Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 25.01.2021 – Az.: S 27 AY 4030/20 ER

BESCHLUSS

S 27 AY 4030/20 ER

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragstellerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Antragsgegner –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 25. Januar 2021 durch die Richterin xxx beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ungekürzte, privilegierte Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII für die Zeit vom 03.12.2020 bis zur Bescheidung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 20.11.2020, längstes jedoch bis zum 03.06.2021 zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergewöhnlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE

I.

Die Antragstellerin erstrebt im Rahmen der einstweiligen Anordnung die Gewährung von ungekürzten, privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ab dem 03.12.2020.

Die aus der Ukraine stammende Antragstellerin reiste ihren eigenen Angaben zufolge am 28.05.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde von der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen zum 03.08.2015 in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners zugewiesen, der der Antragstellerin Leistungen nach dem AsylbLG bewilligte. Die gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 16.12.2016 gerichtete Klage der Antragstellerin vor dem Verwaltungsgericht Göttingen wurde mit Urteil vom 07.05.2019 (Az. 2 A 583/16) abgewiesen. Seitdem wird der Aufenthalt Antragstellerin geduldet.

Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin mehrmals, letztmalig mit Schreiben vom 27.10.2020 unter Fristsetzung bis zum 10.12.2020 zur Vorlage ihrer Identitätspapiere auf und machte sie auf ihre Mitwirkungspflichten bei Bemühungen zur Passbeschaffung aufmerksam.

Am 20.02.2020 sprach die Antragstellerin gemeinsam mit ihrer Mutter bei der Botschaft der Ukraine zur Ausstellung ihrer Identitätspapiere vor (Bl. 73. d. VA). Ebenso sprach die Antragstellerin bei der Botschaft der Russischen Föderation und bei der Botschaft Armeniens vor (Bl. 65 ff d. VA). Die Ausstellung des Nationalpasses sei allerdings in allen Fällen von der Vorlage einer Geburtsurkunde abhängig.

Der Antragsgegner bewilligte mit Bescheid vom 20.11.2020 der Antragstellerin gekürzte Grundleistungen nach §1a Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 3 AsylbLG für den Zeitraum 01.12.2020 bis zum 31.05.2021 in Höhe von 619,38 € monatlich. Dabei kürzte der Antragsgegner den Gesamtbetrag um je 165,00 €, da aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aus den von der Antragstellerin selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Der Antragsgegner führte aus, die Antragstellerin sei bereits seit dem 26.06.2019 nicht im ausrechenden Maße ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen.

Über den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 03.12.2020 hat der Antragsgegner noch nicht entschieden.

Am 03.12.2020 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei Sozialgericht Hildesheim gestellt. Unter Hinweis auf die bereits erfolgten Maßnahmen zur Beschaffung/ Vorlage der Identitätspapiere, macht die Antragstellerin geltend, eine Bekannte habe in der Ukraine im Sommer 2020 bereits einen Antrag auf Ausstellung einer Geburtsurkunde beim zuständigen Standesamt gestellt. Kontakt zu ihrem leiblichen Vater, der in der Ukraine lebe, habe die Antragstellerin seit Jahren nicht. Eine Kontaktierung der ehemaligen Schulleitung der Antragstellerin sei nicht möglich, da die Schule zerstört worden sei.

Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 03.12.2020 zu gewähren.

Der Antragsgegner beantrag,
den Antrag abzuweisen.

Der Antragsgegner macht geltend, die Antragstellerin gebe bereits ihre Nationalität nicht preis. Es existiere kein Nachweis darüber, dass sich die Antragstellerin bei irgendeiner Stelle ernsthaft um einen Pass oder Passersatzpapiere oder um Papiere, die zur Beschaffung von Pass- oder Passersatzpapiere notwendig sind, bemüht habe.

Die Mutter der Antragstellerin, Frau xxx, hat ebenfalls einen Antrag auf einstweilige Anordnung vor dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen S 42 AY 4029/20 ER gestellt. Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang sowie die Ausländerakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf privilegierte Leistungen gem. § 2 AsylbLG ab Antragstellung bei Gericht.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes errichtet werden soll, voraus, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind der Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Aussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).

1.)

Zur Überzeugung der Kammer hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihr steht somit eine Leistungsbewilligung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII zu.

Die Antragstellerin ist als Inhaberin einer Duldung gem. § 1 Abs. 1 Nummer 4 AsylbLG leistungsberechtigt nach diesem Gesetz und hat die erforderliche Voraufenthaltszeit erfüllt.

Zur Überzeugung der Kammer liegen die Voraussetzungen des Kürzungstatbestandes nach § 1a Abs. 3 AsylbLG nicht vor.

§ 1a Abs. 3 AsylbLG knüpft für Geduldete und Ausreisepflichtige die Leistungsabsenkung an ein selbst zu vertretendes Verhalten, das dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegensteht. Die Gründe der Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen müssen von den Leistungsberechtigten zu vertreten sein. Dem Leistungsberechtigten muss eine konkrete, zumutbare und erfüllbare Mitwirkungshandlung aufgegeben worden sein, die er aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht befolgt; ein Verweis der Behörde auf allgemeine, zuvor ergangene Aufforderungen reicht nicht aus. Damit enthält der Sanktionstatbestand von § 1a Abs. 3 AsylbLG (wie zuvor § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F.) eine subjektive Komponente, ohne deren Feststellung eine Anspruchseinschränkung nicht möglich ist (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG (Stand: 23.11.2020), Rn. 82).

Die Antragstellerin hat zur Überzeugung der Kammer nicht gegen ihre Mitwirkungspflichten nach § 82 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verstoßen. Die Rechtsprechung hat die fehlende Mitwirkung bei der Beschaffung von Pässen oder Ersatzdokumenten für die Heimreise als ausreichend anerkannt, wenn z.B. jegliche Mitwirkung verweigert wurde (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG (Stand: 23.11.2020), Rn. 96). Im Einzelfall ist dabei das jeweilige Heimatland in den Blick zu nehmen und die zumutbaren Mitwirkungshandlungen auszurichten (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG (Stand: 23.11.2020), Rn. 98). Die Antragstellerin ist unstreitig in der Ukraine geboren und besitzt die armenische Volkszugehörigkeit. Es liegt daher nahe, dass sie entweder die ukrainische oder die armenische Staatsangehörigkeit besitzt. Da nicht geklärt ist, welche Staatsangehörigkeit die Mutter der Antragstellerin hat, kann auch nicht festgestellt werden, welche entsprechende Staatsangehörigkeit die Antragstellerin von ihrer Mutter ableiten könnte.

Im Rahmen der einseitigen Anordnung hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, welche konkreten Maßnahmen sie zur Beschaffung ihrer Identitätspapiere unternommen hat. Insbesondere hat sie die Botschaft der Ukraine, der Russischen Föderation und die Botschaft Armeniens aufgesucht (Bl. 65 ff. d. VA). Darüber hinaus hat eine Bekannte der Antragstellerin in der Ukraine bereits im Sommer 2020 die Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde der Antragstellerin beim örtlich zuständigen Standesamt beantragt. Die Antragstellerin hat auch glaubhaft gemacht, dass eine Korrespondenz mit der ehemaligen Schulleitung nicht möglich ist, da die Schule bereits zerstört wurde. Schließlich hat sie durch Vorlage eines Bibliotheksausweises einen Nachweis über ihre Identität erbracht.

Ob eine Vorsprache bei der türkischen, aserbaidschanischen und iranischen Botschaft erforderlich sein wird, kann offenbleiben, da der Anordnungsanspruch bereits aus den o.g. Gründen glaubhaft gemacht worden ist. Eine Verletzung der jeglicher Mitwirkungspflichten nach § 82 Abs. 3 AufenthG vermag die Kammer daher nicht zu erkennen.

Da zur Überzeugung der Kammer der Tatbestand des § 1a Absatz 3 AsylbLG nicht erfüllt ist, liegt auch keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet im Sinne des § 2 Absatz 1 AsylbLG vor, die der Gewährung privilegierter Leistungen entgegenstünde.

2.)

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Eine besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der erstrebten Leistungen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft (§§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), wobei hinsichtlich der Berechnung der Beschwer des Antragsgegners, die sich aus der Differenz zwischen Leistungen nach § 2 AsylbLG und solchen nach § 1a i.V.m. §§ 3, 3a bezogen auf einen Jahreszeitraum ergibt (vgl. Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17. August 2017 – L 8 AY 1/17 B ER -).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.