Tacheles Rechtsprechungsticker KW 43/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urt. v. 21.06.2023 – B 7 AS 3/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers – Einrede der Beschränkung der Minderjährigenhaftung – Einkommen – Vermögen – Kontoguthaben – Pfändungsschutz

Zur Frage, ob sich ein Kontoguthaben, das auf der Überweisung unpfändbarer Leistungen beruht, auf die Haftungsbeschränkung für Minderjährige nach § 1629a BGB auswirkt?

BSG: Zum Umfang der Haftungsbeschränkung Minderjähriger: Kein Pfändungsfreibetrag auf Kontoguthaben bei Minderjährigenhaftung

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die Einrede der beschränkten Minderjährigenhaftung gilt auch für Erstattungsforderungen des Jobcenters (jetzt Bürgergeld).

2. Vermögen im Rahmen des § 1629a BGB ist das Aktivvermögen der volljährig gewordenen Person im Zeitpunkt des Erreichens der Volljährigkeit. Auf ein Nettovermögen als Differenz von Aktiva und Passiva kommt es nicht an.

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Lesenswert 1:
BSG zur Beschränkung der Minderjährigenhaftung

Redaktion eGovPraxis Jobcenter
Greift die Beschränkung der Minderjährigenhaftung nur bei Überschuldung der betroffenen Person? Ist dabei eine Differenzierung zwischen Einkommen und Vermögen durchzuführen?

Fazit
Zum beim Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögen zählt auch ein auf Zahlung von Insolvenzgeld beruhendes Kontoguthaben.

Bei einer Beschränkung der Haftung auf das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen ist grundsätzlich nur eine Saldierung von Schuld und Vermögen entscheidend.

Unerheblich ist dabei, ob es sich um nicht pfändbare Zuflüsse handelt.

weiter: www.wolterskluwer.com

Lesenswert 2:
Bürgergeld: Erleichterungen bei der Haftungsbefreiung Minderjähriger – ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt, Kiel

weiter: sozialberatung-kiel.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 01.02.2023 – L 2 AS 646/19

Leitsätze
1. Ist ein Widerspruch nicht formgerecht, sondern nur per einfacher E-Mail erhoben worden und ist darüber durch einen Widerspruchsbescheid in der Sache entschieden worden, ist jedenfalls der Zweck eines Vorverfahrens bereits erreicht. Eine Aussetzung des Klageverfahrens ist dann, auch wenn die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist, nicht mehr erforderlich.

2. Der Zugewinnausgleichsanspruch stellt Einkommen iSv § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II dar. Hieran ändert eine frühere notarielle Abwicklungsvereinbarung nichts, soweit sie nicht bereits zu einer Vermögensverschiebung geführt hat.

3. Von einem Zugewinnausgleichsanspruch kann ein Gewerkschaftsbeitrag nicht als eine mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe abgezogen werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.06.2023 – L 4 AS 471/22

Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Eingliederungsvereinbarung bzw eines diese ersetzenden Verwaltungsaktes

Leitsätze
1. An die eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Regelungen in einem Eingliederungsverwaltungsakt gemäß § 15 Abs 3 Satz 3 SGB II sind dieselben Maßstäbe anzulegen, wie sie für eine konsensuale Eingliederungsvereinbarung gelten (BSG, Urt v 23. Juni 2016, B 14 AS 42/15 R, juris RN 32).

2. Nach Maßgabe des seit 1. August 2016 geltenden § 15 Abs 3 SGB II ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Geltungszeitraum in Anpassung an die jeweilige Eingliederungssituation und Integrationsstrategie oder Lebenslage durch den Leistungsträger flexibel geregelt wird. Daher kann in einem eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt auch dessen Geltung “bis auf Weiteres” und damit ein unbefristeter Geltungszeitraum bestimmt werden (BSG, Urt v 21. März 2019, B 14 AS 28/18 R, juris RN 22).

3. Wird ein Geltungszeitraum “bis auf Weiteres” bestimmt, muss dies von hinreichenden Ermessenserwägungen getragen sein, die in dem die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Bescheid niederzulegen sind. Enthält der angegriffene Bescheid keine Ermessenserwägungen des Leistungsträgers und ist zudem nicht erkennbar, dass dieser überhaupt erkannt hat, dass er bei der Bestimmung von Geltungsdauer und Fortschreibungsbedingungen Ermessen auszuüben hatte, ist der ersetzende Verwaltungsakt rechtswidrig.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 26.06.2023 – L 7 AS 3328/21

Leitsätze
Stellt die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit fest, kann eine Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit als Voraussetzung für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht mehr bestätigt werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
BSG Urteil v. 09.03.2022 – B 7/14 AS 79/20 R – Einer ausdrücklichen Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit durch die Agentur für Arbeit bedarf es nicht beim Bezug von Arbeitslosengeld nach dem SGB III, wenn der Eintritt einer Sperrzeit nicht festgestellt wird.

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – LSG NRW, Urt. v. 25.01.2023 – L 12 SO 231/22 – Revision anhängig BSG – B 8 SO 5/23 R

Kein Bestehen eines Auskunftsanspruchs nach § 117 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB XII, wenn der Bescheid der Behörde rechtswidrig ist (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.).

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Der Bescheid ist materiell rechtswidrig, weil die Beklagte die Grenzen des zulässigen Auskunftsverlangens nach § 117 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB XII i.V.m. § 94 Abs. 1a SGB XII überschritten hat, indem sie u.a. Fragen zu den Vermögensverhältnissen des Klägers und den Einkünften etwaiger Haushaltsangehöriger sowie unterhaltsberechtigter Kinder gestellt und entsprechende Unterlagen angefordert hat.

2. Das fehlerhafte (weil nicht erforderlich erfragende) Auskunftsverlangen des Sozialhilfeträgers bewirkt die Rechtswidrigkeit des gesamten Auskunftsverwaltungsaktes.

3. Nach dem mittlerweile in der Rechtsprechung etablierten Grundsatz zum grundsätzlichen Verbot einer geltungserhaltenden Reduktion von Auskunftsverwaltungsakten sind die Gerichte daher nicht befugt, solche Bescheide im Sinne eines vermeintlichen „Minus“ nur teilweise aufzuheben (BSG Urteil vom 24.02.2011, B 14 AS 87/09 R).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

4.1 – Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 06.10.2023 – Az.: S 11 AY 2870/23 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Stuttgart

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 für den Antragsteller.

weiter bei RA Sven Adam

4.2 – Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 26.09.2023 – Az.: S 9 AY 9/22

Normen: § 88 SGG, § 193 SGG Schlagworte: Kostenlast nach Untätigkeitsklage, verzögerte Weiterleitung durch Ausgangsbehörde, Sozialgericht Marburg

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Es ist Sache der Behörde, eine Bescheidung in der gesetzlichen Frist sicherzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.02.2023, Az. 1 BvR 311/22).

weiter bei RA Sven Adam

5. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Hilfe zur Pflege – hier: Bedarfsprüfung – ein Beitrag von Prof. Dr. Hermann Plagemann zu: LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 20.04.2023 – L 8 SO 27/21

Zahlungen von Eltern für notwendige Kosten der stationären Pflege sind als Unterhalt zu werten und decken den Bedarf an Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff. SGB XII unabhängig davon, ob die Eltern im Nachhinein gem. §§ 93 ff. SGB XII hätten in Anspruch genommen werden können – so das LSG Sachsen-Anhalt.

weiter: rsw.beck.de

Hinweis:
Urteil erwähnt im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 37/2023

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker