylbLG

Orientierungssatz
1. Der Anspruch des Krankenhauses auf Erstattung von Krankenhausbehandlungskosten durch den Sozialhilfeträger nach § 6a AsylbLG setzt u. a. das Vorliegen eines Eilfalls voraus. Dessen Annahme ist bei Dienstbereitschaft des Sozialhilfeträgers zum Zeitpunkt der Patientenannahme ausgeschlossen. Im Übrigen ist der Erstattungsanspruch binnen angemessener Frist geltend zu machen. Sie beträgt einen Monat. (Rn.24)

2. Ein Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen des Krankenhauses aus einem öffentlich-rechtlichen Auftragsverhältnis ist ausgeschlossen. Die Einlieferung des Patienten in das Krankenhaus erfolgt nicht im Interesse des Sozialhilfeträgers. (Rn.25)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – LSG Berlin-Brandenburg: Mietschuldenübernahme bei unangemessen hohen Unterkunftskosten (Urheberrechtsschutz beachten)

Redaktion eGovPraxis Jobcenter
Kann das Jobcenter die Bezahlung von Mietrückständen für eine unangemessen teure Wohnung darlehensweise übernehmen? Welche Voraussetzungen sind dabei zu erfüllen? Damit hatte sich das LSG Berlin-Brandenburg zu beschäftigen.

Fazit
Gerechtfertigt ist die Übernahme der Mietschulden als Darlehen unter anderem nur dann, wenn die Kosten der zu sichernden Unterkunft innerhalb der Angemessenheitsgrenze des § 22 Abs. 1 SGB II liegen.

Die langfristige Sicherung einer nicht kostenangemessenen Unterkunft ist im Regelfall nicht gerechtfertigt.

Die Vermeidung eines Schulwechsels während eines Schuljahres ist nicht ausreichend, um die Übernahme von Mietschulden für eine nicht angemessene Wohnung zu rechtfertigen.

Die Entscheidung, ob die Wohnung erhaltenswert ist, hängt von der Prognose ab, ob die Leistungsberechtigten den vom Jobcenter nicht zu übernehmenden Betrag der Miete decken können und ihr Einkommen dafür auch einsetzen werden.

Quelle: Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 23.08.2023 – L 31 AS 627/23 B ER

Lesetipp v. Tacheles e. V.:
Mietschuldendarlehen auch bei unangemessen teurer Unterkunft im Einzelfall möglich, Beitrag von RA Matthias Göbe, Berlin (Urheberrechtsschutz beachten), erwähnt im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2023

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker