1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)
1.1 – BSG, Urt. v. 23.02.2023 – B 8 SO 9/21 R
Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – Schenkungsrückforderung – Hausgrundstück – Wohnungsrecht – Löschung – Ermessen
Ist Voraussetzung für eine Überleitungsanzeige nach § 93 SGB XII die monatliche Bezifferung der Sozialhilfe?
Zu den Voraussetzungen der Überleitung eines Schenkungsrückforderungsanspruchs bezüglich eines Wohnrechts
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die angegriffenen Überleitungsanzeigen wurden vom BSG aufgehoben, weil der Sozialhilfeträger bei ihrem Erlass das ihm zustehende Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat.
2. Bei der Überleitung eines Schenkungsrückforderungsanspruchs im engen familiären Umfeld, mit dem eine häufig aus ideellen Motiven getroffene unentgeltliche Zuwendung rückgängig gemacht wird und die typischerweise in die familiären Verhältnisse eingreift, gehört es nicht zuletzt im Hinblick auf das Gebot familiengerechter Leistungen (§ 16 SGB XII) aber zur umfassenden Sachverhaltsermittlung, die Schenker (hier die Eltern des Klägers) anzuhören. Vorliegend ist dies nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts nicht geschehen.
Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Hinweis:
Rückforderung einer Schenkung durch Verwaltung nur nach Anhörung
weiter: rsw.beck.de
1.2 – BSG, Urt. v. 23.02.2023 – B 8 SO 8/21 R
Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – Kostenerstattung – letzter gewöhnlicher Aufenthalt – Ausland – örtliche Zuständigkeit
Bleibt die örtliche Zuständigkeit eines Sozialhilfeträgers für stationäre Leistungen nach § 98 Abs 2 S 1 SGB 12 auch dann bestehen, wenn der Leistungsberechtigte unmittelbar vor Aufnahme in die Einrichtung einen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland begründet hat?
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Das BSG hat die Auffassung des LSG Bestätigt, wonach gilt:
Leitsatz
Wird eine leistungsberechtigte Person, die sich zuletzt im Ausland aufgehalten hat, in einer stationären Einrichtung aufgenommen, hat der vorläufig leistende Sozialhilfeträger gegen den deutschen Sozialhilfeträger, in dessen Bereich die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat, auch dann einen Erstattungsanspruch, wenn die leistungsberechtigte Person zwischenzeitlich im Ausland einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben sollte.
Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
2.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 04.04.2023 – L 4 AS 146/22 D
Voraussetzungen einer Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung wegen fehlender Mitwirkung des Grundsicherungsberechtigten zur Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit
Orientierungssatz
1. Die Vorschrift des § 5 Abs. 3 SGB 2 regelt die Voraussetzungen einer Sanktion des Grundsicherungsträgers wegen nicht ausreichender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zur Beseitigung bzw. Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit abschließend und vorrangig. (Rn.33)
2. Die Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs des Grundsicherungsträgers nach § 34 SGB II sind nicht erfüllt, wenn es an der Sozialwidrigkeit des Verhaltens des Grundsicherungsberechtigten fehlt. Entscheidend ist, ob das Tun oder Unterlassen aus Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligen ist. Hierzu zählt nicht die fehlende Mitwirkung an der Geltendmachung eines Kindergeldanspruchs durch den Grundsicherungsberechtigten. Für die Frage der Sozialwidrigkeit ist nicht die Perspektive des Leistungsträgers entscheidend, sondern diejenige der Solidargemeinschaft. (Rn.34)
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
2.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 17.02.2023 – L 5 AS 162/21
Grundsicherung für Arbeitsuchende – abschließende Entscheidung nach vorläufiger Leistungsbewilligung – Pflicht zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen – Rechtsfolgenbelehrung – Umfang der Nachweis- und Auskunftspflicht – Bedarfsgemeinschaft – Einnahmen eines Ehegatten aus selbstständiger Tätigkeit – Trennung der Eheleute – fehlende Mitwirkung – Nullfestsetzung
Orientierungssatz
1. Zu den Anforderungen an eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen iS des § 41a Abs 3 S 3 SGB 2.(Rn.57)
2. Zur Frage nach dem Umfang der Nachweis- und Auskunftspflicht der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft im Rahmen der abschließenden nach vorläufiger Entscheidung, wenn im Bewilligungszeitraum nur ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Einkommen erzielt hat, die Bedarfsgemeinschaft jedoch im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung nicht mehr besteht (hier: Trennung der Eheleute) und vorgetragen wird, dass eine Erfüllung der Mitwirkungspflicht unmöglich sei, weil kein Zugriff auf die Unterlagen des ehemaligen Bedarfsgemeinschaftsmitglieds bestehe.(Rn.68)
Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
2.3 – LSG Hamburg, Urt. v. 06.07.2023 – L 4 AS 168/22 D
Zur Aufhebung und Rückerstattung von ALG II wegen nicht genehmigter Ortsabwesenheit, hier bejahend (Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.)
Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Allein aus dem Umstand, dass Jemand über lange Zeiträume arbeitsunfähig war, ergibt sich nicht, dass man von ihm keine Eingliederungsbemühungen erwarten durfte und somit keine Zustimmung zur Ortsabwesenheit erforderlich war.
Hinweis:
Die Klägerin gehört auch nicht zu dem Personenkreis, für den in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass er trotz des Wortlauts keine vorherige Zustimmung benötigt. Das sind solche Personen, von denen keine Eingliederungsbemühungen erwartet werden:
Alle Sozialgeldempfänger (d.h. nicht erwerbsfähige Personen), ebenso diejenigen Alg II Empfänger, die nur aufgrund der Bedarfsanteilsmethode Alg II erhalten (LSG Berlin-Brandenburg, 22.4.2021 – L 32 AS 588/16; BSG, Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 8/06 R), und Personen, die sich auf die Unzumutbarkeit einer Eingliederung in Arbeit berufen können (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 SGB II). Zu Letzteren gehören u.a. Schüler und Auszubildende, die der allgemeinen Schul- bzw. Berufsschulpflicht unterliegen und denen deshalb eine Eingliederung in Arbeit unzumutbar ist (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II) oder auch alleinerziehende Eltern von Kleinkindern unter 3 Jahren (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.8.2013 – L 34 AS 1030/11).
Dem Leistungsausschluss steht nicht entgegen, dass die Ortsabwesenheiten der Klägerin überwiegend mit denen die drei Wochen im Kalenderjahr, die § 7 Abs. 4 Satz 5 SGB II als genehmigungsfähig ansieht, deutlich überschritten wurden – durchaus genehmigungsfähig waren. Die Genehmigungsfähigkeit ist nach dem Wortlaut des Gesetzes ohne Bedeutung, der Leistungsanspruch entfällt in jedem Fall, wenn eine Genehmigung nicht eingeholt wurde, unabhängig davon, ob sie auf einen entsprechenden Antrag hin erteilt worden wäre oder nicht. Soweit in der Rechtsprechung Ausnahmen hiervon anerkannt worden sind, sind diese nur strengen Voraussetzungen angenommen worden, etwa wenn wegen Unaufschiebbarkeit der Ortsabwesenheit die Bescheidung eines kurzfristig gestellten Genehmigungsantrags nicht abgewartet werden kann (so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9.4.2021 – L 12 AS 1677/19).
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
Rechtstipp:
SG Berlin, Urteil vom 02.05.2022 – S 206 AS 3931/17 – Entbehrlichkeit der Zustimmung des Jobcenters zu einer Ortsabwesenheit – Tacheles Rechtsprechungsticker KW 24/2022
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
3.1 – Sozialgericht Magdeburg, Beschluss vom 04.07.2023 – S 24 AS 404/23 ER
Leitsatz RA Michael Loewy
Freiwillige Zuwendungen in Form von Sachleistungen eines nicht zum Unterhalt verpflichteten Dritten können nicht als Zuwendungen zur Bedarfsdeckung berücksichtigt werden. Eine freiwillige Leistung eines Dritten, der aus freundschaftlicher Verbundenheit oder aus altruistischen Gründen jemand in einer Notlage hilft, kann die Leistungsverpflichtung des Leistungsträgers nicht ersetzen und dem Leistungsempfänger im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht entgegengehalten werden.
Quelle: RA Michael Loewy
3.2 – Sozialgericht Kassel – Urteil vom 07.08.2023 – Az.: S 11 AS 155/22
Normen: § 63 SGB X, § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II – Schlagworte: Kosten des Vorverfahrens, Kosten der Unterkunft, Sozialgericht Kassel
weiter bei RA Sven Adam
4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)
4.1 – SG Magdeburg, Urt. v. 14.08.2023 – S 20 AL 166/20
Arbeitslosengeldanspruch für Studierende
Leitsatz
Für die Frage der Widerlegung der Vermutung des § 139 Abs. 2 S. 1 SGB III kommt es auf den gesamten Ausbildungsgang und dessen grundsätzliche Gegebenheiten an, nicht jedoch auf einzelne Zeitabschnitte und individuelle Besonderheiten der einzelnen Person, wie etwa besondere Begabung oder besonderes Organisationstalent.
Die Förderungsfähigkeit eines Studienganges nach dem BAföG widerspricht wegen § 2 Abs. 5 BAföG der Annahme der Verfügbarkeit iSd § 138 SGB III.
Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
5.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.04.2022 – L 2 SO 3659/20
Leitsätze
Zu den konkreten Voraussetzungen, wann ein Wohnrecht keinen wirtschaftlichen Wert mehr hat, der im Rahmen einer Bedürftigkeitsprüfung bei Hilfe zur Pflege noch zu berücksichtigen wäre.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
5.2 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.6.2023 – L 2 SO 142/23
Leitsätze
Zur Berücksichtigung des Wertes eines Nießbrauchs (Wohnrechts) bei Veräußerung der Immobilie, an der der Nießbrauch bestand (zur Frage des wirtschaftlichen Wertes vergleiche auch Senatsurteil vom 13. April 2022 – L 2 SO 3659/20 -)
Quelle: lrbw.juris.de
6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
6.1 – Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 09.08.2023 – Az.: S 9 AY 8/22
Normen: § 193 SGG – Schlagworte: Kostenlast nach Untätigkeitsklage, Mahnung nicht erforderlich, Sozialgericht Marburg
Quelle: RA Sven Adam
6.2 – Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 14.08.2023 – Az.: S 25 AY 47/23 ER
Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Magdeburg
Auch bei Grundleistungen (§ 3a AsylbLG) ist für Alleinstehende Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren (Tacheles e. V.)
Quelle: RA Sven Adam
7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
7.1 – BGH: Vermieterhaftung bei Unterbringung des Mieters in einer öffentlichen Notunterkunft
weiter: www.wolterskluwer.com
7.2 – „Mobilität für Alle“!? – Anmerkung zum Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20. Mai 2022, Az. L 15 SO 294/18
Dr. Martin Theben bespricht in diesem Beitrag ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg, in dem um Erstattung der Kosten für die Beschaffung eines Kraftfahrzeuges nach § 83 SGB IX gestritten wurde. Auf die Vorstellung des Sachverhalts und der LSG -Entscheidung folgt die Würdigung durch den Autor, bei der er auf eine Berliner Besonderheit, den“ Telebus“, eingeht.
Er kritisiert, dass der Kläger auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und den Telebus verwiesen wurde, ohne deren tatsächliche Hürden bei der Erreichung der Teilhabeziele zu berücksichtigen (z. B. mangelnde Sensibilität und Fachkunde der Fahrer, erhebliche Verspätungen, überfüllter ÖPNV, Defekte oder nicht vorhandene Fahrstühle).
Beitrag von Dr. Martin Theben, Rechtsanwalt
weiter: www.reha-recht.de
Hinweis:
Veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 29/2022
7.3 – Kosten der Unterkunft – individuelle Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt – ein Beitrag von RA Niklas Sander
In diesem Artikel behandeln wir ein wegweisendes Urteil des Bundessozialgerichts vom Oktober 2022 (BSG vom 06.10.2022, Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R) und dessen Auswirkungen auf Empfänger von Leistungen gemäß dem SGB II / SGB XII im Zusammenhang mit den Unterkunftskosten und individuellen Zugangshemmnissen zum Wohnungsmarkt.
Die Entscheidung des BSG lautet wie folgt:
Der Zugang zum Wohnungsmarkt gestaltet sich für Personen mit geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen grundsätzlich schwieriger. Vermieter können Vorbehalte gegenüber dieser Gruppe haben (vgl. Günther/Abraham, „Wohnsituation von Menschen mit Behinderung“, 2020, S. 33 ff). Erkennbare Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten können daher die Chancen auf angemessenen Wohnraum mindern (vgl. BeckOGK/Lauterbach, Stand Dezember 2021, SGB II, § 22 RdNr 64).
Wenn diese Beeinträchtigungen zu einer erheblichen Einschränkung oder Verschlossenheit des Wohnungsmarkts führen, ist in der Regel eine individuelle Unterstützung durch den Leistungsträger notwendig, um eine Wohnung zu finden (Krauß in Hauck/Noftz SGB II, § 22 RdNr 176, Stand Januar 2021).
Wenn der Leistungsträger dieser Verpflichtung nicht nachkommt, ist grundsätzlich von der konkreten Angemessenheit der Wohnung auszugehen. Die Betroffenen müssen dann keine konkreten Suchaktivitäten nachweisen.
Somit hat das BSG erstmals festgestellt, dass es Personengruppen gibt, die aufgrund unkontrollierbarer Besonderheiten bei der Wohnungssuche von vornherein benachteiligt sind. In solchen Fällen muss der Leistungsträger aktiv bei der Wohnungssuche unterstützen und solange die tatsächlichen Mietkosten übernehmen. Daher wird der Leistungsträger in diesen Fällen nunmehr in die Verantwortung genommen und muss den Betroffen helfen, anstatt sie, wie bisher leider üblich, mit dem Problem allein zu lassen.
weiter: www.anwalt.de
Lesenswert dazu:
Sozialleistungsträger kann zu individueller Hilfestellung bei Suche nach neuer Wohnung verpflichtet sein
weiter: ksl-arnsberg.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker