URTEIL
In dem Rechtsstreit
xxx,
Kläger,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Jobcenter Stadt Kassel,
vertreten durch den Geschäftsführer Christian Nübling,
Lewinskistraße 4, 34127 Kassel
Beklagter,
hat die 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2022 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, sowie die ehren-amtliche Richterin Frau xxx und den ehrenamtlichen Richter Herr xxx für Recht erkannt:
Der Bescheid des Beklagten vom 18.12.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2.2.2021 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1.11.2020 bis 31.3.2021 Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlich entstehenden Aufwendungen zu gewähren.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
TATBESTAND
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von höheren Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen der an den Kläger gewährten Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 1.11.2020 bis 31.3.2021.
Der aus Eritrea stammende, 1998 geborene Kläger, kam 2015 nach Deutschland. Er wohnte seit 1.4.2017 in Kassel in der xxx in einer eigenen Wohnung. Die Wohnkosten wurden zunächst im Rahmen der Jugendhilfe von der Stadt Kassel übernommen. Am 1.9.2018 begann der Kläger eine Berufsausbildung zum xxx. Diese Ausbildung schloss er zwischenzeitlich ab und ist seit Februar 2022 bei dem Ausbildungsbetrieb sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Für die Zeit ab 1.10.2018 bezog der Kläger SGB II-Leistungen vom Beklagten. Unter dem 10.10.2018 hörte der Beklagte den Kläger zu unangemessenen KdU an und wies darauf hin, dass lediglich eine Bruttokaltmiete i.H.v. 393 € angemessen sei. Bis einschließlich März 2019 wurden ihm noch die tatsächlichen KdU gewährt. Ab 1.4.2019 erhielt der Kläger KdU-Leistungen, die auf die Angemessenheitsgrenze von 393 € bruttokalt begrenzt waren.
Mit Schreiben vom 11.3.2020 teilte die Hausverwaltung dem Kläger mit, dass das Objekt xxx verkauft werde. Mit weiterem Schreiben vom 28.5.2020 informierte die Hausverwaltung weiter, dass die neuen Eigentümer selbst in die Wohnungen xxx ziehen wollten. Gleichzeitig bot ihm die Hausverwaltung eine gleichwertige Wohnung in der xxx bzw. xxx an.
Zum 1.7.2020 zog der Kläger mit einer weiteren Person in die Wohnung xxx ein. Für die 45,82 m² große Wohnung war ausweislich der Mietbescheinigung vom 18.8.2020 eine Grundmiete von 310 € sowie Betriebskostenvorauszahlung i.H.v. 105 € zuzüglich gesonderter Wasser-/Abwasserkosten zu zahlen. Unter Berücksichtigung, dass der Kläger dort zu zweit wohnte, gewährte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 21.8.2020 für die Zeit vom 1.10.2020 bis 31.3.2021 – sowie auch mit nachfolgenden Änderungsbescheiden – vorläufig SGB II-Leistungen und berücksichtigte hierbei die Höhe der Hälfte der tatsächlichen KdU (= 207 €) sowie anteilige Heizkostenvorauszahlungen in Höhe von 29,50 €.
Am 12.10.2020 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass er eine neue Wohnung gefunden habe und übermittelte die Daten einer Wohnung in der xxx. Daraufhin fragte der Beklagte nach, warum er erneut umziehen wolle (Schreiben vom 13.10.2020). Unter dem 22.10. 2020 teilte der Kläger mit, dass ein Umzug nötig gewesen sei, weil seine alte Wohnung an einen neuen Eigentümer verkauft worden sei. Er gab weiter an, dass seine aktuelle Wohnung in Form einer Wohngemeinschaft geführt werde, die ihm aufgrund diverser Differenzen und Einschränkungen nicht zusage. Auf die Aufforderung des Beklagten, die Differenzen näher zu beschreiben, erfolgte keine Antwort des Klägers. Erst im Dezember 2020 teilte der Kläger mit, dass er zum 1.11.2020 in die xxx in 34125 Kassel umgezogen sei. Ausweislich des Mietvertrages über diese 54,93 qm große von ihm allein bewohnte Wohnung beträgt die Grundmiete 329 € zuzüglich Betriebskosten-, Wasservorauszahlung und Kabelanschlussgebühren, insgesamt ergibt sich eine Bruttokaltmiete von 443 €.
Mit hier angefochtenem Bescheid vom 18.12.2020 entschied der Beklagte, dass die Kosten für die ab 1.11.2020 bezogene Wohnung nicht in Höhe der tatsächlich anfallenden KdU berücksichtigt würden. Die KdU würden nur in bisheriger Höhe von 237 € monatlich anerkannt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger vor Abschluss des neuen Mietvertrages keine Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II eingeholt habe. Eine solche Zustimmung wäre allerdings auch nicht erteilt worden, denn es habe zum Abschluss des Mietvertrages keine Notwendigkeit bestanden.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung gab er an, in die xxx nur übergangsweise – zusammen mit seinem Nachbarn – gezogen zu sein bis er eine eigene Wohnung (dann: xxx) gefunden habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 2.2.2021 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Er begründete dies damit, dass die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung bei einem nicht erforderlichen Umzug gemäß § 22 Abs.1 S. 2 SGB II nur in Höhe des bisherigen Bedarfs anerkannt werden könnten. Der Umzug in die xxx sei nicht erforderlich gewesen. Der Vortrag des Klägers, der Grund für den Umzug sei Eigenbedarf des neuen Eigentümers, könne nicht berücksichtigt werden, denn dieser Grund habe sich auf die Wohnung in der xxx bezogen. Für den Nachweis des Vortrags, das Wohnen in der xxx sei nur übergangsweise geplant gewesen, bis er eine eigene Wohnung gefunden habe, fehle ein Beleg. Auch sei nicht belegt, dass ihm das weitere Zusammenwohnen mit dem Mitbewohner unzumutbar gewesen sei.
Hiergegen hat der Kläger am 13.2.2021 beim Sozialgericht Kassel Klage erhoben. Er meint, der Beklagte habe die Gründe für den Umzug in die xxx nicht aus-reichend gewürdigt. Ferner ist er der Auffassung, dass unter Beachtung von § 67 Abs. 3 S. 1 SGB II die Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe vom Beklagten ohnehin übernommen werden müssten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 18.12.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2.2.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1.11.2020 bis 31.3.2021 Kosten der Unterkunft und Heizkosten in tatsächlich entstehender Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die angefochtenen Bescheide. Eine Erforderlichkeit des Umzuges in die xxx sei weiterhin nicht nachgewiesen. Die Regelung des § 67 Abs. 3 S. 1 SGB II finde in dieser Konstellation keine Anwendung.
Das Gericht hat im Termin der mündlichen Verhandlung am 12.5.2022 den Kläger zu den Gründen seines Umzugs in der xxx angehört. Hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die elektronisch beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGG zulässig.
II. Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 18.12.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2.2.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat für die Zeit vom 1.11.2020 bis 31.3.2021 Anspruch auf Gewährung von SGB II-Leistungen unter Beachtung der ihm tatsächlich entstehenden Kosten für Unterkunft und Heizung.
1. Gemäß § 22 Abs. 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. § 67 Abs. 3 SGB II modifiziert diese Regelung und ordnet für in der Zeit vom 1.3.2020 bis 31.3.2022 beginnende Bewilligungszeiträume an, dass § 22 Abs. 1 SGB II mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von 6 Monaten als angemessen gelten.
Vorliegend ist der Kläger zum 1.11.2020 in die xxx umgezogen. Für diese Wohnung muss eine Bruttokaltmiete i.H.v. 443 € monatlich gezahlt werden. Dieser Wert der Bruttokaltmiete liegt über dem Grenzwert von 416,50 €, den das von dem Beklagten angewandte KdU-Konzept der Firma Rödl und Partner mit Geltung ab 1.9.2019 für einen Einpersonenhaushalt in der Stadt Kassel als angemessene Bruttokaltmiete vorsieht. Ginge man nun von der Schlüssigkeit des KdU-Konzeptes aus, ist damit zu konstatieren, dass der Kläger in eine Wohnung gezogen ist, deren Bruttokaltmiete nicht der Angemessenheit im Sinne von § 22 Abs. 1 SGB II entspricht. Zur Überzeugung der Kammer findet jedoch § 67 Abs. 3 SGB II Anwendung, aufgrund dessen Fiktionswirkung bezogen auf die Angemessenheit der KdU und Heizkosten deren Angemessenheit für die Dauer von sechs Monaten anzunehmen ist.
Hierbei geht die Kammer von einem weiten Anwendungsbereich des § 67 Abs. 3 SGB II aus und sieht davon auch Neuanmietungen umfasst. Eine dahingehende Einschränkung, dass die 6-monatige Angemessenheitsfiktion nur für Bestandswohnungen gilt, ist dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass vorliegend nicht im Raum steht, dass tatsächlich unangemessene Kosten auf unabsehbare Zeit vom Job-center zu übernehmen sind, sondern es wird den Leistungsberechtigten im Ergebnis eine weitere 6-monatige Übergangsfrist gewährt, die zu der regelhaften Sechsmonatsfrist nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II hinzutritt (§ 67 Abs.3 S. 2 SGB II). Von einer Anwendung dieser Norm im Falle eines Umzuges geht offenbar auch das HLSG aus (Beschluss vom 21.2.2022 – L 6 AS 585/21 B ER – 2. Leitsatz, juris; so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.9.2020 – L 11 AS 508/20 B ER -; a.A.: Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 23.3.2022 – L 6 AS 28/22 B ER – Rn 20, juris).
§ 67 Abs. 3 SGB II formuliert nur in seinem S. 3 eine Ausnahme von der Angemessenheitsfiktion. Danach gilt S. 1 nicht in den Fällen, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden. Dieser Ausnahmefall ist hier nicht einschlägig, denn dem Kläger wurden während seiner Wohnzeit in der xx zwar nur anteilig – weil die Wohnung von zwei Personen bewohnt wurde – aber basierend auf den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung SGB II Leistungen gewährt. Abgesenkte KdU wurden dem Kläger nur für die vorherige Wohnung in der xxx gewährt, was jedoch hier keine Berücksichtigung mehr finden kann.
Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die Kosten für Unterkunft und Heizung für die xxx auch nicht auf die Werte zu reduzieren, die dem Kläger für die vorherige Wohnung xxx als bisheriger Bedarf zuerkannt wurden. § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II normiert zwar, dass, wenn sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erhöhen, nur der bisherige Bedarf anerkannt wird. Allerdings liegen bereits dessen tatbestandliche Voraussetzungen nicht vor, denn zur Überzeugung der Kammer war der Umzug des Klägers von der xxx in die xxx „erforderlich“ im Sinne dieser Regelung. Der Maßstab zur Prüfung der Erforderlichkeit zum Umzug verlangt nicht, dass ein solcher zwingend notwendig gewesen ist, sondern es genügt vielmehr ein plausibler und sachlich nachvollziehbarer Grund (s. dazu Berlit in: LPK-SGB II, 7. Aufl. 2021, § 22 Rn 122 ff mit zahlreichen Beispielen). Vergleichsmaßstab ist, ob ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliegt, von dem sich auch ein Nichtleistungsberechtigter hätte leiten lassen und der auf andere Weise nicht beseitigt werden kann (a.a.O).
Einen solch plausiblen Grund sieht die Kammer für den Umzug des Klägers in die xxx als gegeben an. Hierbei stützt sich die Kammer in erster Linie auf die persönliche Anhörung des Klägers im Termin der mündlichen Verhandlung. Der Kläger ließ sich zunächst durch das Schreiben der Hausverwaltung, dass der Eigentümer gewechselt habe und der Eigentümer das Haus selbst nutzen wolle, zu einem Umzug motivieren, obwohl er dies rechtlich zu diesem Zeitpunkt nicht hätte tun müssen. Ein Verkauf des Hauses tangiert das bestehende Mietverhältnis grundsätzlich nicht und eine Kündigung der Wohnung wegen Eigenbedarfs war nicht erfolgt. Allerdings sah sich der Kläger aufgrund der Sachlage gezwungen und veranlasst, eine neue Wohnung zu suchen. Er gab dazu an, dass er nicht sofort eine andere Wohnung gefunden habe und deshalb zunächst mit seinem Nachbarn, einem Landsmann von ihm, in eine von der damaligen Hausverwaltung angebotene Wohnung gezogen sei. Auch die anderen drei Mietparteien seien aus dem Haus xxx ausgezogen, eine sei in die xxx, eine in eine andere Wohnung in die xxx und er mit seinem Nachbarn eben in die andere noch verfügbare Wohnung xxx gezogen. Da nach Angaben des Klägers in dieser Wohnung neben dem Nachbarn auch noch dessen Freundin und ein Kind wohnten, ist es für die Kammer nachvollziehbar, dass diese Wohnform für den Kläger nur eine Übergangslösung darstellte. Dazu hat er ergänzend ausgeführt, dass er sich in diesem Zeitraum auch auf seine Zwischenprüfung habe vorbereiten müssen. Berücksichtigt man die Größe der Wohnung mit knapp 46 qm, so ist es für die Kammer durchaus plausibel, dass der Kläger bestrebt war, eine eigene Wohnung zu finden, was ihm letztendlich auch gelungen ist.
Da mithin ein erforderlicher Umzug des Klägers in die xxx vorlag, war der Beklagte nicht befugt, dem Kläger für die neue Wohnung nur Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe der für die bisherige Wohnung in geringerer Höhe gezahlten Leistungen zu gewähren.
Ob § 67 Abs. 3 SGB II auch die Anwendung von § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II ausschließt kann vorliegend dahinstehen, da die Voraussetzung des § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht nachgewiesen sind.
Der Beklagte war mithin zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1.11.2020 bis 31.3.2021 die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.